Benjamin von Wyl, Journalist und Schriftsteller. Bild: Roland Schmid.

Benjamin von Wyl, Journalist und Schriftsteller

Bild: Roland Schmid

Literatur und Journalismus

Warum Journalismus heilsam ist

Benjamin von Wyl ist Journalist und Literat. In seinem Buch «Warum Journalismus besser ist als Jesus» beschreibt er virtuos den Unterschied zwischen journalistischer und literarischer Weltsicht. FRIDA veröffentlicht online Auszüge aus dem Essay und gibt den ganzen Text als Buch heraus. Im zweiten Teil erzählt der Autor, wie er nach einer Jugend in einer Freikirche zum Journalismus gefunden hat.

Von Benjamin von Wyl

Basel, 25.04.2022

10 min

 

 

Teil 2: «Es gibt besseres zu tun»

Romane sind warenförmig. Doch literarisch zu schreiben, macht pragmatisch keinen Sinn. Finanziell lohnt es nicht. Egal, wie sehr man Sprache mag: Es gibt Besseres zu tun. Wirksameres oder Bequemeres.

Literatur ist jede Form von nicht-pragmatischen Texten, wurde mir in der ersten Woche des Deutschstudiums beigebracht. Danach haben wir im Proseminar «Weck mich auf» von Samy Deluxe gehört. Seither denke ich bei Literatur an Samy Deluxe. Autor:innen setzen sich mit der Welt auseinander – oder sie tun es nicht. Ob sie es tun, ist ihnen überlassen. Ob es sie antreibt, ist offen. Die Gründe, weshalb Autor:innen schreiben, sind sehr verschieden. Mein literarisches Schreiben fühlt sich oft an wie Selbsttherapie. Das Wort «ich» kommt öfters vor in diesem Text. Öfter als das «Ich» in meinen literarischen Texten vorkommt und definitiv öfter, als es in meinen literarischen Texten mich meint. Das Ich ist der Anfang dieser Weltentdeckung. Erzählen – zumindest alleine am Schreibtisch – geht immer von einem Ich aus.

Eine andere Tätigkeit, bei der das auch Schreiben zentral ist, bedeutet Konfrontation mit allem anderen als sich selbst. Die Perspektive, die man in diesem Beruf gewinnt, ist erfüllend und heilsam für viele. Es geht ums Beschreiben eines Fitzelchens Gegenwart für eine grösstmögliche Öffentlichkeit. Es geht um Journalismus.

Cover des Buchs

Die Universität St. Gallen hat den Schweizer Journalisten und Literaten Benjamin von Wyl eingeladen, drei Poetik-Vorlesungen zu halten. Aus diesem Anlass ist der Essay «Warum Journalismus besser ist als Jesus (und Literatur besser als der Heilige Geist)» entstanden. Von Wyl gelingt darin das Kunststück, einerseits seine Schreibbiografie in eine spannende Erzählung zu giessen. Andererseits schält er virtuos den Unterschied zwischen einer journalistischen Weltsicht und der literarischen Weltdeutung heraus. Er tut dies anhand von konkreten Beispielen, eingehenden, ebenso humorvollen wie tiefschürfenden Passagen.

Der Autor liest am Dienstag, 3. und am Dienstag, 10. Mai jeweils um 18.15 Uhr in der «Hauptpost» in St. Gallen. Der vollständige Text ist ab sofort in unserem Verlag Edition Frida erhältlich.

Journalismus hilft dabei, den Blick gegen aussen zu richten. Auf keine Spiegel, auf die Sache, das Thema, die Welt. Er lehrt zu trennen, zu differenzieren – einerseits weil man sein Thema abgrenzt und dabei auch lernt, nicht alles mit allem zu verbinden. Ganz anders, als es das Feuerwerk meiner Albträume wollte.

Andererseits differenziert man ständig zwischen dem, was man beeinflussen kann und dem, was man nicht beeinflussen kann. Aber obwohl das schon fast wie das «Gelassenheitsgebet» klingt, «Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden», sind es im Journalismus dann doch sehr viele Dinge, die man beeinflussen kann.

Ich war ein sehr gläubiges Kind. Ich glaubte, alle Väter würden mit Autos arbeiten. Ich glaubte der Nachbarin, dass man einen Herzinfarkt bekommt, wenn man das Hallenbadwasser trinkt. Ich glaubte der Kinesiologin, die mir sagte, wenn man den Schnudder durch die Nase hochziehe, klebe er für immer im Gehirn. Ich komme aus einem Haushalt, wo das Kind zur Kinesiologin geht. Ich glaubte richtig an Gott. Bis in die Jugend hinein.

