Titelbild der Kolumne von Felix Benesch mit dem Titel

Warum wir Geschichten brauchen

Ist die Gewaltspirale wirklich ausweglos?

Der Theaterregisseur und Drehbuchautor Felix Benesch untersucht in seiner Serie «Held:innen» die Wechselwirkung zwischen Erzählung, Narrativ und Wirklichkeit. In der neuen Folge hinterfragt er angesichts der Ereignisse im Nahen Osten das Narrativ der ausweglosen Gewaltspirale.

Von Felix Benesch

Leipzig, 19.10.2023

7 min

Ich fang’ mal mit einem Geständnis an: Ja, ich tu’s. Ich beteilige mich fast täglich am Wissenstest einer bekannten deutschen Wochenzeitung, die ich sehr schätze. Das Resultat teile ich dann regelmässig mit Roger, einem alten Freund. Allerdings nur, wenn es überdurchschnittlich ausfällt. Das bedeutet dann nämlich, dass ich mir die News und Storys der letzten Tage gut gemerkt habe. Besser als die meisten anderen Leser:innen dieser Zeitung.

Das gibt mir jedes Mal ein gutes Gefühl.

Roger geht es ähnlich. Wir gratulieren uns gegenseitig, wenn unser Informationsstand überdurchschnittlich ist.

Mindestens so häufig kommt es natürlich auch vor, dass wir unter dem Schnitt liegen. Dann schicken wir einander zum Trost irgendein Foto, das zeigt, wo wir uns grade aufhalten und womit wir uns beschäftigen. Ein schöner Brauch, find’ ich. In den vielen Jahren, die wir uns mittlerweile kennen, hatten wir nie so viel Kontakt, wie seit wir mit diesem Spiel angefangen haben.

In Ellipsen nehmen wir am Alltag des Anderen teil.

Ich könnte mehr oder weniger detailliert über Rogers Leben Auskunft geben. Die punktuellen Einblicke in seinen Alltag machen es mir möglich, obschon wir meistens mindestens 700 Kilometer weit voneinander entfernt leben.

Zumindest glaube ich das. Denn in Wirklichkeit habe ich nur minimale Einblicke. Der weitaus grössere Teil von Rogers Leben findet im Off statt. In der Ellipse, wie wir sie aus der Linguistik kennen. Genau genommen könnte ich höchstens meine Interpretation von Rogers Leben erzählen. Gut möglich, dass sie erheblich von Rogers eigener Version abweicht.

Die Fantasie füllt die Lücken

Jede Erzählung verläuft in solchen Ellipsen. Sie zeigt Ausschnitte. Was zwischen diesen Momentaufnahmen geschieht, wird nicht erzählt. Es passiert in den elliptischen Bögen ausserhalb der Erzählung und ist mindestens so wichtig wie das tatsächlich Erzählte.

Die Lücken sind der Platz, den die Fantasie der Lesenden/Zuhörenden/Zuschauenden einnimmt. Je mehr Raum sie bekommt, desto aktiver nehmen wir an einer Erzählung teil; und desto mehr Drive bekommt die Story.

Würde alles erzählt (was kaum möglich ist), wäre das unglaublich langweilig.

Worauf ich eigentlich hinaus will, ist sehr ernst: Lange hat mich nichts mehr so aufgewühlt wie die Berichte über die terroristischen Angriffe in Israel und ihre furchtbare, bewusst zur Schau gestellte Brutalität.

Ich wollte diese Bilder nicht sehen. Ich habe kein einziges dieser Videos angeklickt. Ich habe nur gelesen, was sie angeblich zeigen sollen. Das hat gereicht. Meine Fantasie hat die Bilder vervollständigt. Ich habe sie gesehen, ohne sie gesehen zu haben.

Sie waren schlimm und haben mich bis in den Schlaf verfolgt.

So funktioniert Terrorismus. Er will in unsere Köpfe. Er will möglichst grosse Aufmerksamkeit und Wirkung. Er will Macht über unsere Vorstellungskraft und Einfluss auf unsere Erzählung der Wirklichkeit nehmen, sie verändern, bestimmen, dominieren.

Dazu braucht er Bilder, die uns zum Hinschauen zwingen. Er braucht den maximalen Reiz.

Die Erzählung der Gegenwart erobert

Manchmal habe ich den Eindruck, dass wir in einer Welt leben, in der auf allen Ebenen ständig an der Intensitätsschraube gedreht wird. Wenn ich recht habe, dann muss sich auch der Terror steigern, sonst verfehlt er seine Wirkung. Ich möchte mir gar nicht vorstellen, wohin das noch führen kann.

Ich bin kein PR-Spezialist, aber ich glaube, durch die Brille einer PR-Fachperson betrachtet, waren die Hamas-Kämpfer sehr erfolgreich. Sie haben mit einer wenige Stunden dauernden Aktion den Lauf der Dinge im Nahen Osten massgeblich verändert und weltweit maximale Wirkung erzielt.

Seither kann niemand mehr die Hamas ignorieren. Sie haben sich einen prominenten Platz in unseren Erzählungen der Gegenwart erobert.

Alle müssen sich zu ihren Taten und den Konsequenzen verhalten.

Allerdings wissen die meisten von uns nicht viel mehr als die Hard Facts: Die Angriffe haben stattgefunden, sie forderten so und so viele Opfer und waren beispiellos brutal. Allenfalls können wir uns noch darauf einigen, dass sie eine lange Vorgeschichte haben und in komplexen Zusammenhängen stehen.

