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Literatur

Von Identitätskrisen und Avocados: Literturtipps der BuchBasel-Leiterin Marion Regenscheit

Als Leiterin des Literaturfestivals BuchBasel ist Marion Regenscheit professionelle Vielleserin mit einem umfassenden Überblick. Für unser Magazin schreiben sie und ihr Team jeden Monat Leseempfehlungen. Für den Oktober empfiehlt sie die Lektüre von vier Autor:innen, die von ihrer individuellen Familiengeschichte ausgehen und in ihren Büchern aufzeigen, wie politisch das Private ist.

Von Marion Regenscheit

Basel, 12.10.2023

6 min

Liebe Leser:innen

Seit das Festivalprogramm online ist, werde ich oft gefragt, was denn die Highlights an der BuchBasel sind. Diese Frage zu beantworten fällt mir schwer, denn Geschmäcker sind bekanntlich verschieden. Ich bin mir aber sicher, dass alle, die sich für Bücher interessieren, ein individuelles Highlight im Programm finden werden. Denn es ist ein hervorragendes Line-Up mit spannenden Autor:innen, wie zum Beispiel die Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk, Daniel Kehlmann oder der Thriller-König Sebastian Fitzek

In den aktuellen Buchtipps möchte ich die Bücher von Nadia Owusu, Seyda Kurt, Alice Hasters und Ivna Žic empfehlen. So verschieden die Texte und die Themen der Bücher sind, haben sie doch etwas Gemeinsames. Denn die Autor:innen wenden in ihrem Schreiben eine Technik an, die Annie Ernaux als «autosoziobiografische Suchbewegung» bezeichnet. Alle vier Autor:innen gehen von ihrer individuellen Familiengeschichte aus und zeigen in ihren Büchern auf, wie politisch das Private ist, wie historische Ereignisse das Jetzt prägen und wie dringend diese neu erzählt werden müssen.

Nadia Owusu: «Aftershocks»


In «Aftershocks» entwirft Nadia Owusu eine intime Topografie der Erschütterungen und Bruchstellen ihres jungen Lebens. Ihre armenische Mutter kehrt der Familie früh den Rücken. Durch die ständig wechselnden Arbeitsorte ihres ghanaischen Vaters wächst die Ich-Erzählerin zwischen verschiedenen Kontinenten, Sprachen und Identitäten auf.

Für sie ist ihr Zuhause dort, wo ihr Vater ist. Als dieser stirbt, beginnt eine Tour de Force in die Vergangenheit. Wie eine Seismologin untersucht sie persönliche «Erdbeben» und stellt diese in Beziehung zu historischen «Verwerfungslinien», wo sich Reibungen und Traumata aufgebaut haben durch Kriege, Genozide und Kolonialismus.

Nadia Owusu entwirft ein nuanciertes Porträt unserer durch ungleiche Privilegien und Rassismus zerrissenen Welt. Die deutsche Übersetzung von «Aftershocks» ist seit einigen Wochen im Buchhandel erhältlich, wurde aber bisher hier kaum wahrgenommen. Obwohl das Werk von «Time», «Vogue», «The Guardian» und BBC als bestes Buch des Jahres 2021 ausgewählt wurde und zu den Lieblingsbüchern von Barack Obama zählt. 

Hier geht es zur Veranstaltung an der BuchBasel.

 

 

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Nadia Owusu: «Aftershocks»

Alice Hasters: «Identitätskrise»


Das neue Buch von Alice Hasters erscheint erst in zehn Tagen. Ich möchte es hier aber trotzdem gerne empfehlen. Nach ihrer pointierten Rassismuskritik in «Was weisse Menschen nicht über Rassismus hören wollen» (2019) lotet die Journalistin und Autorin nun in ihrem neuen Buch das Potenzial des Zweifelns aus – und attestiert unserer Gesellschaft eine ausgewachsene Identitätskrise.

Systeme, die Sicherheit, Zukunft und Gerechtigkeit versprachen, scheinen zu versagen. Stattdessen gibt es Zweifel und Verunsicherung. Identitätskrisen haben keinen guten Ruf, denn sie sind anstrengend für alle Beteiligten. Doch sie sind notwendig – denn nur so können sich Menschen und Gesellschaften weiterentwickeln. Alice Hasters stellt sich den Ängsten der Gegenwart und bietet einen Ausblick, der zugleich ein persönlicher Einblick ist.

Hier geht es zur Veranstaltung an der BuchBasel.

 

 

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Alice Hasters: «Identitätskrise»

Ivna Žic: «Wahrscheinliche Herkünfte»


Wer bin ich? Wovon bin ich geprägt? Welche Sprache kann das alles ausdrücken? Ausgehend von ihrer eigenen Biografie, denkt die Schriftstellerin, Dramatikerin und Theaterregisseurin Ivna Žic in ihrem neuen Buch über Sprache und Herkunft nach und tastet sich erzählerisch an eine Form heran, die das Vielsprachige sichtbar macht. Sie sucht dabei nach den verschwiegenen Erinnerungen ihrer kroatischen Grosseltern.

Was ist damals in Bleiburg geschehen? Und warum wurde darüber in der Familie noch Jahrzehnte später nicht oder nur in Andeutungen gesprochen? Aus der Perspektive der Nachgeborenen berichtet Ivna Žic von einem historischen Kriegsverbrechen und schreibt gegen eine vereinfachte Lesart von Geschichte und Herkunft an. Am Festival wird die Lesung und das Gespräch von Dorothee Elmiger moderiert und ich bin mir sicher: Das wird eine richtig spannende, vielseitige und schöne Stunde werden!

Hier gehts zur Veranstaltung an der BuchBasel.

 

 

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Ivna Žic: «Wahrscheinliche Herkünfte»

 

 

Und für die Kids:

Taltal Levi: «Bravo Avocado!»


«Du bist wie ein Avocado-Kern – klein, aber voller Magie», dieses Geheimnis erfährt Ellie von ihrem Papa, als sie sich beschwert, weil sie schneller wachsen möchte. Gemeinsam beschwören sie und ihr Papa die Magie herauf. Eine Geschichte über den Zauber in den allerkleinsten Dingen, übers Grosswerden und über Avocados, natürlich… 

Link zur Veranstaltung an der BuchBasel

 

 

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Taltal Levi: «Bravo Avocado!»

 

Marion Regenscheit ist Leiterin des Literaturfestivals BuchBasel und eine chronische Vielleserin. Sie ist ständig von Büchern umgeben, sieht Bücher als ein gesellschaftliches Phänomen, liebt Geschichten und ist fasziniert von Schnittstellen und Interfaces aller Art – selbstverständlich besonders dann, wenn Bücher und ihre Leser:innen involviert sind.