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Darren Roshier liest während seiner Performance ««How can the performance (really) defeat capitalism?» dem CEO von Roche, Severin Schwan, die Leviten. (Muesum Tinguely, 2. Juli, 2022.

Bild: Markus Goessi

Kunst und Politik

Kann Kunst Politik?

Kunst soll die Welt zum Guten verändern. Darren Roshier zeigt in einer Performance im Museum Tinguely in Basel, dass sie dies jedoch selten tut. Entweder ist sie künstlerisch wertvoll oder politisch wirksam. Selten beides. Ein guter Anlass, um sich ein paar Gedanken über Kunst und Politik zu machen.

Von Mathias Balzer

Basel, 05.07.2022

9 min

Dieser Traum ist so alt und mächtig wie das Dionysos-Theater in Athen: Kunst soll nicht im Museum verstauben, sondern die Menschen erreichen, die Gesellschaft verändern. Ihre Formen und Ideale sollen im Leben selbst wirksam werden. Schon Schiller träumte davon, dass die ästhetische Erfahrung der Freiheit aus dem Menschen ein moralisches, freies Wesen mache. Nicht Staat und Politik, sondern einzig die Kunst könne dies leisten, nur sie kann Herz und Geist verbinden. Das Bürgertum baute diesem Künstlertraum die Tempel, die wir heute noch besuchen: Museen, Theater, Konzerthäuser.

Gut hundert Jahre nach Schiller schien dieser Traum in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs zu vermodern. Gerade jenes Bürgertum, das der Moral Tempel erbaute, hatte diese Massaker mitverschuldet. Im Zürcher Exil schrieb der Dadaist Tristan Tzara 1919: «Der neue Künstler protestiert. Er malt nicht mehr symbolische und illusionistische Werke, sondern handelt unmittelbar schöpferisch!» Anstatt in einer ästhetischen Übersetzung wirkt der Künstler direkt auf die Gesellschaft ein. Die Kunst sollte nicht mehr länger als bürgerliches Verehrungsobjekt den Betrachter in Andacht erschauern lassen. Raus aus den Tempeln, rein ins richtige Leben!

«Ne travaillez jamais»

Das war die Geburtsstunde der Performance, der Anti-Kunst, der Kunst als Politik von unten. Einen Weltkrieg, zahlreiche Künstlermanifeste und Avantgarde-Grabenkämpfe später brach sich der Traum vom «unmittelbar schöpferisch handelnden» Künstler mit Wucht erneut die Bahn. Performances, Body-Art, Happenings und Aktionskunst lösten in den 1960er-Jahren die vierte Wand auf, machten Zuschauer zu Teilnehmenden, den Künstler und die Künstlerin zum Denker, zur Denkerin. Der Kontext, die Umgebung, in der Kunst in Erscheinung tritt, wurde ebenso wichtig wie das eigentliche Produkt.

Am radikalsten träumten diesen Traum die Situationisten in Paris. Die (Männer-)truppe um Guy Debord, Jasper Jorns und Raoul Vaneighem forderte die Aufhebung der Kunst durch deren Verwirklichung im Leben. Ihr «Ne travaillez jamais» wurde zum Schlachtruf der 68-Revolte in Frankreich. In diesem Umfeld beschwor Niki de Saint Phalle mit ihren Schiessbildern das Ende des Patriarchats, Yves Klein setzte zum Sprung in die Leere an, Jean Tinguely tingelte mit seiner Malmaschine durch die Strassen von Paris.

 

Jean Tinguely im Hof des Ateliers am Impasse Ronsin, Paris, bei Lötarbeiten an einem Relief Méta-Mécanique, 1956

Jean Tinguely im Hof des Ateliers am Impasse Ronsin, Paris, bei Lötarbeiten an einem Relief Méta-Mécanique, 1956. Bild: zvg Museum Tinguely

Ebendiesem Jean Tinguely wurde 1996, rund 30 Jahre nach der Pariser Revolte, ein Museum in Basel errichtet, als Geschenk der F. Hoffmann-La Roche AG an die Stadt und die Kunstwelt. Und rund 25 Jahre später richtet eben dieses Museum mit «Bang Bang – Translokale Performance Geschichte:n» der Performance-Kunst eine spektakuläre Ausstellung aus. In ihr wird der Reichtum an Formen, Aufführungsorten und Themen erlebbar, welche diese Kunstform die letzten 60 Jahre hervorgebracht hat.

