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Warum wir Geschichten brauchen

Ende und Erlösung

Der Theaterregisseur und Drehbuchautor Felix Benesch untersuchte für FRIDA 17 Folgen lang die Wechselwirkung zwischen Narrativ und Wirklichkeit. Dies ist die letzte Ausgabe dieser Kolumne, daher geht es diesmal um das Ende von Geschichten – zeitgemäss mit vielversprechendem Cliffhanger.

Von Felix Benesch

Leipzig, 23.11.2023

6 min

Die Adventszeit steht vor der Tür. Der Countdown bis zur «Ankunft des Erlösers» beginnt, und damit für viele auch eine Kaskade von Anlässen und Feierlichkeiten, die uns dabei helfen sollen, das Jahr 2023 zu Ende zu erzählen: Abschlusssitzungen, Jahresrückblicke, Firmenessen, Sonnenwende-Feiern, Lichterfeste, geselliges Beisammensein mit Freund:innen und Familie, Weihnachten, Silvester…

Wir ziehen Bilanz, heben Gutes hervor und bewältigen weniger Gutes, bekräftigen unsere Verbundenheit, zeigen unsere Liebe – und manchmal wird uns auch schmerzlich bewusst, was und wer alles fehlt, nicht mehr da ist.

Cliffhanger auf allen Ebenen

Die Erlösung steht prinzipiell am Ende einer Geschichte, und wenn es nur die «Entlastung des Vereinsvorstandes durch die Mitgliederversammlung« ist. Weihnachten erlöst uns von der wachsenden Dunkelheit und bringt uns das Licht zurück.

Während es auf Geschäftsebene oder auch privat durchaus gelingen kann, zum Jahresende hin einige wichtige dramaturgische Fäden zu einem erlösenden Abschluss zu bringen, scheint das in grösseren Zusammenhängen schwieriger denn je: Krieg, Umweltzerstörung, Klima, Rechtsruck – alles wird von Jahr zu Jahr bedrohlicher, unübersichtlicher, verworrener. Eine absurde Wendung jagt die nächste.

Soviel steht fest: Das Jahresende wird in dieser Hinsicht keine Erlösung bringen. Stattdessen werden uns zahlreiche Cliffhanger auf allen Ebenen darauf vorbereiten, dass es in Folge 2024 noch spannender, noch verrückter, noch verworrener und beängstigender weitergehen wird.

Ein Ende ist nicht in Sicht.

Wird es wahrscheinlich nie geben. Nur wer selber aus dieser Erzählung aussteigt, aussteigen muss, wird vielleicht Erlösung finden

Der Tod ist die Erlösung an sich. Er erlöst uns von aller Schwere, allem irdischen Leiden, allem Laster. Aber natürlich lassen wir auch all das hinter uns, was unsere Lebenserzählung bereichert und beseelt hat: Freude, Freundschaften, Erfüllung, Liebe, Lust und Leidenschaften.

Mit dem Tod endet die komplette Lebenserzählung jedes Menschen.

Allerdings habe ich schon häufig beobachtet, dass Menschen, die spüren, wie ihr persönliches Ende näher rückt, auch gerne vom drohenden Ende der Welt, der Zivilisation, der eigenen Nation, der Gesellschaft oder auch der Kunst reden und dieses Untergangs-Szenario besonders markant an die Wand malen.

Auf mich wirkt das oft so, als ob sie ihre persönliche Welt mit der Welt an sich verwechselten. Besonders ältere Männer, die sich als Protagonisten einer Heldengeschichte sehen, haben einen Hang zu fatalistischen Untergangsszenarien.  Sie bewegen sich auf das Ende ihrer eigenen Erzählung zu und können sich kaum vorstellen, dass andere Erzählungen ohne sie überhaupt fortgesetzt werden können.

Das Ende der Serie

n meiner Held:innen-Reihe, die heute ein vorläufiges Ende findet, ging es über 17 Episoden um die vielfältigen Wechselwirkungen zwischen Wirklichkeit und Erzählung. Seit ich mich damit beschäftige, wächst meine Faszination dafür, dass wir mehr oder weniger unbewusst durch populäre Erzählmuster in der Wahrnehmung unserer Gegenwart beeinflusst werden.

Die Realität ist immer eine Erzählung. Und jede Erzählung folgt bestimmten Prinzipien, die sich im Lauf der Zeit aber verändern. Je nach dem, was für Erzählungen wir selber konsumieren.

So gesehen müsste sich auch unser Verhältnis zu den Enden von Storys in den letzten Jahren stark verändert haben.

Wie sieht heute ein gutes Ende aus?

Bis vor einigen Jahren haben wir vorwiegend in abgeschlossenen Erzählungen gedacht und gelebt. Storys wurden so gebaut, dass sie ein erlösendes Ende fanden, das heisst, sämtliche Handlungsstränge mussten nach Ablauf der Erzählzeit möglichst raffiniert auserzählt sein.

