Benjamin von Wyl, Journalist und Schriftsteller. Bild: Roland Schmid.

Benjamin von Wyl, Journalist und Schriftsteller

Bild: Roland Schmid

Literatur und Journalismus

Warum Journalismus besser ist als Jesus

Benjamin von Wyl ist Journalist und Literat. In seinem Buch «Warum Journalismus besser ist als Jesus» beschreibt er virtuos den Unterschied zwischen journalistischer und literarischer Weltsicht. FRIDA veröffentlicht online Auszüge aus dem Essay und gibt den ganzen Text als Buch heraus.

Von Benjamin von Wyl

Basel, 21.04.2022

11 min

 

 

Teil 1: «Es ist so einfach»

Schreibblockaden sind ein Klischee, genauso wie Blockaden beim Schreiben übers Schreiben. Am 24. Juni 2021 habe ich mich hingesetzt, um diese Vorlesung zu schreiben. Bewusst früh genug. Wenige Tage davor habe ich das erste wild lebende Wildschwein meines Lebens gesehen; es dauerte Wochen bis zum zweiten Wildschwein. Denn es hat gestürmt. Meine Schreibbedingungen wären ideal gewesen: Im Regen, in einem Atelier über dem Lago Maggiore – Aussichten und wenig Alternativen. Doch nach einem Halbtag freudlosem Thesentippen, guckte ich die Brissago-Inseln einmal zu oft an. Vor dem Regen war ich zweimal auf der grösseren, der mit dem botanischen Garten. An deren Küsten wachsen sogar Sumpf­zypressen, wie Stelzen ragen deren Atemwurzeln aus dem Wasser. Stelzen, Inseln, die Idee, dass in der Tiefe des Lago Maggiore, in der Tiefe aller Meere alles anders sein könnte, als wir es uns ausmalen.

Vorbei war es mit dem Thesenentwerfen ich folgte der Idee in eine Erzählung, in ein Märchen, entdeckte, was zu ihr passt, was nicht, wie sie wirken könnte. Am 24. Juli 2021 stand von der Vorlesung noch immer nichts. In Westdeutschland führte der Dauerregen zu Hochwasser, ich sass in einer hitzigen Dachwohnung in Ostdeutschland. Und tippte, machte mir Gedanken, ab drei Uhr nachmittags half in diesen Tagen nichts mehr: Alles drehte. Doch abends beim Einschlafen hab ich mich aufs Weiterschreiben gefreut. Die erste Idee meines Maggiore-Märchens hatte sich auf
180 000 Zeichen ausgedehnt. Es vergehen Monate, bis ich auch für diese Vorlesung solchen Antrieb entdecke. Schreiben, schreibend, geschrieben.

Cover des Buchs

Die Universität St. Gallen hat den Schweizer Journalisten und Literaten Benjamin von Wyl eingeladen, drei Poetik-Vorlesungen zu halten. Aus diesem Anlass ist der Essay «Warum Journalismus besser ist als Jesus (und Literatur besser als der Heilige Geist)» entstanden. Von Wyl gelingt darin das Kunststück, einerseits seine Schreibbiografie in eine spannende Erzählung zu giessen. Andererseits schält er virtuos den Unterschied zwischen einer journalistischen Weltsicht und der literarischen Weltdeutung heraus. Er tut dies anhand von konkreten Beispielen, eingehenden, ebenso humorvollen wie tiefschürfenden Passagen.

Der Autor liest am Dienstag, 26. April. Dienstag, 3. und am Dienstag, 10. Mai jeweils um 18.15 Uhr in der «Hauptpost» in St. Gallen. Der vollständige Text ist ab sofort in unserem Verlag Edition Frida erhältlich.

Für diese Vorlesung habe ich so lange danach gesucht, weil man zum Schreiben übers Schreiben alles und nichts sagen kann. Weil es sich so abseitig anfühlt wie das Schreiben eines Märchens, einer «Story» über einen schreibenden Menschen, einen Schreibmenschen – und man sich gleichzeitig immer wieder selbst Rechenschaft ablegen muss: Stimmt das? Erzähle ich wirklich von
meinem Schreiben? Als Journalist bin ich es mir gewohnt, Menschen, Entwicklungen, auch mich selbst, zu beobachten. Das Schreiben von Literatur und das Schreiben als Journalist sind Gegensätze – und trotzdem haben sie beide gemein, dass ich wohl nie so wenig Beobachter bin wie im Schreiben. Darum dauert es so lange.

Die Romane, die ich schreibe, streben gegen Chaos. Ich versuche dabei auszustellen, was nicht zusammenpasst, wo Sollbruchstellen sind, wo die Ebenen aufeinanderklatschen. In «Land ganz nah» liegt die Schweiz in Trümmern, ich habe dazu Puzzleteile in ihrem Selbstbild neu zusammengesetzt. In der «Hyäne» ist die Menschheit überwunden, nachdem sie allen zu schnell geworden ist, wurde sie nochmals beschleunigt – bevor es dann aufhören darf. In «In einer einzigen Welt» fasst ein Pilz den Plan, alle Organismen zu verbinden.

