Warum wir Geschichten brauchen
Liebe und Verrat
Bedeutet Fremdgehen das Ende der Beziehung? Oder lässt sich der vermeintliche Verrat einfach weg erzählen? Der Theaterregisseur und Drehbuchautor Felix Benesch untersucht in seiner Serie «Held:innen» die Wechselwirkung zwischen Erzählung, Narrativ und Wirklichkeit.
Leipzig, 10.05.2023
Florian steht unter Schock. Er versteht die Welt nicht mehr. Wie konnte sie ihm das antun? Ihm, der immer für sie da war und niemals auch nur den Hauch eines Zweifels daran aufkommen liess, dass er treu zu ihr steht?
Er muss durchatmen, sich beruhigen, bevor er mir erzählen kann, was geschehen ist: Noras Handy habe gesummt. Es lag auf dem Küchentisch. Er habe nur zufällig drauf geschaut, die Nachricht wirklich nicht sehen wollen. Unseligerweise hat er sie dann doch gelesen: »Mein Kissen riecht noch nach dir! (Kuss-Smiley) A.«
Florian und Nora sind bis zu diesem Zeitpunkt ein Vorzeigepaar, drei Kinder im Primarschulalter, ihr Haus in bester Lage hat ein namhafter Architekt nach ihren Wünschen gebaut. Florian verdient genug, es fehlt ihnen an gar nichts. Nach aussen wirkten sie immer glücklich und harmonisch. Ein perfektes Team.
Nun droht das alles auf einen Schlag in sich zusammenzufallen. Niemand hat so etwas kommen sehen.
Das ändert alles. Oder nichts?
Für Florian ändert die schmerzhafte Entdeckung, dass seine Partnerin eine Beziehung mit einem anderen Mann hat, nämlich alles. Ihre gemeinsame Zeit, ihre Liebe, ihr Glück: Eine einzige Lüge. Die Zukunft? Ungewiss. Es wird schwer sein, diese Verletzung zu überwinden. Er wolle es wenigstens versuchen, beteuert er tapfer, denn da sind ja auch noch die gemeinsamen Kinder. Wie konnte sie so egoistisch sein und den Dreien den Boden einer sicheren Familie unter den Füssen wegziehen? Wozu? War es das wert?
Nora erzählt diese Geschichte ganz anders. Für sie könnte es so weitergehen, es müsste sich nichts ändern. Die Freundschaft mit Amir gibt es schon seit vielen Jahren. Sie tangiert ihre Liebe zu Florian und den Kindern überhaupt nicht. Im Gegenteil: Sie machte diese überhaupt erst möglich.
Amir ist ein guter Freund, den sie schon seit Schulzeiten kennt. Er ist das Gegenmodell zum entschlossenen, starken Florian: Weich und zurückhaltend, er kann zuhören. Mit ihm kann sie alles bereden, er versteht sie, fängt sie auf, berät sie auch in Beziehungsfragen, er hat ihr sogar schon dabei geholfen, ein Geburtstagsgeschenk für Florian auszusuchen. Der Sex mit ihm kam irgendwann eher beiläufig dazu, wie ein Spiel. Wichtig war er nie, aber trotzdem schön, zärtlich, leicht, verspielt. Ohne jeden Druck.
Abenteuer statt Antidepressiva
Die Ausflüge zu Amir haben ihr geholfen, ihre Rolle als Vollzeit-Mama (mit Master in Filmwissenschaften und Germanistik) so perfekt zu spielen. Ohne sie wäre Nora kaum Florians selbstbewusste, schlagfertige, charismatische Gefährtin geblieben, die er so liebte, sondern womöglich unglücklich geworden und hätte zu Antidepressiva greifen müssen. Wie ihre Schulfreundin Prisca, die dann trotzdem von ihrem Partner verlassen wurde.
Ihr kleines Geheimnis half Nora, sich in die schweizerische Erzählung einer guten Familie einzufügen, ohne sich vollkommen ausgeliefert und in der Falle zu fühlen. Denn darin waren sich Florian und Nora einig: In einer guten Familie ist die Mama in den ersten Jahren vor allem für die Kinder da. Bei drei Kindern bedeutet das: Während zehn langen und wichtigen Jahren am Anfang ihres Berufslebens verzichtet Nora weitgehend darauf, sich beruflich zu entwickeln.
Von Deutschland aus betrachtet ist es immer wieder erstaunlich, wie tief das Narrativ einer traditionellen Familie, in der ein Elternteil mehrheitlich für die Kinder zuhause bleibt, nach wie vor in den Schweizer Köpfen verankert ist. In der Regel ist das die Frau, sie verdient ja immer noch weniger. Dabei sind mehr als die Hälfte der Studierenden in den Schweizer Unis Frauen. Nach ihrem Abschluss gehören sie zu den bestqualifizierten Menschen weltweit. Um dann auf die Kinder aufzupassen? Wie passt das zusammen?