Letztes Jahr habe ich dazu einen Text in der WOZ verfasst, der sehr persönlich eingestiegen ist:

«Das Kind soll am Samstagnachmittag in den Wald, was Sinnvolles tun, unter Gleichaltrigen sein – hiess es nach der Scheidung meiner Eltern. Knotenkunde stand vordergründig gleichgestellt mit Bibellektüre. Doch für die wenigen Prozent der Menschen in der Schweiz, die Freikirchen anhängen, ist die Bibellektüre eben nichts, dem man sich wie der Knotenkunde widmet: 93 Prozent von ihnen sind gläubig, knapp 85 Prozent beten täglich, knapp 68 Prozent besuchen einmal pro Woche eine Messe. Keine andere religiöse Strömung, christlich oder nicht christlich, kam in der Erhebung des Bundesamts für Statistik auf ähnlich hohe Werte. 

Dass während der Tage im Wald ernsthaft darüber diskutiert wird, ob Menschen und Dinosaurier gleichzeitig lebten, konnten sich meine Eltern nicht ausmalen. Die These war stark, weil das Buch Hiob ein Wesen namens Behemoth erwähnt, ein monsterhaftes Nilpferd, und den drachenähnlichen Leviathan. In der Freikirche wurde viel diskutiert; viele Positionen galten als vertretbar, solange man zu spüren glaubte, dass sie von Gott kommen. Die Gegenposition, die bereits den kleinsten Kindern erzählt worden ist, in der Dinosaurierfrage war: Gott hat die Fossilien selbst verscharrt. So habe er die Menschheit mit ihrer Sehnsucht nach Erklärungen und begrenzter Ratio geprüft.

Es sind harmlose Splitter eines magischen Denkens, das mich auch über 15 Jahre nach der Loslösung von Freikirchen und Christentum noch beschäftigt. Rückblickend empfinde ich das freikirchliche Weltbild als eine Petrischale des Irrationalen: Das Sprechen in «Zungen», die Ekstase, die nahe Apokalypse – all das teilt fundamentalistisches Christentum mit okkulten Gruppen. In fast allen freikirchlichen Elternhäusern ist schon Harry Potter verboten. Doch während das Lesen über Slytherins, die in Schlangensprache reden, verboten ist, bewundert man diejenigen, die während des Gottesdienstes plötzlich in irrem Kauderwelsch brabbeln. Harry Potter ist teuflische Propaganda; in der Kirche kommt das Kauderwelsch vom Heiligen Geist.

Was Freikirchler:innen von Esoteriker:innen unterscheidet, für sie das Entscheidende: das Gottvertrauen. Das Vertrauen, dass ein allmächtiger Vater-Gott alles regelt. Dass man mit dem ständig anwesenden Freund-Jesus sprechen und intuitiv auf den Heiligen Geist vertrauen kann. In Krisen vermisse ich bis heute die Sicherheit, die mir der Glaube als Jugendlicher gegeben hat.»

Langsame Erholung von der Freikirchenbleiche

Verglichen mit den Geschichten all der Ex-Evangelikalen, die ich im Artikel erzählen durfte, war meine Freikirchenerfahrung harmlos. Doch selbst ich nage daran bis heute und bin schockiert, wie viele Fetzen von Religion und Glauben in meinem literarischen Schreiben zutage treten. Dabei ist mir auch aufgefallen, dass die destruktive Haltung, mit der ich nach der Freikirche durch die Jugend gehumpelt bin, wohl ebenfalls mit der Freikirchenbleiche zusammengehängt ist. Doch irgendwann spürte ich die Abwesenheit von diesem Freund-Jesus nicht mehr wie ein Vakuum – mehr wie etwas, dem ich bewusst begegnen kann.

Meine Freikirchenerfahrung war ohnehin mit Sollbruchstellen versehen. So war es ein Leiter aus der evangelikalen Jungschar, der mir die ersten CDs von Punkbands geschenkt hat, die anti waren. Antistaat, Antikapitalismus, antiklerikal. Wenn dann noch Freund-Jesus wegbleibt, bleibt mit Texten wie «besoffen in der Gosse liegen, nichts mehr auf die Reihe kriegen» eben vor allem besoffen in der Gosse liegen und nichts mehr auf die Reihe kriegen. In nüchternen Momenten bleibt von der Loslösung auch ein Hang zum kritischen Nachfragen und Erfahrungswissen, dass Emanzipation möglich ist. Lange habe ich viele Probleme, die ich mit 15, 16 hatte, nicht auf den verlorenen Glauben bezogen. Die Verbindungslinien spannten sich im Schreiben von Literatur. Beispielsweise, wenn ich über gebrochene Versprechen der Leistungsgesellschaft schreibe, und sich das als Assoziationsraum nah anfühlt am gebrochenen Versprechen «Freund-Jesus». Oder wenn ich schildere, wie meinen Figuren die Sehnsucht nach dem Religiösen aufstösst, wie sie sich konstant in Ritualen versuchen.