Eigentlich ist Schreiben simpel. Man stellt Musik ein. Etwas, das treibt. Ich verdanke an dieser Stelle: The National, Yanka Djagileva, Molchat Doma, Odd Beholder, One Sentence Supervisor, Kettcar, Explosions in the Sky, Long Distance Calling, Dritte Wahl, Brutus, Billy Bragg, Silly Boy Blue, Kae Tempest, Greis. Eine Liste aller persönlich wichtigen Musik würde mehr Namen umfassen als die Chronik und die beiden Bücher der Könige im Alten Testament. Doch damit man sich orientieren kann in diesen musikalischen Strömen, muss man einiges mit sich geklärt haben. Für jeden Text, für jeden Tag, für jeden Abschnitt wieder neu.

Bis sie gedruckt, bis sie publik ist, bleibt Literatur immer ein Beutel Möglichkeiten. Konjunktive, die Autor:innen manchmal zu viel werden können, wenn sich diese nicht im Text halten, ihnen keine Ruhe lassen. Einst vertrat eine eng befreundete Person die Meinung, sie sei 80 Stunden pro Woche Autor:in. Egal, ob sie schreibt. Geschrieben hat sie in dieser Zeit nur ganz selten. Wir waren sehr jung, und ich sicher nicht schlauer. Dieses Selbstbild entspringt einem Schwärmen, wie es viele kennen: Zu schreiben, so literarisch, so frei, so losgelöst auf die Welt zu blicken. Mit einem Notizbuch ins Allzumenschliche blicken, von einem Fensterplatz in Wien, in Paris, im Klischee aus. Es gibt sicher Menschen, die diese Notizen dann wieder anschauen, sie ernst nehmen und weitertreiben.

Synapsen-Jams im Kopf

Einfache Werkzeuge reichen zum Schreiben, Mittel braucht es kaum. Durch den Kopf spicken Synapsen-Jams, man spürt Ideen, erdenkt sich vielleicht Dringlichkeit, das Gefühl, dass es raus muss. Das alles kann Basis sein für Selbstwert, der im Schreiben dann zertreten wird. Doch das Schreiben beginnt mit Buchstaben, Buchstaben in der Welt. Egal, ob man in einer Linie fortschreibt oder das Gefühl hat, ein Wabennetz auszumalen: Das Schreiben beginnt mit Buchstaben, Buchstaben in Sinnzusammenhängen. Diese formen Bilder. Obwohl ich mich von Musik treiben lasse und manchmal so auf Sound setze, dass auch eine Geschichte leiden kann, glaube ich, dass Erzählen aus Bildern besteht. Der Sound eines Textes malt mit.

Literarisches Schreiben ist, als ob man die ganze Zeit in einen Spiegel schauen muss, während man sein eigenes Spiegelbild selbst malt. Beim Malen muss man wissen, was ein Gesicht ist und wie es aussieht. Auch um zu schreiben, muss man ein paar Sachen wissen. In erster Linie bedeutet Schreiben Konfrontation. Was steht da? Hat das Bestand?

Was auf dem Display erscheint und gekillt wird, sind lockere Wörter, Möglichkeiten, Formen mit dem Vorbehalt «formbar». Zu Worten werden sie mit der Veröffentlichung: kaum mehr verrückbar, entblössend. Die Möglichkeiten, die davor aber Wörtern offenstehen, sind unermesslich. Die Zahl der vorstellbaren Dinge ist grösser als die Zahl der existierenden Dinge. Doch das Kopfkino der Schreibenden bedeutet wenig. Es geht ums Kopfkino der Lesenden. Darum, aus der eigenen Vorstellung herauszutreten. Ins Zeichenspiel zu kommen. Bilder im Kopf lösen starke Gefühle aus, doch sie sind flüchtig, kaum zu halten, Bewusstsein ist eine Synapsenparty. Bilder im Kopf kann man kaum halten, schon gar nicht bearbeiten. Darum setzt das Schreiben mit Buchstaben ein, ausserhalb des Kopfes von Schreibenden. Es braucht Wörter; die können geformt werden. Schreiben, schreibend, geschrieben. «Schreibend» bin ich erst, wenn bereits was da ist. Etwas, das ich anschauen kann, im Entstehen begleiten kann.

Benjamin von Wyl

geboren 1990, ist Journalist und Autor. Freier Reporter mit Fixum bei der Wochenzeitung «WOZ», regelmässige Arbeiten unter anderem für das öffentlich-rechtliche «Swissinfo» und die «Medienwoche». 2017 ist sein Debütroman «Land ganz nah» bei Lectorbooks erschienen. Die Fachstelle Kultur des Kantons Zürich prämierte das Buch 2018 mit einem Anerkennungsbeitrag. Die Arbeit an seinem zweiten Roman «Hyäne. Eine Erlösungsfantasie» (Lectorbooks, September 2020) wurde durch einen Werkbeitrag des Fachausschuss Literatur Beider Basel gefördert. 2021 wurde die «Hyäne» mit einem Schweizer Literaturpreis des Bundesamts für Kultur ausgezeichnet. Kurzprosa im Literaturmagazin «Das Narr» und in diversen Anthologien, etwa «Menschenrechte. Weiterschreiben» (Salis Verlag).

