Held:innen, die Kolumnen-Serie von Felix Benesch im Frida-Magazin

Held:innen, die Kolumnen-Serie von Felix Benesch im Frida-Magazin

Warum wir Geschichten brauchen

Erzählen macht stark

Der Theaterregisseur und Drehbuchautor Felix Benesch untersucht in seiner Serie «Held:innen» die Wechselwirkung zwischen Erzählung, Narrativ und Wirklichkeit. In der neunten Folge geht es um Mario, den nicht gerade sympathischen Bankräuber aus Berlin. Seine Geschichte zeigt, dass nur das Erzählen uns rettet.

Von Felix Benesch

Leipzig, 15.03.2023

7 min

«Es gibt keinen anderen Zugang zu unseren Gefühlen als Narrative.» So radikal formuliert es der Berliner Kinder- und Jugendpsychiater Jakob Hein in einem lesenswerten Interview mit der «Zeit» und erzählt aus seiner Berufspraxis: Mit Kindern, die unter diffusen Ängsten leiden, entwickelt er «Angstmonster».

Sie erschaffen diese Wesen, die ihre Ängste repräsentieren, im Gespräch miteinander. Sie entstehen nur in ihren Gedanken. Dazu erfinden sie einen passenden Superhelden, der ihr eigenes, starkes, handelndes Ich repräsentiert und gegen die Monster antritt.

So wird aus den namenlosen Ängsten dieser Kinder eine Erzählung. Sie lernen, an ihre Ängste ranzukommen und mit ihnen umzugehen. Erzählen macht stark.

Als Drehbuchautor möchte ich ergänzen: Stellt es euch als Film vor, in dem ihr die Held:innen seid. Filme sind Erzählungen, die eine Handlung mit konkreten Bildern, Szenen, Rhythmus, Klängen anreichern. Filme sind bigger than life. Als Filmheld:innen sind wir erst recht stark. Wir sind grossartig!

«Wer die Waffe hält, der hat das Sagen»

Es ist mehr als 10 Jahre her, da rief mich ein junger Mann an, ich nenne ihn Mario, in Wirklichkeit hiess er anders. Er wolle mich treffen, ich sei doch Drehbuchautor. Was er erlebt habe, sei ein Film. Na klar.

Ein paar Tage später treffen wir uns in einem Berliner Gartenlokal. Verunsichert und in sich versunken sitzt er mir gegenüber, ein junger Typ Anfang 20, dunkelblond, verhangener Blick aus blauen Augen, leise Stimme. Seine Körpersprache passt überhaupt nicht zu dem, was er mir erzählt: Raubüberfälle habe er verübt, nicht nur ein paar, viele!

Spielcasinos, Tankstellen, Supermärkte, richtig filmreif, mit Faustfeuerwaffen und Pumpgun. Er war sein eigener Boss. Er hat seine Ziele ausgekundschaftet, sich Komplizen gesucht, sie angeheuert und ihnen gesagt, was sie wann und wo zu tun hatten.

Sogar ein illegales Pokerturnier habe er überfallen, erzählt er, mit am Tisch sassen namhafte Grössen der Berliner Unterwelt. Wenn die Geschichte stimmte, war Mario da grade mal 18 Jahre alt. Er hatte keine Skrupel, die Stärksten und Gefährlichsten in dieser Welt eiskalt herauszufordern. «Wer die Waffe hält, der hat das Sagen. Du darfst nur nicht zweifeln. Keine Sekunde. Du musst es durchziehen. Schnell. Entschlossen. Ohne zu zögern.»

Ich mustere Mario. Soll ich ihm das wirklich glauben? War dieser schlaffe, antriebslose Junge zu sowas fähig?

Warum erzählt er mir das alles?

In Marios Erzählung schien alles möglich. Bis es eines Morgens um halb sieben bei ihm klingelte. Neben ihm schlief «das schönste Mädchen Berlins». Verschlafen kroch er aus dem Bett, schaute durch den Spion, sah einen Maler vor der Tür stehen. Um diese Zeit? Was soll das? Er öffnete, obschon er sich nicht mal eine Unterhose übergezogen hatte.

Im gleichen Augenblick flog er gegen die Wand, klatschte auf den Boden, das Knie in seinem Rücken schmerzte höllisch. Ein Sondereinsatzkommando der Berliner Polizei stürmte in seine Wohnung und riss auch das nackte Mädchen aus dem Bett.

Zum ersten Mal in seinem Leben zeigte man ihm, wo seine Grenzen sind.

Ich weiss nicht, wie Mario auf mich kam. Die ganze Situation ist schräg, sie hat auch etwas Ungutes. Was ist mit diesem jungen Mann los? Warum erzählt er mir das alles? Erst nach einigen Treffen wird mir klar, was sein Problem ist.

In seiner Gerichtsakte steht nämlich, dass Mario nur für einen einzigen seiner zahlreichen Überfälle verurteilt werden konnte. Er, der sich für einen der Allerhärtesten hält, hat sich als kleiner Mitläufer ausgegeben, der in schlechte Gesellschaft geraten war.

Er kommt jetzt zwar in Genuss einer Bewährungsstrafe, muss aber damit klarkommen, dass er kein grossartiger Typ mehr ist, sondern nur ein Kleinkrimineller. Einer, der die Chance kriegt, doch noch ein normaler, anständiger Junge zu werden. Das ist weit weg von seinem Selbstverständnis.

Ausgerechnet mir vertraut er sich nun an und macht mich zum Mitwisser.