Alles andere geschah und geschieht in der Ellipse. Dort regiert die Interpretation, wir kombinieren, ergänzen, stellen uns vor. Die Zwischenräume sind hier besonders gross und bewirken eine besondere und besonders intensive Dynamik.

Unendlich viele verschiedene, oft sogar komplett gegensätzliche Versionen dieser Ereignisse werden erzählt.

Verschiedene Narrative

Ob die Hamas-Angriffe eine zynische Machtdemonstration ohne Rücksicht auf Verluste waren oder ein verzweifelter Ausbruchsversuch aus dem Gefängnis des Gazastreifens; ob sie eine zwingende Folge von Israels Palästina-Politik waren oder ein gezielter Anschlag auf den Annäherungsprozess Israels mit Saudi-Arabien; ob die Hamas unabhängig gehandelt hat oder fremde Mächte Regie führten – und so weiter.

Das kann uns anscheinend niemand mit Sicherheit sagen.

Zu welchem Narrativ man neigt, ist anscheinend abhängig davon, aus welcher Perspektive jemand die Welt betrachtet.  Es wird nur sehr schwer möglich sein, sich auf eine gemeinsame Version dieser Erzählung zu einigen. Gräben vertiefen sich. Krieg flammt auf. Erzählungen werden zu Waffen. Es entsteht ein wüstes, versehrtes, rauchendes Schlachtfeld der Narrative.

Spätestens dann wird aus der Ellipse eine Spirale der Gewalt.

Spirale. Auch so eine geometrische Form. Sie impliziert, dass sich Ereignisse ständig wiederholen, ähnlich oder gleich ablaufen und sich dabei steigern.

So gesehen sind Spiralen schicksalhafte Urkräfte. Wenn sie mal in Gang gekommen sind, lassen sie sich nicht mehr aufhalten. Wie ein Tornado fegen sie übers Land und hinterlassen Trümmer, Schmerz und Tod.

Die ausweglose Spirale

Bemerkenswert ist aber, dass eine «Spirale der Gewalt» immer woanders entsteht, hier bei uns ist so was unüblich. Oder höchstens, wenn Angehörige gewisser Volksgruppen involviert sind.

Die meisten Menschen sind nämlich überzeugt davon, dass sie die Dinge im Griff haben; dass sie weitgehend in der Lage sind, zu steuern, was sie tun und lassen. Oder haben Sie schon mal einen Satz gehört wie: «Neulich war ich Teil einer krassen Gewaltspirale. Ich konnte gar nichts dagegen tun.» Ich nicht.

Die gleichen Menschen ziehen aber die Stirn in Falten und reden bedeutungsvoll von einer unabwendbaren Spirale der Gewalt, die nun beispielsweise durch die Hamas-Angriffe losgetreten wurde.

«Es passiert. Es ist leider so. Dagegen kannst du nichts machen.» In den Kommentarspalten angesehener Qualitätszeitungen liest man zum Beispiel davon, dass der Gazastreifen nun unweigerlich «platt gemacht» werden müsse. Sonst endet das nie.

Der Mensch in der Verantwortung

Ich bin ein Gegner von Spiralen. Dieses Bild gefällt mir nicht. Vernünftige Menschen sprechen damit anderen Menschen die Fähigkeit ab, eine solche Situation zu steuern und auch abzuwenden. Ich habe ein anderes Bild von meinen Mitmenschen. Ich finde, sie sind in vielem ähnlich wie ich. Viele sind sogar besser, klüger, eloquenter und vieles mehr.

Deswegen bin ich überzeugt davon, dass es keine Spiralen gibt.

Wenn eine Mehrheit nicht will, dass eine Gewaltspirale entsteht, dann entsteht sie auch nicht. Umgekehrt gilt es auch: Sie entsteht nur, wenn eine Anzahl von Menschen das so will. So etwas geschieht nicht einfach von sich aus.

Ellipsen hingegen sind interessant.

Es tut gut, sich bewusst zu machen, dass es sie gibt. Das gilt nicht nur für mich als Autor. Dieses Bewusstsein hilft auch für das Verständnis einer komplexen Gegenwart. Auch News sind nur Momentaufnahmen.

Der weitaus grössere Teil des Geschehens findet in der Ellipse statt. Und dort, wie gesagt, regieren Fantasie, Vorstellungskraft und Interpretation. Diese Dinge sind nicht einmal bei uns selber konstant. An einem sonnigen Frühlingsmorgen sieht die Welt anders aus als an einem dunklen, feucht-grauen Novembernachmittag.

Wenige Tage nach den Ereignissen in Israel fanden sie Eingang in den Wissenstest. Roger und ich mussten die Frage beantworten, was das für ein Anlass war, zu dem sich Tausende junge Menschen in der Nähe der Grenze zu Gaza versammelt hatten. Zur Auswahl standen drei Antworten, so was wie «Rockkonzert», «Technofestival» und «Religiöses Treffen.»

Es machte keinen Spass, die richtige Antwort anzuklicken.

Nicht nur, weil es zu einfach war. Mir stellte sich vielmehr die Frage, was um Himmels willen in der Ellipse passiert ist. Wie konnten diese verstörenden Ereignisse so schnell zum Material für ein Spiel werden?