Während das alles im Schreiben selbst, im in den Spiegel schauen, aufgeschwemmt worden ist, hat mein Leben schon länger wieder Sinn gemacht. Ich habe eine Aufgabe gefunden, die sich nicht ausläuft und ihre Versprechen einhält. Ich weiss von einigen Ex-Evangelikalen, die sich von der Erlösung entfernten und dann im Journalismus Erfüllung gefunden haben.

Benjamin von Wyl

geboren 1990, ist Journalist und Autor. Freier Reporter mit Fixum bei der Wochenzeitung «WOZ», regelmässige Arbeiten unter anderem für das öffentlich-rechtliche «Swissinfo» und die «Medienwoche». 2017 ist sein Debütroman «Land ganz nah» bei Lectorbooks erschienen. Die Fachstelle Kultur des Kantons Zürich prämierte das Buch 2018 mit einem Anerkennungsbeitrag. Die Arbeit an seinem zweiten Roman «Hyäne. Eine Erlösungsfantasie» (Lectorbooks, September 2020) wurde durch einen Werkbeitrag des Fachausschuss Literatur Beider Basel gefördert. 2021 wurde die «Hyäne» mit einem Schweizer Literaturpreis des Bundesamts für Kultur ausgezeichnet. Kurzprosa im Literaturmagazin «Das Narr» und in diversen Anthologien, etwa «Menschenrechte. Weiterschreiben» (Salis Verlag).

Der journalistische Blick bewegt sich entlang des Überprüfbaren. Des nachweislich Relevanten. Anstelle eines magischen Denkens, das dazu führt, dass die Welt immer fremd wirkt, tritt ein Denken, in dem man immer Teil der Welt ist. Ein Denken, in dem es okay ist, dass Sachen nicht zusammenpassen. Und ein Denken, in dem man etwas tun kann. Etwas tun. Im Journalismus muss man nicht mal an eine Zukunft glauben – wie es Politiker:innen müssen – sondern verschreibt sich dem Jetzt, dem, was jetzt ansteht.

Ein journalistischer Text strebt nicht gegen unendlich. Ein Artikel bildet immer nur einen Stand ab. Journalismus drängt immer. Weil Beiträge meist eine Deadline haben. Weil Texte oft ein Ablaufdatum haben. Doch Journalismus drängt auch, weil Informationen für die Öffentlichkeit immer einen Wert haben. Niemand kann Orientierung den Wert absprechen. Natürlich gibt es kleine, persönliche Geschichten, die für das grosse Ganze sprechen und tendenziell zeitlos sind. Doch wenn Journalist:innen nur nach diesen Ausschau halten, vielleicht, weil sie «etwas allgemein Menschliches» erzählen wollen, schrammen sie an ihrer eigentlichen Aufgabe vorbei.

Die Welt als Collage

Journalist:innen sieht man in der Öffentlichkeit in ihren absoluten Rampensau-Momenten jeweils dann, wenn sie die entscheidende Frage stellen. Eine Frage, auf die ihr Tag hinzielt. Doch jene, die mit geschliffenen Analysen aufwarten, bilden sich gar nicht so schnell eine Meinung. Und viele der besten Reporter:innen machen kaum je vollständige Sätze, wenn sie Fragen stellen. Viele Journalist:innen sind – wenn sie eben keinen Auftrag haben, keine Pflicht, dass ein Artikel geschrieben, ein Beitrag gesendet wird – eher introvertiert. Die Aufgabe, die ihnen der Beruf vermittelt, entlastet sie. Sie ist Basis, sich Zugang zur Welt zu erarbeiten.

Ihr Beruf, ihre berufliche Perspektive, ermöglichen es, sich an einem Unwohlsein gegenüber der Welt abzuarbeiten. Und die Welt erscheint im Journalismus in so kleinen Collagenstücken, dass es kaum je langweilig wird, und man immer wieder neu ansetzen kann. Niemand muss ewig lange in einen Spiegel schauen, ja, wer zu sehr an einem innerlichen Spiegel festhängt, läuft in Gefahr, die offene Perspektive zu verlieren. Der offene Blick macht Journalismus aus. Der Blick nach aussen hilft. In eine Beiz zu sitzen und den Leuten zu lauschen, klobige Gespräche, hochtrabende Gespräche – egal. In beiden kann man aufgehen, Codes analysieren, zu verstehen versuchen, was die Menschen antreibt, was ihnen wichtig ist. Verstehen, was sie zu verstehen glauben. Verstehen, was sie verstehen. Verstehen, was sie nicht verstehen. Ein toller Beruf (mit schlechten Arbeitsbedingungen).

Den ganzen Text gibt es hier