Jules Spinatsch, Scene BBW, 2005 Davos Bolgen. Aus dem Buch Snow Management Complex - JRP Ringier 2014

Tourismus-Kulissen in einer Natur, die selbst zur Kulisse wird: Jules Spinatsch «Scene BBW», aufgenommen 2005 bei der Bolgenschanze in Davos.

Bild: Aus dem Buch «Snow Management Complex» - JRP Ringier 2014

Kulturtourismus

Wir alle sind Touristen und Touristiker

Der Verein Graubünden Cultura hat sich zum Ziel gesetzt, den Bergkanton als eine der führenden kulturtouristischen Regionen der Alpen zu positionieren. Aber wie könnte denn der Kulturtourismus der Zukunft aussehen? Eine Rede zu einem Workshop der Organisation.

Von Mathias Balzer

Chur, 26.03.2025

13 min

Die Vision von Graubünden Cultura lautet: Graubünden profiliert sich als eine der führenden Kulturtourismusregionen der Alpen. Ausgehend davon, möchte ich Euch zu einer kleinen Tour d’Horizon zum Thema einladen.

Von welcher Kultur sprechen wir eigentlich, wenn wir von Kulturtourismus sprechen? Und von welcher Art Tourismus? Wie haben die beiden Bereiche eigentlich zusammengefunden? Und was könnte ein Weg sein, um einen wirklich zukunftsfähiges Zusammenspiel von Kultur und Tourismus, – um das Wort aufzunehmen – , ein visionäres Zusammenspiel zu entwickeln?

Vielleicht ist da ein Blick in die Geschichte ganz hilfreich.

Und vielleicht ist eine Abwandlung der «Huhn-oder-Ei-Frage» zum Start ganz nützlich: Was war zuerst da? Die Kultur oder der Tourismus?

Graubünden Cultura

Das Projekt «Graubünden Cultura» will Graubünden als eine der führenden Kulturtourismusregionen der Alpen positionieren. Der kulturelle Reichtum Graubündens soll durch kulturtouristische Angebote sicht- und erlebbar gemacht werden. Die Partner aus den Bereichen Kultur und Tourismus sollen gewinnbringend  vernetzt werden und in der Öffentlichkeit sowie bei den Gästen ein Bewusstsein für die vielfältige Kultur Graubündens geschaffen werden.

Das Projekt wird vom Verein Graubünden Cultura getragen, der sich aus dem Institut für Kulturforschung Graubünden, dem Verein Graubünden Ferien, der Geschäftsstelle Marke Graubünden und der Forschungsstelle Tourismus und Nachhaltige Entwicklung ZHAW Wergenstein zusammensetzt.

Die Bündner Regierung fördert das Projekt Graubünden Cultura («Umsetzung Kulturtourismus Graubünden 2023–2026») mit einem Kantonsbeitrag im Rahmen der Neuen Regionalpolitik des Bundes (NRP). Ziel ist es, mit dem finanziellen Förderimpuls eine möglichst selbsttragende Dienstleistungs- und Support-Organisation aufzubauen.

Mit Blick auf die europäische Tourismusgeschichte in den Alpen ist die Antwort klar: Am Anfang stand die Kultur. Nämlich ein belletristischer Gassenhauer, Jean-Jacques Rousseaus Briefroman «Julie ou la Nouvelle Héloise», das meist verkaufte Buch des ausgehenden 18. Jahrhunderts, mit über 70 Auflagen und Übersetzungen in zahlreiche Sprachen.

Das Buch beschreibt die Liebe zwischen dem Hauslehrer Heloise und seiner Schülerin Julie und ist gespickt mit Beschreibungen der ländlichen Schweiz, der Berge und ihrer Bewohner. Der Literat und politische Revolutionär hat mit seinem Roman das Bild der romantischen Natur, der Erhabenheit der Bergwelt, die Idee einer authentischen, mit der Natur in Einklang lebenden Menschheit geprägt – und ganz nebenbei – die Erfolgsgeschichte des Chalets befeuert. Denn die Architektur des naturnahen Lebens ist das Holzhaus in den Alpen.

Begleitend zur Idealisierung der Natur entstand eine bis heute nachhallende Zivilisationskritik. Zitat Rousseau:

«Die Stadt ist der Schlund, der das Menschengeschlecht verschlingt. Nach einigen Generationen geht die Rasse zugrunde oder entartet. Sie muss sich erneuern, und immer ist es das Land, das dazu beiträgt. So schickt eure Kinder dorthin, wo sie sich sozusagen selbst erneuern und wo sie inmitten der Felder die Kräfte gewinnen, die man in der ungesunden Luft einer übervölkerten Stadt verliert.»

Das sind Sätze, welche die Motivation, Ferien zu machen, bereits präzise formulieren, zu einer Zeit, in der die meisten Menschen das Wort «Ferien» noch gar nicht kennen: dem Stress entfliehen, sich erneuern, etwas Gesundes tun, in der Natur wieder zu Kräften kommen.

Retour à la nature: Das Haus von Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) in Ermenonville, Frankreich. Frida Magazin

Retour à la nature: Das Haus von Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) in Ermenonville, Frankreich.

