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Die alte Fabrik am Melser Stoffelberg bietet nun Platz für rund 600 Bewohner:innen.

Architektur

Der Garten ist entscheidend

Aus der alten Stofffabrik in Mels ist Wohnraum für bis zu 600 Menschen geworden. Warum die Umnutzung hier so gut gelungen ist, wie das Klima geschont und die historische Substanz gekonnt verdichtet wurde, beschreibt unser Architekturkritiker.

Von Köbi Gantenbein

Mels, 10.11.2023

6 min

Über dem Dorf Mels ist Stoffelberg und schaut hinüber auf das Schloss Sargans. Über viele Jahrzehnte war hier die Fabrik des Textilherren Stoffel mit der Öffnerei, Spinnerei, Weberei, Färberei in grossen, langen Häusern, mit zahlreichen Nebenbauten, der Fabrikantenvilla und auch einem eigenen Kraftwerk – eine Kleinstadt der Arbeit, in der bis zu 600 Arbeiterinnen und Arbeiter arbeiteten.

In den Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts fiel sie brach, die Arbeitsplätze verschwanden; nun ist aus dem nicht mehr gebrauchten Stoffelberg ein grosses Ensemble mit Eigentums- und Mietwohnungen und Geschäftsräumen geworden. Aus drei Gründen ist diese Überbauung bemerkenswert.

Erstens: Brauchen, was da ist

Wir sind in der Klimanot. Viele von uns tun trotzdem die Augen zu und den Fuss aufs Gaspedal. Ich bin zwar sicher, dass wir Sünderinnen und Sünder im Alltag durch besseres Leben etwas beitragen werden, damit die Klimanot nicht gar so heftig werde. Die wirksamen Hebel aber hocken in den Strukturen und Systemen. So im Bau Schweiz. Gut 40 Prozent der Klimalasten trägt er.

Hier setzten die Architekten des Melser Stoffelberges, Michael Meier und Marius Hug, mit all den Bauleuten an:

«Brich nur ab, was nötig ist und richte Dich ein, in dem, was Du hast.»

Auch wenn ich die Tonnagen nicht kenne – es ist imposant, wie viele tausende Tonnen Material auf dem Stoffelberg gespart worden sind, indem die grundlegenden Strukturen belassen wurden, die die Riesenhäuser tragen. Andersherum – jede Sekunde wird in der Schweiz eine halbe Tonne Bau abgebrochen. Drei Viertel aller Abfälle stiftet allein die Bauwirtschaft. Den weitaus grössten Teil der grauen Energie gehen darum auf ihr Konto.

Dieses grosse Vorhaben von Mels hält dagegen, weil hier nicht im Kleinklein, sondern im grossen Massstab die Bauherren und ihre Architekten und Ingenieure zeigen: Struktursparen geht! Freilich wollen wir in die Vernunftrechnung auch aufnehmen, dass 50 000 Tonnen Material neu dazu gebaut worden ist, damit der Stoffelberg all den zeitgenössischen Komforterwartungen genügen kann. So sind zu den in die zwei alten Fabrikgebäude eingebauten 115 Wohnungen, zwei grosse Volumen für 135 neue Wohnungen entstanden.

Zweitens: Die Geschichte

Wir aber sind Weltmeister geworden im Ex und Hopp nicht nur von Material, sondern auch von mit ihm verbundener Geschichte. Doch die Spuren der Geschichte sind gute Geländer, um uns in der komplizierten Welt zurecht zu finden. Es ist schön, mit welchem Aufwand im Grossen, aber auch in vielen Details der Stoffelberg die Spuren des Ortes mitnimmt in seine neue Zeit: Alte Stützen aus Gusseisen, raumhohe Fensterlöcher, Materialspuren und die grossen Aussen- und Zwischenräume.

Historische Aufnahme der Fabrik am Stoffelberg. im FRIDA Magazin

Historische Aufnahme der Fabrik am Stoffelberg.

