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Warum wir Geschichten brauchen

Mannsbild im Feuer

Im Schrebergarten trifft Felix Benesch auf den Rammstein-Fan Peter und überlegt, welches Geheimnis die Band verbirgt. Der Theaterregisseur und Drehbuchautor untersucht in seiner Serie «Held:innen» die Wechselwirkung zwischen Erzählung, Narrativ und Wirklichkeit.

Von Felix Benesch

Leipzig, 15.06.2023

8 min

«Gib mir Benzin!», dröhnt es aus dem Lautsprecher unseres Gartennachbarn Peter, begleitet von dumpfem Heavy-Metal-Sound, an dem man die Marke Rammstein sofort erkennt.

«Du traust dich noch, Rammstein zu hören?», rufe ich scherzhaft über den Zaun. Doch Peter, der sonst jeden Witz dankbar pariert, wird ernst und setzt zu einem leidenschaftlichen Bekenntnis an, in dem er Till Lindemann als Ziel einer woken Verschwörung darstellt.

«Die Vorwürfe sind alle frei erfunden! Aber diesmal haben sie sich den Falschen ausgesucht. Till werden sie niemals kleinkriegen!»

Peter ist ein Mann um die sechzig, ein Leipziger Urgestein in Frührente, im Sommer verbringt er praktisch jeden Tag in seinem Schrebergarten, der an unseren grenzt. Er sieht nicht aus wie ein Rocker, eher wie der typische Kleingärtner, der mit einem Bierchen unterm Sonnenschirm sitzt und seiner Frau dabei zusieht, wie sie die Freesien pflegt.

Alltagsfluchten

Häufig sind Gartenfreunde bei ihm zu Besuch. Dann holt er seine Lautsprecherbox aus der Hütte und spielt zu Bier und Grillwurst eine Playlist mit passender Stimmungsmusik. Schlagerklänge von Roland Kaiser zum Beispiel, der da singt: «Warum hast du nicht nein gesagt, es lag allein an dir / Mit einem Hauch von fast nichts an, wer wollt′ dich nicht verführ’n…»

Oder eben das stampfende Wummern von Rammstein: «Willst du dich von etwas trennen / dann musst du es verbrennen…»

Über Peter habe ich begriffen, dass die samtweichen Schönfärbereien der Schlagerstars und die dunklen Fantasien von Rammstein kein Widerspruch sind. Sie gehören zusammen, sind die gleiche Währung, zwei Seiten derselben Münze. Beides ist ungeheuer erfolgreich. Beide sind Alltagsfluchten, nicht nur, aber auch für Männer, die sich fremdbestimmt fühlen. Kitsch ist beides auch.

Egal, was alle sagen

Die Wirkungsmacht von Rammstein hat viel mit der klaren, unmissverständlichen Erzählung zu tun, die sich in Variationen durch ihr ganzes Werk zieht, durch jeden einzelnen Song: Sie handelt vom Mann als machtvoll Getriebener, der seinen eigenen Weg gehen muss; der das Leben bei den Hörnern packt und sich nimmt, was er haben will; egal, was alle sagen.

Wie keine andere Band verkörpern Rammstein die triebhaften Abgründe, die wahrscheinlich in uns allen, sicher aber in jedem Mann stecken: Es geht um bedingungslose Leidenschaft, schrankenlosen Sex, Exzess und Ekstase, um Dominanz, Gewalt, Manipulation, aber auch um Schmerz, Einsamkeit, Todessehnsucht, Bestimmung.

Ausverkaufte Stadien

Dabei wandeln sie auf einem schmalen Grat zwischen dem grade noch Sagbaren und dem Verbotenen, spielen mit allen möglichen Grenzen, mit Nazi-Symbolik, Pornografie, expliziter Gewaltdarstellung und, ja, schlechtem Geschmack auch. Garniert wird das Ganze mit einer donnernden Feuer-Show, die der gelernte Pyrotechniker Lindemann gerne selber entwirft. Sie soll schon einige Verletzte gefordert haben.