Bei Fernseh- und Kino-kompatiblen rund 90 Minuten wirkte das manchmal etwas gewollt und konstruiert. Aber immerhin: Nach dem Film waren wir aus der Geschichte entlassen und konnten uns entspannt etwas anderem, neuem zuwenden.

Die Dramaturgie der Gegenwart ist die Endlos-Serie, die genau das Gegenteil tut:

In ihr wird ein erlösendes Ende so lange wie möglich hinausgezögert. Die Kuh eines erfolgreichen Formates wird gemolken, bis wirklich kein Tropfen Milch mehr zu holen ist. Auch das wirkt oft genug konstruiert und vor allem manipulativ.

Die Figuren tun Dinge, um die Zuschauenden zum Dranbleiben zu zwingen, nicht weil sie irgendwie richtig oder sinnvoll wären.

Es liegt an uns, wie lange und wie weit wir mit ihnen gehen wollen. Ein Ende kommt in vielen Fällen erst, wenn wir uns bewusst und proaktiv von ihnen trennen. Manchmal endet es auch dann nicht. Die Geschichte rumort in uns weiter. Haben wir womöglich das Beste verpasst?

Heute ist ein gutes Ende kein Ende mehr. Es weist in die Zukunft, in die nächste Folge, die nächste Staffel. Auch der Tod der Hauptfigur bedeutet nicht mehr zwangsläufig, dass die Geschichte endet. Das Leader-Trikot wechselt nur den Träger. Es geht mit einer neuen Hauptfigur weiter. Eine Erlösung bleibt aus.

Geständnis am Sterbebett

Mir fallen dazu zwei gegensätzliche Geschichten aus dem wirklichen Leben ein, die vom Sterben und Abschiednehmen handeln und diesen Bewusstseinswandel womöglich gut illustrieren:

Vor einiger Zeit hat mir eine Bekannte erzählt, ihr Vater habe ihrer Mutter auf dem Sterbebett mehrere Seitensprünge gebeichtet. Die Frau sei aus allen Wolken gefallen, sie hatte ihrem Mann vertraut und war sich seiner Aufrichtigkeit und Treue ein Leben lang sicher. Nun stellte sich heraus, dass das ein Irrtum war.

Er hatte sie hintergangen.

Der Mann ist kurz darauf friedlich entschlafen. Aber sie soll diese Beichte noch lange beschäftigt haben. Sie war selber schon weit über siebzig, trotzdem hat sie dieses Geständnis sehr verletzt.

Er fand seine Erlösung, sie nicht. Er folgte seinem tief verinnerlichten Wunsch, die Handlungsstränge seiner Lebenserzählung zu einem Abschluss zu bringen.

Das tat er nur für sich, für seinen Frieden.

Sein Geständnis war ein solipsistischer, egoistischer Akt, der ihr am Ende einer langen und eigentlich glücklichen Beziehung schmerzhaft vor Augen führte, was sie womöglich immer für ihn war: Ein Objekt. Eine Marionette in seinem Puppentheater.

Die andere Geschichte wurde mir kürzlich von einem Freund erzählt, der am Sterbebett seiner Mutter wachte. Auch sein Vater sass da und nahm an langen Tagen und Nächten langsam Abschied von seiner Frau und Gefährtin. Auch diese beiden Menschen waren miteinander verbunden durch eine intensive und glückliche gemeinsame Zeit, die viele Jahre dauerte und nun durch eine schwere Krankheit zu früh enden musste.

Sie wollte nicht in erster Linie Frieden machen und einen runden Abschluss finden. Sie wollte, dass sein Leben weitergeht. Ihre Erzählung sollte an diesem Punkt nicht enden, im Gegenteil.

Ihr Abgang eröffnete doch auch neue Möglichkeiten!

Was genau die beiden miteinander besprochen haben, entzieht sich meiner Kenntnis. Jedenfalls hatte die Frau noch geatmet, das Leben war noch nicht aus ihrem Körper gewichen, da wandte sich der Vater an seinen Sohn und fragte ihn flüsternd: «Wenn das hier vorbei ist – zeigst du mir dann, wie diese – Dings – Datingplattformen im Internet funktionieren?»

Held:innen endet hiermit

Hier endet Held:innen. Ich bedanke mich bei Frida und bei allen, die Held:innen hie und da gelesen haben. Es war eine aufregende Reise in ein weites Themenfeld, das ich wahrscheinlich erst an der Oberfläche angekratzt habe. Hätte Mathias Balzer mich vor eineinhalb Jahren nicht dazu angeregt, ich hätte mich nicht auf diesen Weg gemacht.

(Cliffhanger: Auf meinem Tisch liegen Angebote mehrerer Verlage. Ich kann mich gar nicht entscheiden, auf welches ich eingehen soll.
Perspektivwechsel: Die Kamera schwenkt auf einen Leser, der sich fragt, ob das wirklich stimmen kann. Im Hintergrund geht eine Tür auf, eine junge Frau streckt den Kopf herein und ruft: «Na!? Wie sieht’s aus!? Willst du noch lange hier rumsitzen? Weihnachten ist vorbei, lass uns an die frische Luft gehen und etwas unternehmen!»)