Ein Labyrinth aus Narrativen
Liebe und Partnerschaft ist ein weites Feld. Wenn man es durch die Brille des Erzählers betrachtet, öffnet sich ein Labyrinth von Narrativen, die unsere Erwartungen prägen, unsere Partnerwahl und unser Liebesleben steuern und unsere Vorstellungen von Gemeinsamkeit bestimmen. Das gilt auch jenseits von traditionellen, heteronormativen Beziehungskisten.
Da gibt es zum Beispiel Lea, Ende Zwanzig, die ihr Liebesleben über Tinder, Bumble & Co organisiert. Über mangelnden Zuspruch kann sie sich nicht beklagen. Im Lauf der Jahre ist sie sehr wählerisch geworden. Sie trifft sich nur noch mit Kandidaten, die wirklich vielversprechend sind, das heisst: Ihre Erwartungen erfüllen können. Trotzdem findet Lea niemanden, der zu ihr passt, was langsam zum Problem wird für sie. Kann sie einem Mann überhaupt noch unbefangen begegnen?
Oder Roman, der als Politiker in der Öffentlichkeit steht und sich gerne mit seiner Frau Barbara fotografieren lässt. Unter Medienschaffenden ist es ein offenes Geheimnis, dass er ein Doppelleben als schwuler Mann führt. Warum schafft er keine klaren Verhältnisse? Welche Verabredungen trifft er eigentlich mit Barbara und seinen wechselnden Liebhabern?
Didi pflegt als polyamorer Mann Liebesbeziehungen zu mindestens sieben verschiedenen Frauen gleichzeitig und ist der festen Überzeugung, dass der Mensch nicht geschaffen ist für eine Paarbeziehung mit nur einer Partnerin oder einem Partner. Im Gespräch erwähnt er aber mehrfach, nicht alle seine Freundinnen kämen damit klar, dass sie ihn mit sechs anderen Frauen teilen müssen. Das sieht er aber als deren Problem, nicht als seines. Es hat in seiner Erzählung keinen Platz.
Die Liebe hält, wenn die Story stimmt
Diese und ähnliche Beispiele bespreche ich mit meinem Lieblingsmenschen beim Joggen, und wir geraten mehr und mehr ausser Atem, weil wir immer heftiger diskutieren. Sie wehrt sich nämlich gegen meine These, dass Liebe und Partnerschaft immer vor allem eine Erzählung ist, in der sich zwei (oder mehr) Menschen finden und die sie gemeinsam weitererzählen.
Auch bei uns. Das will sie nicht gelten lassen.
Doch ich beharre auf meinem Standpunkt: Solange unsere Erzählung interessant und für beide stimmig bleibt, geht sie weiter. Aber wenn plötzlich etwas geschieht, das die Dramaturgie massgeblich verändert; wenn sich für jemanden von uns beiden die Rolle ändert; oder wenn die Geschichte ganz einfach ins Stocken gerät, redundant und langweilig wird, dann stehen wir als Erzählende vor der Wahl: Schreiben wir unsere Story um? Oder wollen wir sie lieber beenden?
Also doch alles wie gehabt?
Bei Florian und Nora hat sich nur eines geändert: Florian weiss jetzt von Noras Zweitbeziehung, vorher wusste er nichts davon. Der Ball liegt nun bei ihm. Ihre Beziehung hat nur dann noch eine Chance, wenn es ihm gelingt, diese Episode in seine Erzählung zu integrieren. Er muss damit klarkommen, dass sie sich auch mit einem anderen Mann trifft. Rein äusserlich ist ja alles so geblieben, wie es war. Die neue Dimension findet nur in seinem Kopf statt. Wenn er sich damit abfindet, kann alles weiterlaufen wie bisher. Noras Liebe zu ihm und ihren Kindern ist ja unverändert.
Doch mein Lieblingsmensch will das nicht gelten lassen. «Nora hat ihn betrogen. Die Verletzung ist real. Man kann so etwas doch nicht einfach weg erzählen!?» Ich finde: «Doch! Kann man.» Es ist eine Patt-Situation.
Mut zur Lücke
Wir einigen uns auf einen fragilen Kompromiss: Wenn Florian nichts von Amir wüsste, dann bliebe alles beim Alten. Florian und Nora könnten theoretisch glücklich zusammenbleiben «bis dass der Tod sie scheidet», wie es in einer herkömmlichen Erzählung heisst.
Dafür müssen wir die Textnachricht auf ihrem Handy einfach löschen und die Information mit der Zweitbeziehung tilgen. Es hat sie nie gegeben. Dann muss sie auch niemand in seine Erzählung integrieren.
«Habt Mut zur Lücke!», witzeln wir und lachen gemeinsam.
Doch es bleibt das bange Gefühl, dass wir damit den Teufel gerufen haben könnten. So gesehen ist nämlich alles erlaubt, solange es der Andere nicht erfährt. Wir bleiben stehen, schauen uns tief in die Augen… Können wir einander wirklich vertrauen?
Hand aufs Herz: Wir haben keine andere Wahl. So war es, so ist es und so wird es immer bleiben.