Es ist bemerkenswert, dass Rammstein aktuell Erfolge feiern, wie sie in Deutschland noch niemand je hatte: Vier ausverkaufte Stadion-Konzerte hintereinander in München, drei in Berlin, drei in Brüssel, zwei in Bern, zwei in Wien, dazu füllen sie zahlreiche weitere riesige Stadien verteilt über den ganzen Kontinent, in denen sie „nur“ ein einziges Mal auftreten. Jedes einzelne dieser Konzerte setzt mit jeweils 50 bis 70‘000 Zuschauer:innen und einem Ticketpreis von über 100 Euro viele Millionen um – eine wummernde und krachende Gelddruckmaschine.

Immer neue Codes

Dabei geht der gesellschaftliche Trend doch seit Jahren in die Gegenrichtung. Das kompromisslos Männliche gilt als „toxisch“ und ist komplett abgemeldet. In der Erzählung eines modernen, aufgeklärten Miteinanders sind ganz andere, weichere, eher weiblich gelesene Skills gefragt: Achtsamkeit, Offenheit, Toleranz, Diversität, gewaltfreie Sprache, Kompromiss- und Teamfähigkeit.

Als Steinzeitmann ist heute niemand mehr konkurrenzfähig. Möchte man meinen.

Man kann den rasenden Erfolg von Rammstein mit ihren simplen Botschaften und der aufs Einfachste reduzierten Musik sicher auch als Reaktion auf die (Über-) Forderungen einer immer komplexer werdenden Wirklichkeit mit immer neuen Codes sehen. Sie schaffen einen Ausgleich. Bei Rammstein kann der gepeinigte Spiesser zwei Stunden lang buchstäblich «die Sau rauslassen».

Männer wie Peter reden offen davon, dass sie sich vom «woken Zeitgeist» bevormundet sehen und beten die Erzählung einer Cancel Culture nach, in der eine Verschwörung aus linksgrüner Politik, woken Spinnern und manipulierten Medien absurde Vorschriften machen und einen Säulenheiligen nach dem Anderen stürzen, kürzlich war es Til Schweiger; jetzt Till Lindemann. Der Name Til/Till bedeutet sinnigerweise «Der im Volk Mächtige»

«Ein abgekartetes Spiel. Das sieht doch jeder!», ist sich Peter sicher. Welcher Till ist der Nächste?

Auch die rechtspopulistische AfD bewirtschaftet das Thema Mann/Männlichkeit: «Wir müssen unsere Männlichkeit wiederentdecken. Denn nur wenn wir unsere Männlichkeit wiederentdecken, werden wir mannhaft und damit wehrhaft.» (Björn Höcke). Mit Erfolg!

Kürzlich twitterte der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz: «Mit jeder gegenderten Nachrichtensendung gehen ein paar hundert Stimmen mehr zur AfD. Gegenderte Sprache und identitäre Ideologie werden von einer grossen Mehrheit der Bevölkerung nicht mehr nur im Stillen abgelehnt…» Die Angst vor den Rechtspopulisten geht um. Sie stehen mit Bundesweit 18 Prozent inzwischen gleichauf mit den regierenden Sozialdemokraten. In Sachsen sind sie Umfragen zufolge mit 32,5 Prozent wählerstärkste Partei. Es droht ein Rechtsrutsch mit unabsehbaren Folgen.

Erfolgreicher Kultur-Export

Die Herzen von Rammstein schlagen zwar links, wie die Mitglieder immer wieder betonen. Ihr Spiel mit rechter Symbolik ist voller Ironie. Das macht sie auch in links-liberalen, kulturaffinen Kreisen salonfähig. In Theater-Inszenierungen (Frank Castorf u.a.) verfehlen Rammstein-Sounds nie ihre Wirkung, ebenso in Kinofilmen wie David Lynchs «Lost Highway». Ihren Fans aus dem anti-elitären, rechten Lager ist das egal. Das Rammstein-Publikum findet sich in allen gesellschaftlichen Schichten. Die Band ist Deutschlands erfolgreichster Kultur-Export.

Es ist nur logisch, dass die aktuellen Vorwürfe gegen Rammstein-Frontmann Till Lindemann im Kontext mit den aktuellen gesellschaftspolitischen Debatten gesehen werden. Wenn man sich durch die endlosen Abgründe entsprechender Kommentar-Threads auf Social Media quält, dann ist es schon fast bestürzend, wie einig sich die meisten Fans in diesem Punkt sind.