Der Elephant im Kunstraum

Eine der rund 170 Veranstaltungen, welche die Kuratorinnen von «Bang Bang» während dreier Monate präsentieren, bestritt am 2. Juli Darren Roshier. Er ist Künstler und linker Politiker, ehemals Stadtrat von Vevey. In seiner als Vortrag gestalteten Performance «How can the performance (really) defeat capitalism?» (Wie kann Performance den Kapitalismus (wirklich) besiegen?») benennt er lustvoll den Elephanten, der unübersehbar nicht bloss in diesem Museumsraum, sondern allgemein im Kulturbetrieb steht.

Er selbst suche Wirksamkeit, politisch und künstlerisch. Aber das sei gar nicht so einfach, so Roshier. Anhand einer Skala mit den Werten «Künstlerisch wertvoll» und «politisch wirksam» machte er das Dilemma anschaulich: Kunst ist entweder ästhetisch, also künstlerisch bedeutsam, oder sie ist politisch wirksam. In den seltensten Fällen sei sie beides.

Darren Roshier während seiner Performance ««How can the performance (really) defeat capitalism?» im Museum Tinguely, Basel, 2. Juli 2022.

Darren Roshier während seiner Performance ««How can the performance (really) defeat capitalism?» im Museum Tinguely, Basel, 2. Juli 2022. Bild: Markus Goessi

Laut Roshier hat aber gerade das Werk Tinguelys in seinen Anfängen beide Kriterien erfüllt: ästhetische Innovation und politische Wirksamkeit. Aber leider sei genau diese Sprengkraft durch den Bau des Museums neutralisiert worden. Des Künstlers Rede kurz gefasst: Ein international tätiger, nach kapitalistischen Kriterien funktionierender Konzern, mit dem bestbezahlten CEO des Landes an der Spitze, könne, trotz philanthropischem Engagement, nicht ernsthaft ein Ort der kritischen, politischen Kunst sein. Zum Abschluss liest der Künstler im Narrenkostüm dem Abbild des CEO Severin Schwan die Leviten:

«Der Kapitalismus hat bei der Lösung der Probleme der Welt versagt. Er, der König soll abtreten.»

Roshiers Performance legt den Finger in eine Wunde, die kaum heilbar oder schliessbar ist. Muda Mathis, eine der Kuratorinnen von «Bang Bang» benannte das Dilemma in einem Speach vor der Aufführung: «Es gibt die politische Performance, und dann gibt es die anderen, die sagen, das ästhetische Erlebnis soll nicht durch Politik versaut werden.»

Die Sprengkraft des performativen Akts

Betrachtet man die beeindruckende Sammlung aus 1600 Performances, die im Archiv der Ausstellung versammelt sind, könnte man sagen: Die Performance-Kunst hat das Dilemma Ästhetik versus Politik zwar nicht gelöst, aber sie hat es so intensiv bearbeitet wie keine andere Kunstform. Sie ist zur Schnittstelle verschiedenster kultureller Gattungen und gesellschaftlicher Themen geworden. Kunst, Theater, Film, Show, Tanz, Konzert, Populärkultur oder neu kreierte Rituale treffen auf politischen Aktivismus und Themen wie Selbstermächtigung, Feminismus, Genderfragen, Klimaschutz, Teilhabe und kollektives Handeln.

Wenn der Kunstnarr und Politiker Roshier die Abschaffung des Kapitalismus fordert, da dieser die Freiheit der Kunst und des Menschen unentwegt in ein weiteres Konsumprodukt verwandelt, stellt sich natürlich die Frage, ob diese Freiheit in einem anderen System gewährleistet wäre. Wahrscheinlich nur, wenn die Freiheit selbst das System wäre.

