heldinnen

Warum wir Geschichten brauchen

Betrüg mich!

In seiner monatlichen Kolumne untersucht der Theaterregisseur und Drehbuchautor Felix Benesch die Wechselwirkung zwischen Erzählung, Narrativ und Wirklichkeit. Heute geht es um Hochstapler:innen. Mit Erzähltalent und Empathie beschlagen, erfüllen sie unsere geheimsten Wünsche. Fast wie das Christkind!

Von Felix Benesch

Leipzig, 01.12.2022

6 min

Frage in die Runde, Hand aufs Herz: Wer ist schon mal auf einen Hochstapler oder eine Hochstaplerin reingefallen? Keine falsche Scham, es kommt in den besten Familien vor. Noch nie? Ehrlich? Dann haben Sie Glück gehabt. Aber seien Sie sich nicht zu sicher. Es kann jederzeit passieren. Es kann sogar sein, dass Sie sich jetzt, in diesem Augenblick, im Erzählkosmos eines Hochstaplers verfangen haben und nichts davon ahnen.

Ich weiss, wovon ich rede. Mir ist es passiert. Während rund zwei Jahren gab es in meinem engsten Freundeskreis einen Hochstapler. Ich habe nichts davon bemerkt, im Gegenteil, ich habe seine Geschichten munter weitererzählt und war damit wahrscheinlich sein wichtigster Komplize. Unfreiwillig. Logisch.

Dabei hätte ich es merken müssen. Ich schrieb zu jener Zeit ausgerechnet an einer Hochstapler-Story, am Drehbuch zum Kinofilm «Der Fürsorger» (CH-Release 2009). Ich habe mich also vertieft mit den Tricks von Hochstaplern und den Mechanismen von Hochstapelei beschäftigt. Dennoch war ich vollkommen ahnungslos. Es brauchte jemanden von aussen, um mir die Augen zu öffnen. Es war ein irritierendes, in mancherlei Hinsicht sogar traumatisierendes Erlebnis.

Seither faszinieren mich Hochstapler-Geschichten erst recht. Es gibt immer wieder neue. Ich lese / höre / schaue sie alle. Sie laufen fast immer nach dem gleichen Muster ab. Trotz der technischen Möglichkeiten, mit denen wir heute theoretisch jede Hochstapelei mit ein paar Klicks entlarven könnten, funktionieren sie nach wie vor. Vielleicht sogar immer besser. Ständig neue Hochstapler:innen tauchen auf. Sie finden ihre Opfer auch und gerade unter den aufgeklärtesten und kritischsten Mitmenschen.

Warum? Wie kann das sein?

«Ich habe niemanden betrogen. Ich habe nur Geschichten verkauft.» So formulierte es ein als «Milliarden-Mike» bekannt gewordener Hochstapler aus Deutschland, der seinen grösstenteils wohlhabenden Opfern Immobilien, Schmuck, Antiquitäten und andere Dinge verkauft hatte, die es entweder nicht gab oder die ihm nicht gehörten.

Wie die meisten seiner Kolleginnen und Kollegen hatte er die Sympathien vieler auf seiner Seite. Viele seiner Opfer waren selber Betrüger. Er hat ihnen «nur» ihr Schwarzgeld aus den Taschen gezogen. Nachdem er aufgeflogen war, packte er seine Geschichten in ein Buch. So hat es auch der Schweizer Hanspeter Streit («Der Fürsorger») getan. Aus Hochstaplern werden Autoren, die Urheberrechte an ihren Storys geltend machen können.

Der vermeintlichen russische Millionenerbin Anna Sorokin gelang es sogar, ihre Story aus dem Gefängnis heraus für 320‘000 Dollar an Netflix zu verkaufen. Nachdem sie wegen guter Führung wieder auf freien Fuss kam, checkte sie in einem Luxushotel ein und liess ihre Community wissen, dass sie wieder «back on track» sei. In einem Interview gab sie zwar zu, ein paar Fehler gemacht zu haben. «Das mindert aber nicht die vielen Dinge, die ich richtig gemacht habe.» Auch das haben viele Hochstaplerinnen und Hochstapler gemeinsam: Sie sind weitgehend im Reinen mit sich und sogar stolz auf ihre Taten.

Es braucht Erzähltalent

Für den Fall, dass Sie sich selber mal im lukrativen Hochstapler-Gewerbe ausprobieren wollen – hier kommt mein kleines Anforderungsprofil: Um erfolgreich zu sein brauchen Sie natürlich erzählerisches Talent und Überzeugungskraft. Allerdings sollten sie das nicht zu offen vor sich hertragen. Bleiben Sie bescheiden. Keine Angst vor eigenen Fehlern und Unvollkommenheiten. Die helfen Ihnen sogar. Fehler sind sympathisch, sie erinnern ihr Publikum an die eigene Unvollkommenheit. Man fasst leichter Vertrauen zu jemandem, der/die ein paar Makel hat.

