Regisseur Georg Scharegg bei den Proben zu seinem neusten Stück «ruuch oder riich» am Theater Chur.

Regisseur Georg Scharegg bei den Proben zu seinem neusten Stück «ruuch oder riich» am Theater Chur.

Bild: Mathias Balzer

Ein Gespräch mit Georg Scharegg

«In den Alpen lauert hinter jeder Ecke der Kitsch»

Der Schweizer Georg Scharegg hat vor zwanzig Jahren in Berlin eine Spielstätte gegründet. Mittlerweile ist der Theaterdiscounter eines der wichtigsten Häuser für die Freie Szene in der Hauptstadt. Nun ist Scharegg wieder in die alte Heimat zurückgekehrt und fühlt Graubünden den Puls.

Von Mathias Balzer

Chur, 17.01.2023

7 min

Georg Scharegg ist ein Ausgewanderter. Und wie allen Emigranten stellt sich auch ihm, je länger er der Heimat fernbleibt, die Frage: Kehre ich je wieder zurück? Aber für den Regisseur ist zurzeit ein anderer Aspekt dringlicher: Was wäre das denn eigentlich für ein Ort, an den er zurückkehrt, was für eine «Heimat»?

1960 in Chur geboren, in Felsberg aufgewachsen, in Zürich bei Peter von Matt in Germanistik geschult, in Karlsruhe zum Schauspieler ausgebildet, lebt Scharegg seit 1993 als Schauspieler, Regisseur und Theaterproduzent in Berlin. Er ist derzeit der einzige Schweizer, der von sich sagen kann, in der deutschen Hauptstadt ein Theater gegründet zu haben. Eines, das es seit zwanzig Jahren gibt.

2003 zog der Regisseur mit seiner damaligen Theatergruppe ins ehemalige Fernmeldeamt unweit des Alexanderplatzes. Zu Beginn war das ein Provisorium aus Not, jedoch schon bald ein Theaterhaus mit wunderbar ironisch eingefärbtem Namen: Theaterdiscounter.

Das TD Berlin liegt unweit des Alexanderplatzes.

Das TD Berlin liegt unweit des Alexanderplatzes.

Bild: TD Berlin

Die Berliner Morgenpost schrieb damals über Schareggs Unternehmung: «Man hat nichts zu zeigen und nichts zu sagen (…) und stellt sich dennoch für Geld vor Publikum auf eine Bühne: ziemlich beeindruckend! Man staunt, dass inmitten der Hauptstadt eine derartige, auf grenzenloser Selbstüberschätzung fussende Unverfrorenheit möglich ist.»

Gut zwanzig Jahre später sind Verwunderung und Häme dem Respekt gewichen. 2017 schrieb die Berliner Zeitung: «Dafür liebt man den Theaterdiscounter, dass er immer wieder Formate und Gastspiele in die Stadt holt, die in dem immer langweiliger werdenden Austauschzirkel der Verbundsproduktionhäuser nicht vorkommen.» Und das Portal nachtkritik.de nennt den Theaterdiscounter «eine der bekanntesten Spielstätten der Freien Szene in Berlin».

«Am Anfang war das pures Eigenrisiko, quersubventioniert durch andere Jobs», erzählt Scharegg. Mittlerweile kann der Betrieb acht Festangestellten Löhne zahlen und zeigt pro Jahr zwischen 40 und 50 Stücke, meist Koproduktionen und Gastspiele, vereinzelt auch Eigenproduktionen.

Finanzen stabil, die Zukunft offen

Neben dem Stehvermögen, dem konsequenten Mut zum Experiment und wachsender Vernetzung hätten vor allem zwei Faktoren dazu geführt, dass der TD Berlin heute finanziell gut gefördert wird: «Die Immobilienspekulation, die tsunami-artig durch die Stadt gefegt ist und die Pandemie», so Scharegg. Beide Ereignisse hätten aufseiten der Berliner Kulturförderung die Erkenntnis reifen lassen, dass die (noch) vorhandenen Kulturorte zwingend erhalten werden müssen. «Vorderhand hat sich die Finanzierung stark verbessert», sagt der Theaterleiter und schiebt lachend nach: «Auch wenn die Inflation und die Energiekosten das Plus beinah wieder wegfressen.»

Mittlerweile ist der Theaterdiscounter als GmbH organisiert, die Immobilie zwar in Besitz eines Investors, ein Bauprojekt jedoch noch in weiter Ferne. Es könne gut sein, dass irgendwann das Ende komme. Genauso gut könne es aber auch weitergehen. Irgendwann einmal auch ohne ihn, den Gründer.

 

 

Theaterdiscounter in Berlin

Szenenwechsel: Auf der Bühne des Theater Chur zeigt Scharegg einem Schauspieler, wie er die Szene gerne hätte. Der Regisseur ist präzise, leidenschaftlich, konzentriert. Geprobt wird das Stück «ruuch oder riich» und es geht gerade um einen gewagten Zeitsprung, nämlich von einem Prättigauer Hexenprozess direkt zum Unterengadiner Bauskandal.