Bild: Keystone

Der Tourismus hat dann eine andere Entwicklung genommen, als Rousseau es sich vorgestellt hat. Hochadel und Bürgertum konnten bald einmal in Hotel-Palästen hinter Panoramascheiben die erhabene, aber doch etwas rauhe Natur bei Tee und Whiskey geniessen. Und anstatt sich mit dem naturnahen Leben zu beschäftigen, machten sie die Natur zum Sportplatz.

Die vermeintlich authentischen Bergbewohner wiederum reagierten rasch und bemühten sich, die Kulissen für das touristische Treiben zu perfektionieren. Aus Bauern wurden Hoteliers, Bergführer und Bergbahnbetreiber, aus Fuhrleuten Droschkenfahrer, und aus den Bäuerinnen und Mägden das Reinigungspersonal der Hotels.

Aber die These, dass Kultur den Tourismus initiiert hat, zumindest mit angeschoben hat, bleibt. Rousseau war denn auch nicht alleine: Da gab es – um nur wenige Beispiele zu nennen – etwa Albrecht von Haller, der in seinem Langgedicht «Die Alpen» das Hochgebirge schilderte und das naturnahe Leben der Alpenbewohner den verdorbenen Sitten der Städter gegenüber stellte.

Oder, hier in Graubünden, Giovanni Segantini, dessen «Werden, Sein, Vergehen» als riesiges, begehbares, mit Tieren bevölkertes Panorama für die Weltausstellung in Paris gedacht war. Er war ein Künstler-Touristiker der ersten Stunde.

Oder Friedrich Nietzsche, der mit seinem «Zarathustra» dafür gesorgt hat, dass noch heute Tourist:innen mit seinen Büchern unterm Arm und dem Übermenschen im Kopf am Silsersee spazieren gehen. Das sind nur drei Beispiele, und – bezeichnenderweise – allesamt Männer.

Giovanni Segantinis Triptychon «Werden, Sein, Vergehen» im Kuppelsaal des Museums in St. Moritz

Giovanni Segantinis Triptychon «Werden, Sein, Vergehen» im Kuppelsaal des Museums in St. Moritz

Bild: Stephan Schenk

Der Tourismus hat Graubünden Wohlstand gebracht und prägt die Lebensweise der Bewohner:innen. Hier zu leben heisst, auch immer ein wenig Touristiker zu sein, auch wenn man nicht explizit in der Branche arbeitet. Dem Fremdenverkehr, wie er noch bis vor wenigen Jahren genannt wurde, kann sich niemand vollständig entziehen.

Aber wir alle sind nicht nur Touristker:innen geworden, sondern wir alle sind mittlerweile auch Touristen. Für ein paar Wochen im Jahr tauschen wir die Rollen und lassen uns anderswo von Landschaften und Sonnenuntergängen berauschen, als ob es zuhause keine gäbe.

Wir bezeichnen uns dann ungern als «Touris» – denn das sind ja immer die anderen –, sondern wir sehen uns gerne als Reisende, die dem Massentourismus aus dem Wege gehen, um im jeweiligen Land das authentische Leben zu finden. Und wir lassen es uns von den dortigen Einheimischen gerne vorführen; denn auch sie sind zu Spezialisten im Verkauf von Erhabenheit und Authentizität geworden.

Und wenn wir am Sonntagnachmittag den Blick auf die Malixerstrasse oder an Ostern auf die Staumeldungen werfen, müssen wir der Künstlerin Ursula Palla recht geben, die in einem Video-Porträt, das Visarte von ihr gemacht hat, sagt: «Wir wollen alle in die Natur, fahren aber mit dem Auto hin.» Oder mit dem Flugzeug, ist dem beizufügen.

«Great White», Videoinstallation von Ursula Palla 2017/18

Jeder und jede ist Touristiker und Tourist.

Was bedeutet das nun genau? Welchen Tourismus wollen wir, als Touristiker und als Touristen? Und was könnte die Kulturproduktion, was können Künstler:innen dazu beitragen?

Um dies zu beantworten, müssen wir erst eine andere Frage zu klären versuchen:

Von welcher Kultur, von welcher Kunst sprechen wir im Kontext des Tourismus?

Sprechen wir von Anlässen und Events, Konzerten und Aufführungen, wie es sie auch in Städten gibt? Also grosse, publikumswirksame Konzerte, Festivals, Theater- und Opernaufführungen?

Oder meinen wir mit Kultur «unsere» Kultur, die Kultur der Einheimischen – oder gar die der wachsenden Gemeinde der Zweitheimischen?

Meinen wir die Entdeckung und Vermittlung von Geschichte und Brauchtum? Oder reden wir von Unterhaltung und Zerstreuung inmitten aufblasbarer Kulissen, begleitet von Jägermeister und Apérol Spritz?

Reden wir von Bildung, Aufklärung, Auseinandersetzung mit unserem Dasein? Meinen wir mit Kultur Regionalentwicklung, wie sie etwa das Festival Origen im Surses erfolgreich betreibt?