Text kann nur entstehen, nur besser werden, nur weitergehen, wenn ich hinschaue. Das Hinschauen ist nicht schön. Anders als im echten Spiegel, wo ich mich im Hinschauen kennenlerne, akzeptieren lerne, ist das, was ich in diesem Schreibspiegel sehe, ja eben nichts, was ich lieben lernen sollte. Das, was da steht, ist formbar. Wenn ich es für liebenswert halte, breche ich die Arbeit ab. Text-Positivity verhindert Literatur.

Jeder erste Entwurf eines Textes enthält zu wenig oder zu viel Sinn, wirkt zu klobig oder zu gearbeitet. Als Autor:in kann ich tief in mich hineinblicken, hinterlasse Brotkrumen, die mein künftiges Ich als Hinweise nimmt. Wenn ich mich mit dem Text von Neuem konfrontiere, sehe ich weit unter die Oberfläche des Bewussten: Mehr als einmal habe ich dann den inneren Sexisten entdeckt. Nicht, weil eine Figur sexistisch dachte, erzählte, was sie ja vielleicht sollte oder soll. Sondern weil ich erkenne, dass die weibliche Figur nichts Eigenes will oder bekommt, sondern bloss den tiefsinnierenden, reflektierten Protagonisten-Dude unterstützt. Sie entstammt seiner Rippe. Weil ich mich trotz der Absicht, es nicht zu tun, mehr im männlichen Erzähler denke, als ich möchte. Und je später mir das auffällt, desto unangenehmer ist der Blick in den Spiegel. Schreiben bedeutet konstante Konfrontation.

Die Augen müssen sich das anschauen, die Hände umsetzen. Den ganzen Tag essen kann man nicht. Die Gehörgänge sind offen. Alles kann rein. Darum ist mir Musik so wichtig. Wäre ich mir in jeder Stunde, jeder Minute bewusst, was ich gerade tue, würde ich es nicht tun. Wäre ich mir konstant bewusst, dass ich schreibe, würde ich nicht schreiben. Ich schreibe, statt mit Menschen zu sein. Ich schreibe, statt draussen zu sein. Ich schreibe, statt zu lesen. Musik kann Sprungbrett sein, damit man vergisst, dass man tut, was man tut. Wäre ich mir in jedem Moment, in jeder Stunde bewusst, was ich tue, würde ich es nicht tun.

Es ist wichtiger, den Müll rauszubringen

Es gibt nämlich keinen Grund. Zu schreiben ist anlasslos. Es ist anmassend. Am Anfang verfolgte ich die Idee, mich für die «Schweizer Literaturvorlesung» mit der Frage auseinanderzusetzen, wie man widerständig schreiben kann. Doch mit der Zeit, während ich das kubistische Spiegelbild gemalt habe, indem irgendwann die Vorlesung erkennbar wurde, erkannte ich, wie anmassend das Verbinden von Schreiben und Widerstand ist.

Was mich am häufigsten am Schreiben hindert, ist die Empfindung, dass es absolut unwichtig ist. Es ist wichtiger, den Müll rauszubringen. Es ist wichtiger, sich für eine andere Gesellschaft zu engagieren. Es ist wichtiger, für Menschen da zu sein, die uns nahestehen. Es ist wichtiger, eine Versorgungsnische zu finden. Die Welt hat wahrscheinlich nicht darauf gewartet, dass Schiller seinen Don Karlos sagen lässt: «20 und nichts für die Unendlichkeit getan». Und 200 Jahre Text-, Kultur- und Komplexitätsproduktion später ist die Welt noch beschäftigter, überforderter. Reizsintflut. Dahineinzuschreiben ist objektiv unwichtig.

Wenn mir jemand ein Zettelchen zusteckte «Schreiben ja/nein/vielleicht», würde ich zögern, überlegen, mich so sehr in die Antwort reinsteigern, bis ich nichts mehr wüsste. Es sind drei Optionen, eigentlich eine klare Sache, Plus-, Minus- und Ungefährzeichen. Doch die Entscheidung wäre schwierig, kaltheisse Wallungen. Ich müsste es mir erklären. Ich müsste es mir erzählen. Das Schreiben kann man unterlassen, das Erzählen nicht. Alle Menschen tun es.

Dass ich professionell schreiben darf, dass ich publiziert werde, ist ein Privileg. dass ich professionell schreiben darf, ist schön für mich – gesellschaftlich relevant ist es nicht. Ich bin männlich und Part der Mehrheitsgesellschaft. Ich bin ein satter Mann mit gutem Pass und dem Bewusstsein, dass schon genug satte Männer mit gutem Pass die Welt oder Gegenwelt erzählt und erklärt haben. Hier zu erzählen ist ein weiteres Privileg.

Den ganzen Text gibt es hier