Asketen im Museum
Verzicht macht glücklich: das visionäre Leben der Wandermönche
Gewaltloses Handeln, Achtsamkeit, Besitzlosigkeit, Konsumverzicht, universale Toleranz: Diese Prinzipien stammen nicht etwa aus einem Handbuch der Klima- oder Woke-Bewegung. Sie wurden vor 2500 Jahren von den indischen Jains formuliert – und werden seither praktiziert. Das Museum Rietberg in Zürich macht den Jainismus zum Ausstellungsthema und wir fragen: Taugt dieser als Vorlage für einen Asketismus jenseits der Religion?
Zürich, 23.11.2022
Das Museum Rietberg in Zürich widmet seine neuste Ausstellung «Jain sein» dem Jainismus. Eine hinduistische Religion, zeitgleich mit dem Buddhismus entstanden, aber weit weniger bekannt. Geschätzt fünf Millionen Jains leben im westlichen und südwestlichen Indien, eine relativ kleine Religionsgemeinschaft mit wenigen Ablegern in Europa, Grossbritannien und den USA. In der Schweiz bekennen sich etwa 100 Personen zu dieser alten asketischen Religion, deren Prinzipien aktueller denn je sind.
Kaufmanns-Sekte und Radikal-Asketen
Im Jainismus gibt es einerseits die Laiengläubigen. Überdurchschnittlich viele von ihnen bekleiden Posten in der indischen und internationalen Finanz- und Handelswelt. Anshu Jain, von 2012 bis 2015 Co-Vorstandsvorsitzender der Deutschen Bank, ist ein bekannter Vertreter. Dass die Jains sich über Jahrhunderte auf lukrative Handelsgeschäfte spezialisiert haben, auch mal Kaufmanns-Sekte genannt wurden, steht zwar im Widerspruch zu den asketischen Idealen, ist aber gerade diesen auch geschuldet. Wer keine Lebewesen ausbeuten und töten darf, kann auch nicht in der Landwirtschaft arbeiten und muss sich anderweitig spezialisieren.
Wie bei allen Religionen ist der Laienstand jedoch auch bei den Jains bloss die verwässerte Variante des Eigentlichen. Wahrhafte Jains sind nämlich wortwörtlich in der Sonne gegerbte Asketen. Ein oder eine Jain gibt sämtlichen Besitz, alle Verbindungen zur Familie auf, und begibt sich – in der Hardcore-Variante – auf ewige Wanderschaft. Nackt, nur mit Trink- und Essschale ausgestattet, verbleiben die Mönche und Nonnen nie mehr als drei Tage an einem Ort, ausser in der Monsunzeit. Die etwas weniger Radikalen kleiden sich in weisse Gewänder und leben teilweise sesshaft. Aber auch sie besitzen nichts, leben einen asketischen Alltag, widmen sich dem Studium der Religionsschriften, benutzen keine Fahrzeuge, essen vegetarisch.
Wie radikal diese Mönche Gewaltlosigkeit und Achtsamkeit umsetzen, lässt sich am Staubwedel, einem kleinen Besen, ablesen, den sie immer mit sich tragen. Mit ihm fegen sie jeden Platz, wo sie sich hinsetzen- oder legen, teilweise sogar den Weg, den sie abschreiten, denn: Auch das Töten oder Verletzen eines noch so kleinen Lebewesens verschmutzt das Karma, und behindert damit die Erlösung, die Beendigung des ewigen Kreislaufes der Wiedergeburt. Einige Asket:innen tragen sogar einen Mundschutz, damit sie nicht aus Versehen ein Insekt vertilgen.
Achtsam bis in den Tod
Das Verhältnis zum eigenen Körper ist bei diesen Asketen, soweit aus unserer Sicht ablesbar, einerseits von Achtsamkeit, andererseits von Verachtung oder zumindest stoischer Gleichmut geprägt. Dass diese Mönche keusch leben müssen: geschenkt. Dass sie besitzlos sind: geschenkt. Dass sie tage- oder monatelanges Stillstehen am Ort praktizieren – ebenfalls geschenkt. Da ihr Körper jedoch ihr einziges Eigentum ist, pflegen sie diesen mit Hingabe. Jains sind keine abgemagerten Hungerkünstler. Viele tragen ihr Bäuchlein mit Würde.
Wenn es aber ums Sterben geht, zeigt sich, dass die Jains ihren Körper bloss als temporäres Gewand für die Seele sehen. Wird einem Asketen bewusst, dass er – im Sinne seiner Religion – alles in diesem Leben Mögliche erreicht hat, beginnt er zu fasten – bis zum Tod. Am Ende des bewussten, achtsamen Lebens, steht das bewusste, achtsame Sterben. Dieses wird übrigens teilweise auch von Mitgliedern des Laienstandes praktiziert, etwa wenn jemand an einer unheilbaren Krankheit leidet.
Soweit die irritierenden Schlaglichter und Bilder, die einem beim ersten Blick auf diese 2500 Jahre alte Religion entgegenspringen.
Kunstwerke aus zwei Jahrtausenden
Das Museum Rietberg bietet mit seiner Ausstellung die Möglichkeit, tiefer in diesen fremdartigen Kosmos einzutauchen. Wissenschaftlich fundiert und auf dem neusten Stand führt die Schau in sechs Kapiteln durch diese Welt. Im Vordergrund steht die jainistische Kunst. 200 Werke, davon 180 aus der eigenen Sammlung, werden präsentiert: Skulpturen, Ritualobjekte, grossformatige Textilbilder, illustrierte Manuskripte oder Gebrauchsgegenstände der Mönche. Kunstwerke, bei welchen Freund:innen indischer Formensprachen voll auf ihre Kosten kommen.
