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In seiner monatlichen Kolumne untersucht der Theaterregisseur und Drehbuchautor Felix Benesch die Wechselwirkung zwischen Erzählung, Narrativ und Wirklichkeit.

Warum wir Geschichten brauchen

Schuld und Erlösung

In seiner monatlichen Kolumne untersucht der Theaterregisseur und Drehbuchautor Felix Benesch die Wechselwirkung zwischen Erzählung, Narrativ und Wirklichkeit. Heute: Von der Vertreibung aus dem Paradies bis zu den Crime-Storys und True- Crime-Serien der Gegenwart: Es geht immer um Schuld und Erlösung.

Von Felix Benesch

Leipzig, 03.11.2022

6 min

Fangen wir vorne an:  «Und Gott der Herr nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, dass er ihn bebaute und bewahrte…» In diesem Garten war alles schön, es herrschte umfassende Harmonie – und kompletter Stillstand. Nicht einmal der Tod bedrohte den ersten Menschen. Es machte keinen Unterschied, ob dieses Paradies eine Woche lang andauerte oder einige Jahrhunderte oder Jahrtausende. Völlig egal, denn es geschah ja nichts.

Auch Gott musste aufgefallen sein, dass das auf Dauer keinen Sinn machte. Wahrscheinlich wurde ihm auch langweilig. Jedenfalls beschloss er, etwas zu ändern. Er schenkte dem ersten Menschen eine Gefährtin. Und er erfand den «Baum der Erkenntnis von Gut und Böse», stellte ihn in die Mitte des Gartens Eden, wo Adam und Eva ihn nicht übersehen konnten. Und er verbot ihnen, davon zu kosten, und sanktionierte dieses Verbot mit der höchsten denkbaren Strafe: Vertreibung und Tod. Dann wartete er ab, was geschah. Und siehe: Diese gefährliche, aber unwiderstehliche Versuchung brachte bald Spannung in das Geschehen. Eine Story begann.

Die erste Erzählung: eine Schuldzuweisung

Wir kennen diese Story, sie wurde den Meisten von uns schon im Kindesalter erzählt. Nachdem Adam und Eva von der verbotenen Frucht gekostet hatten, «wurde ihnen gewahr, dass sie nackt waren». Sie bedeckten sich, versteckten sich vor Gott, der sie natürlich fand und zur Rede stellte. Nun waren sie gezwungen, etwas zu ERZÄHLEN.

Bis zu diesem Zeitpunkt gab es im Paradies nur eine Wirklichkeit. Gott selber definierte diese Wirklichkeit. Doch nun hielten die beiden ersten Menschen ihrem Schöpfer ihre eigenen Versionen der Wirklichkeit entgegen:  Adam gab Eva die Schuld, sie habe ihm von der Frucht gegeben. Und Eva beschuldigte die Schlange, sie zur Sünde verführt zu haben.

Gott nahm sie beim Wort und bestrafte alle, und mit ihnen alle Nachgeborenen, also auch uns: Mit Feindschaft zwischen den Geschlechtern und den Kreaturen, mit den Mühsalen des Lebens, mit einem unausweichlichen Tod und damit, dass er die Menschen von sich selber abspaltete. Damit gab er uns ein Grundbedürfnis, einen «need»: Unser ganzes Leben sollte ein Weg zurück zu Gott sein, ein Streben nach Erlösung.

Die (lateinische) Kirche leitete aus dem Mythos von Adam und Eva die «Ursünde» ab. Niemand ist ohne Schuld. Wir alle werden «schuldig geboren».

Entscheidend ist, ob die Story erfolgreich ist

Ist diese Story wahr? Ist es wirklich so geschehen? Die Antwort auf diese Frage ist vollkommen irrelevant. Entscheidend ist, ob die Story erfolgreich ist. Wahr ist, was verfängt, was die Leute erreicht. Mal abgesehen davon, dass die Ur- oder Erbsünde theologisch sicher ein komplexes Thema ist – sie war ein Bestseller über Jahrhunderte hinweg, und ist es bis heute. Die Prämisse, dass wir alle «schuldig geboren» werden, machte es erst möglich, die Menschen an die Kirchen zu binden. Es war immer eine Rechnung offen zwischen dem Menschen und Gott. Und die Kirche half den Gläubigen dabei, diese Rechnung zu begleichen.

Stimmt ja auch: Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein.

Der Mythos von Adam und Eva legitimierte nicht zuletzt auch die Herrschaft der Männer über die Frauen und Jahrhunderte der Misogynie. In Adams Version der Wirklichkeit war es ja Eva, die zu schwach war, um der Versuchung zu widerstehen und ihn deshalb mit ins Verderben riss. Man muss sich nur mal vorstellen, was das übersetzt heisst, nämlich:  Frauen tragen die Schuld an allen Übeln des Lebens und der Welt. – Das kann uns nicht kalt lassen, egal wie absurd wir das finden.