Er ist mir nicht sympathisch, wirklich nicht, dennoch machen wir weiter. Über Mario erhalte ich Einblick in eine Parallelwelt, von der man zwar täglich in den Zeitungen liest, die man aber nur sieht, wenn man sie sehen will. Oder wenn man Pech hat.

«Nach drei Minuten hörst du die Polizeisirenen»

Wir fahren gemeinsam durch die Stadt, besuchen Tatorte, laufen Fluchtwege ab. Er spielt mir einen Hip-Hop-Song vor, den er und seine Helfer immer gleichzeitig über Earphones hörten, wenn sie einen Überfall machten: «Beim beat-drop rannten wir rein, am Ende der zweiten Hook mussten wir wieder raus. «run, nigga, run!»

Insgesamt dauerte das  weniger als zwei Minuten. «Nach drei Minuten hörst du die Polizeisirenen. Da waren wir immer schon längst verschwunden.» Ich seh die Szene vor mir. Das ist fett. So hat das meines Wissens noch keiner inszeniert.

Er stellt mich seinen Kumpels vor und nimmt mich mit zu sich nach Hause. Ich lerne seine resolute Mutter kennen und den von ihr getrennt lebenden Vater, der von Goethe und Schiller schwärmt und ergriffen schildert, was für ein harter Schlag es für ihn war, als er vom Doppelleben seines geliebten Sohnes erfahren musste.

Später klärt Mario mich darüber auf, dass Papa keine Skrupel hatte, die Reste der Beute zu verwahren, als der Sohn in Untersuchungshaft sass. Viel Geld muss das gewesen sein, denn damit wurden die beiden nagelneuen, schwarzen Mercedes-Coupés gekauft, die vor der Türe stehen. Offiziell gehören sie den Eltern, aber Mario fährt eines der beiden.

Hauptsache die Story ist gut

Ich schreibe unsere Gespräche mit, drucke den Text aus, er nimmt ihn mit, liest, ergänzt, korrigiert (und zeigt ihn wohl vor allem seinen Kumpels). Mit jedem Treffen wächst er, seine Körperspannung kehrt zurück, sein Rücken wird grade, sein Blick offen. Erst jetzt fällt mir auf, wie muskulös er eigentlich ist.

Ich stelle viele kritische Fragen, forsche nach seinen Motiven, den Hintergründen, seinen Gefühlen. Ich werde so was wie sein Beichtvater.

«Hattest du Gewissensbisse?» Mario versteht die Frage nicht.

«Wenn du eine Verkäuferin zusammenschlägst, ist sie doch für den Rest ihres Lebens traumatisiert. Hast du nie darüber nachgedacht, was du so jemandem antust?»

Nach einer langen Denkpause antwortet er im vollen Ernst: «Wer etwas erreichen will, muss Opfer bringen.»

Ich kann wirklich nicht behaupten, dass wir uns gut verstanden hätten.

Ich erinnere mich, wie ich Frank, einem befreundeten Psychologen, mal von Mario erzählt habe. Er fragte mich: «Warum machst du das überhaupt?»

«Na! Weil mich die Story interessiert!»

«Was ist, wenn die Story überhaupt nicht stimmt?»

«Egal. Hauptsache, sie ist gut!»

Frank lächelte: Mit seinen Patienten mache er eigentlich nichts anderes. Er helfe ihnen dabei, ihr Leben in einen Erzähl-Zusammenhang zu bringen, der für sie selber stimmt. «Ob es objektiv wahr ist, spielt keine Rolle.»

Nur die Sprache schafft die Verbindung

Irgendwann werden unsere Treffen seltener, Marios Interesse an mir erlahmt. Die Sache verläuft im Sand. Monate später steht er plötzlich wieder vor meiner Tür und bedankt sich bei mir. Ich hätte ihm sehr geholfen. Seit unseren Meetings gehe es ihm viel besser, alle sagen das, seine Eltern, seine Freunde. Er stehe jetzt mit beiden Füssen im Leben und habe sogar eingesehen, dass das, was er getan hat, nicht richtig war.

Er dachte wirklich, er wäre einer von den Guten gewesen, ein Berliner Robin Hood.

Dann zeigt er mir sein neues Auto. Diesmal ist es ein Audi, tiefer gelegt, schnittig, getunt – kein Schnäppchen. Er arbeite jetzt als Altenpfleger, erzählt er mir. Sein Geschäftsmodell: Er mietet günstige Altbauwohnungen an (damals gab es das noch) und beschäftigt billige Pflegerinnen aus Polen. Je mehr Betten pro Wohnung und je höher die Pflegestufe, desto mehr schaut für ihn raus.

Er ist geblieben, was er war: ein skrupelloser Räuber ohne jedes Mitgefühl. Er weiss jetzt aber, wie er es auf legale Weise betreiben kann.

Der Kinder- und Jugendpsychiater Jakob Hein spricht darüber, dass nur die Sprache eine Verbindung schaffen kann zwischen uns, unserer Vergangenheit und den Gefühlen, die wir damals hatten.

«Wenn wir getriggert werden, wenn wir plötzlich grundlos traurig werden, was macht dann unser Kopf? Er will wissen, was los ist.»
Und dann zitiert er dieses wunderbare, kleine Gedicht von Kurt Vonnegut:

Vogel muss fliegen. Tiger muss jagen.

Mensch muss «Warum? Warum nur?» sich fragen.

Tiger kann schlafen. Vogel kann landen.

Mensch kann sich sagen, er hat es verstanden.