Steinskulptur des Jina Mahavira, mytischer Begründer des Jainismus. Bild: Manjusha Museum, Dharmasthala, Indien.
Einen interessanten Mehrwert für nicht Kunstaffine schaffen die Ausstellungsmacher durch die Bezüge zur Gegenwart. Grossformatige Fotografien aus dem heutigen Leben der Jains bilden den Hintergrund zur Kunst. Fünf Kurzfilme erzählen von rituellen Praktiken, Pilgergreisen und geben einen Einblick in das Leben der Asket:innen. Die, so erklären die Kuratoren Johannes Beltz und Patrick Felix Krüger beim Rundgang, auch im Zeitalter von Tiktok keine Nachwuchsprobleme habe. Zusätzlich zu den beiden Filmen haben die Kuratoren Interviews mit Anhänger:innen des Jainismus geführt, die als Video abgerufen oder im Katalog zur Ausstellung als Auszüge lesbar sind.
«Wir haben keine Mönche, und die Mönche keine Wüste!»
Klar wird: Der Jainismus ist in seiner Radikalität eine einzigartige Lebensform, die sich erstaunlicherweise über zwei Jahrtausende lang gehalten hat. Es handelt sich aber um eine Religion, deren Kosmologie und Lebensregeln schwer nachvollziehbar, geschweige denn von uns Westler:innen einfach adaptierbar sind. Obwohl die Vorstellung reizvoll ist: Was würde passieren, wenn sich bei uns die Lebensform nackter Wandermönche etablieren würde? Würde parallel dazu, wie im alten Indien, ein Netzwerk entstehen, das diese Community durch tägliches Kochen unterstützt? Oder was wäre, wenn wir uns auf die asketischen Ideale unserer eigenen Kultur, etwa die Säulenheiligen besinnen würden? Wenn die Vogelpredigt des San Francesco zur allseits praktizierten Performance-Anleitung würde? Wären solche Lebensentwürfe nicht zwar surreal anmutende, aber willkommene, gar nötige Inspiration in den aktuellen Diskursen um Konsum, Tierwohl, Klimawandel und Nachhaltigkeit?
Der Philosoph Peter Sloterdijk hat sich in mehreren Werken mit dem Thema Askese beschäftigt. In «Du musst Dein Leben ändern», erschienen 2009, schreibt er zur Utopie eines neuen Asketismus: «Der moderne Westen hat keine Mönche, und die Mönche keine Wüste! Die säkulare Zivilisation hat sich so selbstgewiss als Universum der Bedürfnisbefriedigung etabliert, als hätte es nie einen Einbruch der Verzichtenden in die Zivilisation gegeben. Versuche, den Fall umzukehren, können nur noch als bizarre Ideen auftauchen. Askese als kynische Asketik, als Pflege seiner selbst, als Sorge um sich selbst – das ist noch möglich. Eigentliche, religiös motivierte Askese als vorsätzlicher lebenslanger Verzicht auf Sexualität, Familie, Haus und Besitz ist im Westen – von Einzelfällen abgesehen – kaum mehr möglich.»
Trotz dieser wohl richtigen Analyse lohnt sich das Angebot im Museum Rietberg, sich mit den vielgestaltigen Inhalten radikaler Askese auseinanderzusetzen. Der Ausstellung gelingt es, Zugänge zum Denken der Jains zu schaffen, die fern von asketischem Radikalismus interessant sind, auch wenn sie dies bewusst in homöopathischen Dosen tut.
Ein Leiterspiel als Trainingsfeld
Die bereits erwähnten Diskurse um Konsum, Tierwohl, Klimawandel und Nachhaltigkeit werden in lebensnahe Fragen aufgeschlüsselt, die sich über die Ausstellung verteilen: Besitzt du etwas, von dem du dich niemals trennen könntest? Reist du mit dem Flugzeug, obwohl du den Zug nehmen könntest? Ist dir dein Arbeitslohn wichtig? Könnest du ohne Smartphone leben? Diese und weitere Fragen münden in der Ausstellung in einen Raum, in welchem ein altes jainistisches Spiel neu interpretiert wird: «Snakes and Ladders», bei uns bekannt als Leiterspiel. In der Museumsvariante verbindet es analoge Spielelemente mit einer webbasierten App, die es den Besuchern ermöglicht, einander spielerisch Fragen zu stellen.
Askese ist ein Synonym für Verzicht. Ein Begriff, so aktuell wie die Energie- oder Klimakrise. Für uns an den Belohnungsmodus gekettete Zeitgenossen, für uns Black-Friday-Junkies ist Verzicht ohne gleichzeitigen Gewinn eines Mehrwerts kein attraktives Modell. Im Pandemie-Lockdown haben zwar viele mit dem Ausstieg aus Konsumgewohnheiten geflirtet. Zwei Jahre später ist davon nurmehr der von zahllosen Kondensstreifen überzogene Himmel geblieben.
In einem der in der Ausstellung abrufbaren Interviews wird eine in den USA lebende Jain gefragt, wie sie diesen radikalen, lebenslangen Verzicht denn aushalte. Sie antwortet mit einem herzhaften Lachen: «Sie stellen sich das falsch vor! Wir leben ein glückliches, stressfreies Leben!»
«Jain sein». Bis 30. April 2023. Museum Rietberg, Zürich