Der Stoff, aus dem unsere Wirklichkeit besteht

Die Frage nach der Schuld und den Schuldigen emotionalisiert immer, sie kann Gesellschaften aufpeitschen, zu Revolutionen führen und Kriege entfachen. Die Klärung von Unrecht und Schuld ist aber auch die Basis jedes Rechtsstaates und unerlässlich für ein friedliches Zusammenleben. Ein gesellschaftliches Miteinander ist nur auf der Basis von Vertrauen möglich. Ohne ein Mindestmass an Vertrauen funktioniert gar nichts, kein Handel, keine Bank, kein Krankenhaus, keine Schule. Ohne Vertrauen gäbe es kaum Entwicklung, keine Innovation, keinen Fortschritt.

Wir sind umgeben von Geschichten, die uns dabei helfen können, dieses Vertrauen zu finden und zu festigen. Als Storyteller weiss ich, dass das Geschichten-Erzählen eine ernste Angelegenheit ist. Geschichten sind der Stoff, aus dem unsere Wirklichkeit besteht. Natürlich spielt dabei eine Rolle, was wahr ist und was nicht. Aber dabei geht es wohl weniger um absolute Wahrheiten. Wahr ist, was verfängt und was die Mehrheit der Gesellschaft in einem bestimmten Augenblick als wahr empfindet. Oft lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, ob eine Wahrheit übermorgen noch genau so gilt wie heute.

Tag für Tag sind wir von Neuem auf der Suche nach gültigen Wahrheiten, tausende Geschichten bieten sich uns an, faktische, fiktive, manipulative, komplexe, einfache und so weiter. Stets sind wir gefordert, in diesem unübersichtlichen Strom von Storys das Relevante zu erkennen und wahr von falsch zu unterscheiden. Was lasse ich überhaupt an mich ran? Was nicht? Was darf ich überhaupt glauben? Man möchte manchmal Gott um Hilfe bitten, dass er uns bei diesen Entscheidungen hilft.

Doch Gott ist den meisten von uns kaum mehr nahe. Es gibt ein anderes Phänomen, das vielleicht teilweise an die Stelle biblischer Erzählungen gerückt ist: Geschichten von Unrecht und Verbrechen. Crime-Storys und True Crime boomen wie noch nie, ein Grossteil der TV-Programme besteht nach wie vor aus Krimis, auch in den Bücherregalen nehmen Krimis und Thriller viel Platz ein.

Dabei wissen wir alle, dass das niemals der Wirklichkeit entspricht. In der Schweiz gab es laut dem Statistischen Bundesamt im letzten Jahr 42 vollendete Tötungsdelikte. Mindestens so viele kommen auf deutschsprachigen Sendern an einem einzigen durchschnittlichen Fernsehabend gewaltsam ums Leben. Warum ist das so?

Täglich auf Sendung: Erlöse uns von den Bösen!

Als Teilzeit-Krimi-Autor sehe ich zwei Gründe für dieses Phänomen. Einerseits verfangen Verbrechen und die Klärung von Schuld besser als das meiste Andere. Es packt und emotionalisiert uns, es ist spannend und leicht konsumierbar. Positiv gesagt trainieren wir mit Kriminalgeschichten auch unser Gespür für Gerechtigkeit und Wahrheit und unser moralisches Empfinden.

In jedem Krimi gehen wir gemeinsam mit der Hauptfigur durch ein mehr oder weniger finsteres Labyrinth des Bösen, um es am Ende zu besiegen, das Unrecht aufzuklären, eine böse Tat zu überwinden und so den Frieden wiederherzustellen, den Rechtsstaat zu festigen. Erlöse uns von den Bösen!

Andererseits hat die Krimi-Flut etwas mit der Mechanik von Geschichten zu tun. Ein Verbrechen setzt die handelnden Figuren unter Zugzwang, sie müssen etwas tun, Handlung beginnt und setzt sich fort. Kein Plot funktioniert ohne Handlung. Und kein Genre ist leichter in Gang zu bringen als ein Krimi. Krimis sind einfach. Für Krimis gibt es Massstäbe und Rezepte. Jede:r kann beurteilen, ob eine Kriminalgeschichte funktioniert oder eben nicht.

Die Suche nach und das Benennen von Schuldigen ist auch eines der Lieblingswerkzeuge von Populisten jeder Couleur. Sie packen gerne alle Probleme auf den Rücken eines (biblischen) Sündenbockes und schlachten ihn öffentlich, um mit ihm auch die Probleme aus der Welt zu schaffen.

Das funktioniert zwar nur bedingt, aber es ist wirkungsvoller und einfacher als die komplexe Dramaturgie, die konstruktive Arbeit an Lösungen und Verbesserungen erfordert.