Sie halten fest zu ihren Idolen und wehren sich entschlossen gegen jeden Versuch, die Frauen zu verteidigen, die den Mut haben, sich öffentlich zu den Übergriffen zu äussern, denen sie auf Rammstein-Konzerten ausgesetzt gewesen sein sollen.

«Selbst schuld!» ist der mildeste Vorwurf, der ihnen gemacht wird.

«Groupies gehören zu Rockstars wie Tonic-Water zu Gin!» Manche Frauen sollen sogar Todesdrohungen erhalten haben.

Dabei sind es natürlich keine Lappalien, die Till Lindemann und seiner Entourage bereits dutzendfach vorgeworfen werden. Die Sache mit den K.o.-Tropfen zum Beispiel kann juristisch unter Umständen sogar als versuchter Mord gewertet werden. Nach den Worten des bekannten Wiener Gerichtsmediziners Christian Reiter kann man bei im Internet gekauften Drogen nämlich nie wissen, wie sie dosiert sind. «Wer sie anderen ins Glas schüttet, nimmt den Tod des Opfers billigend in Kauf.»

Ein grosses Geheimnis?

Doch in den Vorwürfen der jungen Frauen steckt womöglich noch ein anderer, für manchen Fan vielleicht sogar noch bedrohlicherer Aspekt als eine drohende Verhaftung Lindemanns: Wenn ein erwachsener, mächtiger, von Millionen verehrter Mann mit einer Frau Sex haben will, die so jung ist, dass er sie, wenn er es wirklich darauf anlegt, wahrscheinlich leicht manipulieren könnte – warum muss er sie vorher betäuben?

Was ist da los? Was hat er zu verbergen? Hat er Angst vor ihr? Ist er impotent?

Diese Vorstellung würde die donnernden Rammstein-Auftritte mit ihren penetranten Sex- und Penis-Hampeleien natürlich schlagartig in ein ganz anderes Licht rücken. Sie wären nicht mehr die Manifestation einer ungezähmten Männlichkeit, sondern Schall und Rauch, mit dem eigene, allzu menschliche Schwächen übertönt werden sollen.

«Alles gelogen! Eine miese Hetzkampagne!», sagt Peter.

Und seine Augen beginnen zu leuchten: «Das Problem ist: Die machen noch richtig Party, mit Rausch und Exzess! Wie wir früher! Das ist den prüden, lustfeindlichen, veganen Sittenwächtern unserer Gegenwart natürlich ein Dorn im Auge.»

Exzess und heilige Ektase als reinigender Akt ist eine uralte Erzählung, es gibt sie auch in der griechischen Mythologie, angereichert mit archetypischer, göttlicher Symbolik. Das liest sich in Teilen wie die Beschreibung eines Rammstein-Konzerts:

«Im Rock aus geheiligtem Rehfell bringt er den Schwarm auf Touren. Dabei geht er zu Boden, um das Blut seiner Beute zu schlürfen, der Ziege, sich weidend am dampfenden Fleisch. Wo der brausende Gott den Boden berührt, spriessen Milch, Wein und Ströme saftigen Honigs. Es duftet nach syrischem Weihrauch. Der Lärmende hält in der Hand den flammenden Kienspan, schwenkt ihn hoch hin und her, und wühlt die Menge auf mit Geschrei, im Winde fliegen die Zöpfe:

„Auf! Auf! Das Lob gesungen des Dionysos zum Klang der ledernen Pauke! Lasst uns jubeln im wilden Gesang und preisen unseren frohlockenden Gott, Rufen und Lärmen erfreut ihn! Wenn liebliche Flötenklänge zu heiligen Schreien ertönen, fährt er euch in die Beine!»» (Euripides, «Die Bakchen», 406 v. Chr.)

Peter schaut versöhnlich, als ich ihm sage, dass ich eigentlich sogar gerne mal so ein Rammstein-Spektakel besuchen würde. «Leider dürfte es dafür aber bald zu spät sein,», setze ich nach, «Die Band wird diese vordergründige Solidarität mit ihrem Frontmann nicht mehr lange durchhalten. Rammstein wird sich auflösen.» – «Blödsinn! Ganz sicher nicht!» – «Wetten wir? Komm schon, Peter: um einen Kasten Bier!»

Peter winkt ab, lacht und geht zu seinen Gästen. Er hat nicht eingeschlagen.