Interessanter oder beantwortbarer ist vielleicht die Frage, inwieweit Kunst eben doch die Gesellschaft verändert. Oder wie das Wechselspiel von Politik und Kunst funktioniert. Sicher haben die Künste politischen Inhalten immer wieder gültige Form verliehen. Und die Kunst hat wiederum durch ihre ästhetischen Techniken die Gesellschaft beeinflusst und verändert. Und zwar nicht nur da, wo es zu erwarten wäre: in Grafik, Design, in der Populärkultur.

Es ist vor allem der performative Akt, der in politischen Bewegungen Sprengkraft entfaltet. Gandhis Salzmarsch läutete die Unabhängigkeit Indiens von Grossbritannien ein. Ohne den wöchentlichen, ritualisierten Protest der Madres de Plaza de Mayo in Buenos Aires wäre es nicht zu den Prozessen gegen die Mitglieder der argentinischen Militärdiktatur gekommen.

Aber auch aus jüngerer Zeit gibt es zahlreiche Beispiele für politische Proteste, die sich performativer Mittel bedienen: Occupy Wallstreet, die Regenschirm-Proteste in Hongkong oder die Märsche der israelischen und palästinensischen Frauen von Women Wage Peace. Die bedeutendste politische Bewegung der Gegenwart, Fridays for Future, begann mit einer Performance. Ein 15-jähriges Mädchen setzte sich jeden Freitag mit dem Schild «Skolstrejk för Klimatet» vor das schwedische Parlament in Stockholm.

Greta Thunberg. 15, is seen outside the parliament building in Stockholm, Sweden. Greta is on strike from school to protest against the climate crisis. She intends to strike until the general elections September 9.... Poto: Jessica Gow / TT / Kod 10070...... (KEYSTONE/TT News Agency/Jessica Gow/TT)

Greta Thunberg am 8. Februar 2018 vor dem schwedischen Parlament in Stockholm. Bild: (Jessica Gow/Keystone)

Die absolute Erfüllung des eingangs erwähnten Traums, Kunst solle die Menschen erreichen, wäre Joseph Beuys’ Postulat, wonach jeder und jede ein Künstler, eine Künstlerin ist. Er meinte damit nicht, dass alle Bilder malen oder Songs komponieren sollen. Er meinte, dass jeder Mensch sein Leben selbstermächtigt und frei gestalten soll. Leben und Kunst wären dann deckungsgleich. Das in der Performance-Szene geflügelte Wort würde sich erfüllen: «Life is art enough». Die Utopie der Situationisten würde Wirklichkeit.

«Art exists, because life is not enough»

In letzter Konsequenz könnten wir dann, anstatt Kulturinstitutionen zu subventionieren, das Geld direkt als Grundeinkommen an alle Bürger-Künstler:innen auszahlen. Und es käme sicher auch jemand auf die Forderung, der Roche-Konzern solle das Museum schliessen, und dafür keine Angestellten entlassen. Beides hiesse wohl, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Denn es ist essenziell wichtig, dass es ein Haus gibt, wo wir jederzeit Böcklins «Toteninsel» oder Tinguelys «Totentanz» im Original anschauen können. Ebenso braucht es das Haus, wo wir immer wieder Schuberts Unvollendete hören dürfen. Und eines, wo Shakespeares Werk stets neu interpretiert wird. Es stimmt vielleicht schon: «Art exists, because life is not enough». Aber ein Leben ohne Kunst wäre ganz sicher auch nicht «enough».

Die fortschreitende Erweiterung der Kunstzone zeichnet sich aber dennoch ab. Beispielsweise an der diesjährigen Documenta in Kassel, wo – die Antisemitismus-Debatte für einmal weggelassen – Kollektive aus dem globalen Süden eine Ausstellung zeigen, die angesichts der Dringlichkeit globaler Probleme ästhetische Fragen hinten anstellt und anstatt Kunst alternative ökologische und ökonomische Modelle vorstellt.

Davon ausgehend, dass Kunst subkutan und langsam wirkt, ist das ein Versprechen für die Zukunft. Vielleicht hört der König ja doch auf den Narren.