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Das «Rigiied» «Vo Luzärn gäge Wäggis zue» in einer Version aus dem Jahr 2000.

Musikgeschichte

Volksmusik als Wissenschaft

Die Geschichte der Volksmusik ist bewegt, und sie ist auch ein vorzüglicher Spiegel unserer Gesellschaft, demnach auch ein gutes Sujet für Volkskunde und Wissenschaft. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts sind zum so genannten «Ländler» Bücher entstanden, die mittlerweile ein paar Laufmeter Bibliothekregal füllen. Der Bündner Köbi Gantenbein ist als leidenschaftlicher Musiker in der zeitgenössischen Volksmusik zu Hause. Für FRIDA verpackt er seine Passion regelmässig in Kolumnen.

Von Köbi Gantenbein

Fläsch, 10.11.2022

5 min

«Vo Luzärn uf Wäggis zue» – wer kennt das Rigilied nicht? 

 

Wer kann es nicht singen, zumindest trällern? Es gilt als meistgesungenes aller Lieder in der Schweiz, hunderte Arrangements vom Kinderchor 

 

 

bis Vico Torriani, der es – solariumgebräunt – in einer Juxversion zum Besten gegeben hat.  

 

 

Von Liederwalzen zirpt es ebenso, wie es im Stil von Johann Sebastian Bach in die Kirchen und in einer beschwingten Version ins Jazzlokal gefunden hat.

 

 

Und auch die alternde Boygroup «I quattro» liess es sich nicht nehmen, mit einer bombastischen Version des Gassenhauers zu punkten.

 

 

Meine Lieblingsversion aber trug Kliby bei, der 1984 seinen Esel Caroline «Holie guggu» im Refrain bauchredend so hingekriegt hat wie keine Grossjodlerin. Getoppt wird er nur von der schrägen Version aus einem elektronischen Instrumentarium, das Michel Saugy kürzlich arrangiert hat.

 

Woher kam das Lied, warum der durchschlagende, weltweite Erfolg? Dazu braucht es Theorie, Wissenschaft. Sie ist in der Volksmusik nicht so üblich wie in der klassischen Musik oder im Jazz. Das «Rigilied» setzte auch hier einen Standard. Schon 1908 widmete ihm Alfred Leonz Gassmann eine Monografie. Lange vergriffen hat sie nun der Musiker John Wolf Brennan wieder aufgelegt, erweitert um einen Essay der Liedforscherin und Ethnologin Brigitte Bachmann-Geiger. 

Brennan ist übrigens auch ein Rigitäter; er hat das Lied für das Glockenspiel beim Swiss Center in London eingerichtet. Das Büchlein legt schön und klug einen Befund dar, der für Volksmusik typisch ist: So ganz klar ist ein Urheber nie und die Freiheit, mit der seine Interpreten mit einem Urtext umgehen, ist für die Volksmusik und -kultur prägend.

Und so wechselt auch die Wissenschaft der Volksmusik vom Original zur Interpretation, vom Text zum Subtext. 

Exemplarisch geht der Liedersammler Gassmann vom Urtext aus, den Johann Lüthi zusammen mit seinem Trinkkumpan Franz Hammer gedichtet hat, nachdem sie am Eidgenössischen Schützenfest in Luzern auf einem Umweg über Weggis und die Rigi den Heimweg nach Solothurn gesucht hatten. Dann folgt ein heiteres Lesen und Staunen – das Lied ist nicht nur ausgesprochen populär, es hatte schon vor 120 Jahren über dreissig Verwandlungen gestiftet, die immer ein Stücklein Zeitgeist spiegeln. So gibt es biedere Versionen für den Schulgebrauch und schlüpfrige für den Männerchor, die freilich heute in der Woke-Kultur nicht mehr aufgeführt werden dürfen. 