Bild: zvg

Dennoch – durch den geputzten Stoffelberg spazierend bin ich ambivalent zu meinem Lob der alten Mauern – hier war zwar Arbeit für viele in einer mausarmen Gegend im 19. Jahrhundert, aber es war auch harte Ausbeutung der Arbeiterinnen und Arbeiter. Und so möge den nachgeborenen Stofflerinnen und Stoffels ab und zu im Traum die ausgemergelte Maria Kühne aus dem Mesmerhölzli erscheinen, der der Baumwollstaub die Lunge zerfressen hat und der sechzehn Jahre alte Toni Kalberer aus Schurs, den die Spinnmaschine zu Boden geworfen hat, so dass er nur noch einen Arm und einen toten Fuss hat.

Als 1874 zum ersten Mal die Fabrikglocke hier 250 Arbeiterinnen und Arbeiter zusammenrief, gab es weder eine obligatorische Kranken- und Unfallversicherung noch eine Gewerkschaft, noch einen Gesamtarbeitsvertrag und Jahre später erst bot das erste Schweizer Fabrikgesetz den Textilherren erstmals etwas Paroli.

Darum, die, die heute in den geschichtstrunkenen, grossartigen Volumen, Raumhöhen, Raumtiefen und Raumfolgen wohnen, sollen denen, die diese Substanz erwirtschaftet haben in der St. Antoniuskapelle eine Kerze anzünden. Diese Kapelle liegt zehn Minuten zu Fuss vom Stoffelberg und ist eine der schönsten des Sarganserlandes, hat hier doch der Kirchenmaler Ferdinand Gehr das Paradies auf die Wand gemalt, in dem Maria Kühne und Toni Kalberer es gut haben mögen.

Drittens: Verdichten mit Garten

Die grosse Transformation von Mels zeigt, wie Verdichten geht. Den ideologischen und gesetzlichen Grund dafür legte die Schweiz 2013 mit der Zustimmung zur ersten Etappe des revidierten Raumplanungsgesetzes. Es will dem Wachstum und der Zersiedelung dank Einzonen immer neuer Wiesen einen Riegel schieben.

Ich habe aber ab und zu das Gefühl, dass alle die 2013 «Ja» gestimmt haben, rebellieren, wenn in ihrer Nachbarschaft verdichtet wird.

Ich verstehe viele Skeptiker, denn es geschieht in der Verdichtung der Siedlungen viel Unsinn, pure Geldgier und architektische Blödheit, wenn Wohnung um Wohnung auf Zwischenräume gewürgt wird.

innenhof

Der neue Innenhof der umgebauten Fabrik.

Gewiss, die Architekten des Stoffelbergs hatten andere Voraussetzungen als ein Investor, der sich mit einer Baulücke plagt. Aber sie haben ihre Spielräume genutzt. Sie zeigen: der Garten ist entscheidend, damit Verdichtung gelingt.

Es ist wunderbar, wie die Landschaftsarchitektin Rita Illien über zehn Jahre mit grosser Geste, aber auch mit liebevoller Freude für Blumen, Vögel, Sträucher, Wässerlein, Schmetterlinge, aber auch für Nischen und Böden für die Stoffler und ihre Gäste aus der alten die neue Stoffellandschaft gemacht hat – mit Zwischen-, Hinter- und Vorderräumen.

Und es ist bemerkenswert, wie die Investoren für gemeinschaftliche Aussenräume Geld locker gemacht haben, um zum Beispiel aus einem alten Vorratsbecken für die Energiemaschine der Fabrik ein hoch auf dem Stoffelberg thronendes Schwimmbädli mit Sauna zu ermöglichen, eingelassen in eine neue Landschaft aus Bäumen, Sträuchern und roten Steinmocken, wie sie für Mels charakteristisch sind.

 

Die Sauna mit Pool oberhalb der umgebauten Fabrik.

Überbauung Stoffel, Mels, 2013-2023

Bauherrschaft: Alte Textilfabrik Stoffel AG, Leitender Bauherr: David Trümpler
Architekten: Meier Hug Architekten, Zürich
Landschaftsarchitektur: Müller und Illien, Zürich, Rita Illien
Ingenieur: Conzett Bronzini Partner, Chur
Verfahren: Wettbewerb
Investition: 170 Mio. Franken
Wohnungen: 78 Miet- und 172 Eigentumswohnungen für ca. 600 Leute