Eine «Befindlichkeitsshow» nennt Scharegg das Stück im Untertitel. Der NZZ-Journalist Andreas Kläui nannte Scharegg einen, der sich in typisch schweizerischer Dialektik von Weggehen und Zurückkehren bewege. Das war 2013, anlässlich der Premiere von «Fremdenindustrie», einer Satire, die den Bündner Tourismus und seine Sprache lustvoll sezierte und in Chur für volles Haus sorgte.

Der Abstand macht die Dinge klar

«Es ist schon so», erzählt Scharegg, «ich hatte gut zwanzig Jahre nichts mehr zu tun mit meiner alten Heimat. Aber der Abstand machte plötzlich Dinge klar. Es entstand die Lust, mich ihr wieder anzunähern.» Auf «Fremdenindustrie» folgte 2015 mit «Mamma Helvetia» der Blick auf die Schweizer Befindlichkeit und 2019 mit «Kulturrevolution» der Ausblick in eine Zukunft, in der die digitalen Quellcodes wichtiger geworden sind als das alpine Quellwasser.

Nun drei Jahre danach, treiben Scharegg und sein Ensemble eine weitere Tiefenbohrung voran. Historische Quellen, Texte von Reto Hänny und anderen Gegenwarts-Autor:innen, Zeitungsberichte, Material, das aus Interviews mit Zeitgenossen gewonnen wurde, bilden das Ausgangsmaterial.

Regisseur Georg Scharegg bei den Proben zu seinem neusten Stück «ruuch oder riich» am Theater Chur.

Regisseur Georg Scharegg bei den Proben zu seinem neusten Stück «ruuch oder riich» am Theater Chur.

«Fremdenindustrie» habe die totale Veräusserung, die Hysterie des Verkaufs verhandelt, so Scharegg. «Nun schauen wir von der Gegenwart in die Vergangenheit und von dieser wieder zurück ins Jetzt. Dadurch wird der Stoff – diese Berglandschaft und ihre Protagonisten – multiperspektivisch.»

Willkommen in der Kitsch-Maschine

Vom rauen Klima am Alexanderplatz auf Graubünden geblickt, ist das nicht einfach pure Idylle?

Genau diese Sicht fasziniert Scharegg: «Wenn man in den Schweizer Alpen lebt, muss man damit umgehen können, dass einem unterstellt wird, man sei Teil einer heilen Welt. Eine Interviewpartnerin brachte es bei der Recherche auf den Punkt, indem sie sagte: «Hier lauert der Kitsch an jeder Ecke.»

Dieser Kitsch werde von den Einheimischen natürlich auch bedient, sei es mit Heidi und Alpöhi oder auch mit zeitgenössischer Literatur, sagt Scharegg. Ihn interessieren die Alpen als eine Art Kitsch-Maschine.

«Nimm beispielsweise die Oberengadiner Seenlandschaft. Dazu eine Prise Nietzsche – und fertig ist der Pathos-Generator.»

Natürlich sei das alles fantastisches theatrales Material. Kitsch und Kunst seien ja nicht immer so leicht voneinander zu trennen. Schwieriger sei es, der eigentlichen Bündner Realität habhaft zu werden. Auch die intensive Recherche zum Stück habe wenig Greifbares zutage gefördert, es falle Vielen schwer, analytische Aussagen zum Kanton zu machen: Welche Seilschaften sind bestimmend? Was läuft wirklich im «Patschifig»-Land?

Endlich: Adam Quadroni auf der Bühne

Anscheinend braucht es aber die «Dialektik von Weggehen und Heimkehren» damit die grösste Steilvorlage für Graubündens Theaterschaffen endlich Bühnenrealität wird. Der Schauspieler David Flepp sieht in Schareggs neustem Stück dem Whistleblower Adam Quadroni beängstigend ähnlich, wie er so dasteht, im schwarzen Rollkragenpullover, dem Kostüm der Existentialisten, diesen Kitsch-Feinden par excellence.

Scharegg braucht da gar nicht mit besserwisserischem Zeigefinger aufzutreten. Und möchte dies auch nicht. Lieber lässt er den Kanton für sich sprechen. Neben dem Bauskandal und den Folgen der Klimakrise beschäftigt ihn noch ein anderes Thema: der Ausverkauf seiner alten Heimat.

Pandemie und Homeoffice heizen Immobilien und Bodenspekulation an. «Da geht es längst nicht mehr nur um Zweit-, sondern auch um Erstwohnungen», sagt Scharegg. «Es ist die totale Verknappung von Wohnraum – fast wie in Berlin!»

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«ruuch oder riich»

Regie Georg Scharegg.
Uraufführung: Freitag, 20. Januar 2023. Bis 26. Januar. Theater Chur.