Ein Platz am Katzentisch

Gassmanns Monografie ist eingebettet in Volkskunde, Musiktheorie und Geografie. Sie ist einer der ersten Anläufe, der Volksmusik einen Platz am Katzentisch des musiktheoretischen Diskurses zu geben. Denn auch für sie gilt – der Mensch hört, was er weiss. Volksmusik hatte mit der Akademie freilich nicht viel am Hut und diese interessierte sich nicht sonderlich für das Örgelen und Jodeln. Zögerlich entstanden so ihre Institutionen des Diskurses – eine flotte Subetä ist alleweil unterhaltsamer als ein Seminar. Die «Gesellschaft für Volksmusik» hat vor zwei Jahren ihr Lichtlein ausgelöscht. Darum erscheint auch ihre Zeitschrift nicht mehr, in der die Ländlermusik wissenschaftlich beleuchtet worden ist. Ein Hort ist das Volksliedarchiv an der Universität Basel.

Seit 2006 gibt es das «Haus der Volksmusik» in Altdorf, wo Markus Brülisauer und die Seinen sammeln, studieren, forschen und Nachlässe von Musikanten pflegen. Und bedeutend war gewiss der Schritt der Hochschule Luzern, wo Volksmusik studiert werden kann wie Jazz oder Klassik – die Jodlerin Nadja Räss leitet den vor gut einem Dutzend Jahren eingerichteten Studiengang

Freilich steht dort die Lehre für die Virtuosen an Örgeli, Klarinett und Hackbrett an erster Stelle, aber es wird auch geforscht über die Geschichte und Zuversicht der Volksmusik.   

Geschichte, Theorie und wissenschaftliche Erörterung von Volksmusik kann durchaus spannend und relevant sein. In Gassmanns Büchlein zum Rigilied lernen wir, wie Volksmusik und Tourismus zusammenspannen; wie also ein Lied ein Spiegel der Gesellschaft ist, der Menschen, die hinter den Tönen stehen und die mit ihnen vergnügt sind oder waren. 

Dazu sind seit der Mitte des 19. Jahrhunderts Bücher entstanden, die ein paar Laufemeter Bibliothekregal mittlerweile füllen. Gerne zum Beispiel lese ich «Ländlerstadt Zürich», eine gut erzählte Sozialgeschichte der Volksmusik von Madlaina Janett und Dorothe Zimmermann. 

Mit Mythen aufräumen

Ich lernte, wie Mazurka, Ländler & Co in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als proletarische Musik in Zürich produziert worden und wie deren Stars gemacht worden sind. Und für Leute, die weder Örgeli noch Klarinett spielen, ist es lehrreich und unterhaltsam, «Schweizer Volksmusik» von Dieter Ringli zu lesen.

Den Musikanten tut es durchaus gut, sich hier mit Wissen über ihr Woher, Warum und Wohnin zu bereichern.

Denn der Wissenschafter und Musiker Ringli räumt mit vielen Mythen auf und führt kenntnisreich zum Beispiel die seltsamen Verwicklungen von Mazurka & Co mit den Heldentenören der heilen Schweiz und ihren «Purazmorgä» vor – Vereinnahmungen, die es meiner Generation lange Jahre schwer gemacht haben, das Wort «Ländler» in den Mund zu nehmen, geschweige denn diese Musik zu spielen. Erschienen übrigens ist das Buch im Mülirad-Verlag, auch er eine nötige Institution im zart wachsenden Bereich «Theorie der Volksmusik». 

Schliesslich ein Standard der Ländlerwissenschaft: 2019 gab Brigitte Geiser-Bachmann ihre «Geschichte der Schweizer Volksmusik» heraus. 

Die Essayistin, die Brennan für seinen Reprint von Leonz Gassmanns Rigibuch gewonnen hat, legt da ihr Wissen, das sie in einem langen Forscherinnenleben zusammengetragen hat aus – von den Rasseln 1000 Jahre vor Christus bis zur «Neuen Volksmusik» der letzten Jahrzehnte.