Der Hamburger Millionenbetrüger Jürgen Harksen zum Beispiel war Sonderschüler ohne Abschluss, er soll geschielt und insgesamt ziemlich linkisch gewirkt haben. Trotzdem gelang es ihm, zahlreichen Hamburger Promis (darunter Leuten wie Dieter Bohlen) mit Geschichten über Geldanlage-Geschäfte mit wahnwitzigen Renditen viele Millionen aus den Taschen zu ziehen. Auch er schrieb ein Buch. Auch seine Geschichte wurde verfilmt, in der Hauptrolle der distinguierte Hamburger Edel-Schauspieler Ulrich Tukur.

Wir lieben Hochstapler. Sie halten uns den Spiegel vor.

Damit kommen wir zum springenden Punkt: Erzähltalent, Überzeugungskraft und das richtige Auftreten reichen für eine Karriere als Hochstapler nicht aus. Entscheidend ist eine weitere Fähigkeit, von der ich nicht weiss, ob man sie trainieren kann: Erfolgreiche Hochstaplerinnen und Hochstapler sind besonders empathisch. Sie können die Träume und Erwartungen der Menschen lesen. Sie sind wie das Christkind. Sie erfüllen (geheime) Wünsche.

Im Prinzip bedeutet das: Die Geschichten, mit denen sie ihre Opfer um den Finger wickeln, sind schon da. Sie schlummern in ihrem jeweiligen Gegenüber. Die Hochstaplerin muss sie nur bergen. Die eigentlichen Autoren der betrügerischen Erzählungen sind die Opfer selber, die sich nur zu gern auf den Betrug einlassen, der in Wirklichkeit ein Selbstbetrug ist.

Der Schweizer Sozialarbeiter und Millionenbetrüger Hanspeter Streit war bereits überführt und eine landesweite Berühmtheit (man kannte sein Gesicht, die Boulevardmedien hatten seinen Fall genüsslich ausgebreitet), als er rückfällig wurde. Es gab Leute, die ihm ihr Geld regelrecht aufgedrängt haben, weil sie sicher waren, dass seine Geschichte stimmen musste. Sie handelte von Möglichkeiten der Geldanlage, die nur den «oberen Zehntausend» zugänglich waren und von denen die einfacheren Leute nichts wissen durften. Die neuen Anleger waren sicher, dass der Prozess ein Ablenkungsmanöver und Streit ein Bauernopfer war.

Auch der Kunstfälscher Wolfgang Beltracchi hat Wünsche erfüllt, erst recht der Fälscher der Hitler-Tagebücher Konrad Kujau. Gleiches gilt für prominente Hochstapler-Journalisten wie Tom Kummer und Claas Relotius. Ihre Fälle sind besonders schillernd, weil sie auch Wahrheiten sichtbar gemacht haben: Die Hybris einer Medienwelt, in der der Hunger nach der grossen Story unermesslich ist, und die Erwartungen an eine Story oft stärker sind als die Verpflichtung zur Wahrheit.

Story muss sein!

Besonders deutlich veranschaulicht das die Geschichte, die ein befreundeter Dok-Filmer erlebt hat: Für ein bekanntes Deutsches TV-Reportagemagazin reiste er nach Indien, um dort über eine Suizid-Serie von Baumwoll-Bauern zu recherchieren, die durch das teure Saatgut des Gentech-Multis Monsanto in den Ruin getrieben worden sein sollen. Doch seine Recherchen brachten keinen Erfolg. Er fand nichts, das diese tolle Story bestätigen konnte und kehrte mit leeren Händen zurück.

Ein paar Wochen später brachte das Magazin dennoch eine Sendung über diese Selbstmorde. Die Story war einfach zu gut. Man fand einen anderen Filmer, der weniger Skrupel hatte. Die Grenzen zwischen Hochstapelei und seriösem Storytelling waren schon immer fliessend.

Auch «mein» Hochstapler erfüllte natürlich meine Wünsche. Er erfand für sich eine fiktive Biografie mit märchenhaften Erfolgen als Drehbuchautor in Grossbritannien. Er lockte Geldgeber zu einem Treffen mit einem Star-Regisseur an‘s Filmfestival von Cannes, das er dann kurz vorher von seiner (inexistenten) Assistentin absagen liess.  Er spielte mir vor, wie er von seinem Produzenten mit dem Privatjet in Berlin abgeholt wurde und so weiter und so fort…

Es war ein märchenhaftes Leben in der Film- und Fernsehwelt, wie ich es für mich – nach Scheidung und komplettem beruflichen Neuanfang – wahrscheinlich insgeheim erträumt hatte. Durch ihn war es plötzlich zum Greifen nah. Gemeinsam mit ihm fühlte ich mich stark. Er zeigte mir, dass man als Drehbuchautor auch mit einer brüchigen Biografie erfolgreich sein kann. Das Drehbuch, das wir zusammen entwickelt haben, wurde zwar ganz lustig. Aber verfilmt wurde es nie.

Wie gesagt: Seien Sie sich nicht zu sicher. Bleiben Sie wachsam. Vor allem sich selber gegenüber!