Reden wir von Orten wie dem Kulturzentrum Nairs in Scuol, das seit Jahrzehnten Künstler:innen einen temporären Arbeitsort im Kanton ermöglicht? Von Anlässen wie der Biennale Bregaglia oder der Art Safiental, wo sich die eingeladenen Kulturschaffenden mit Geschichte, Politik und Kultur einer Region auseinandersetzen?

Oder meinen wir den blühenden Kunsthandel, inklusive Kunst-Jet-Set, inszeniert von den Grossgalerien im Engadin?

Oder ist Kulturarbeit nicht auch immer Arbeit, die zur Gesellschaft auf kritische Distanz geht, deshalb auch unangenehm und politisch ist?

Reden wir von der Autorin oder dem Fotografen, die mit spitzer Feder und präzisem Bild die Auswüchse des Tourismus sezieren?

Ist es beispielsweise nicht gerade eine zutiefst kulturelle Frage,  dass wir unsere Dörfer und alten Häuser mehr und mehr in schick ausgebaute, aber leere Feriensiedlungen verwandeln – und selbst keine Wohnung mehr vor Ort finden?

Oder reden wir gar von einem Kunstschaffen, das uns die Natur als Ort der Spiritualität und Transzendenz näher bringt?

Die Videoarbeit «Forum» von Gabriela Gerber und Lukas Bardill thematisiert den Helikopterverkehr während dem WEF in Davos.

Die Videoarbeit «Forum» von Gabriela Gerber und Lukas Bardill thematisiert den Helikopterverkehr während dem WEF in Davos.

Bild: «Forum», 2000, Videostill, Gabriela Gerber und Lukas Bardill, © ProLitteris

Wenn wir die Vision von Graubünden Cultura ernst nehmen und wollen, dass unsere weitläufige Landschaft ein Ort wird, wo sich Kultur und Tourismus auf überraschende Weise begegnen, sich gegenseitig durchdringen und befruchten – dann müssen wir den oben angeführten, keineswegs vollständigen Fragenkatalog abarbeiten.

Im besten Falle wäre das Resultat ein neu gefasster Kulturbegriff und ein neu formulierter und neu gelebter Tourismus. So die Vision.

Graubünden Cultura iniziiert nun das, was es als Grundlage dafür braucht: das Gespräch zwischen Protagonist:innen aus beiden Bereichen.

Von welcher Natur reden wir?

Jedoch: Wenn wir über Kultur und Tourismus nachdenken wollen, so beinhaltet das vor allem auch das Nachdenken über unseren Naturbegriff – in Graubünden erst recht.

Am Anfang des Tourismus standen die Literatur und die Kunst. Sie haben das für viele Menschen – und im Speziellen für die Tourismuswerbung – noch heute prägende Naturbild ausformuliert: Eine Feier des Erhabenen und Ursprünglichen.

Nun ist es aber mehr als ein Jahrhundert her, seit Segantini sein Triptychon gemalt hat. Mittlerweile ist auch schon der erste Bericht des Club of Rome fünfzig Jahre alt, das Klima hat heiss und heisser und wir heizen es weiter an – auch mit dem Tourismus. Unser unbeschwertes Verhältnis zur Natur hat arge Risse bekommen…

Die Kulturschaffenden haben darauf längst reagiert. Die Auseinandersetzung mit unserem Begriff von Natur, die Suche nach einem neuen Denken in Bezug auf unser Verhältnis zu ihr, prägt die Arbeit vieler Künstler:innen in allen Bereichen der kulturellen Produktion.


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Ein Werk, auf das sich dabei viele Künstler:innen beziehen, sind die Schriften des  französischen Philosophen Bruno Latour. Er hat in seinem 2018 erschienenen Buch «Das terrestrische Manifest» ein neues Verhältnis des Menschen zur Erde ausformuliert. Er vertritt und erweitert darin die Gaja-Hypothese, die ursprünglich von den britischen Naturwissenschaftlern James Lovelock und Lynn Margulis formuliert wurde.

Die These besagt, dass die Erde ein sich selbst regulierendes System ist, das wie ein lebendiger Organismus funktioniert — also Atmosphäre, Biosphäre, Geologie und alles Leben als ein zusammenhängendes, dynamisches System sieht. Latour wiederum sieht drei wichtige Punkte für ein neues Naturverständnis:

  • Die Erde ist kein blosses Objekt, das aussen vor bleibt, sondern ein Akteur, mit dem wir ständig in Beziehung stehen.
  • Menschliche und nicht-menschliche Akteure (Tiere, Pflanzen, Atmosphäre, Technik usw.) sind miteinander verwoben — es gibt keine klare Trennung von Natur und Kultur.
  • Gaia zeigt uns, wie verletzlich und dynamisch das System Erde ist, und dass menschliches Handeln direkte Auswirkungen auf diese planetaren Prozesse hat.

Wer weiss: Vielleicht wird Latours neuer Naturbegriff in Zukunft ja so mächtig wie in der Vergangenheit das Naturbild Rousseaus.

In der Kulturszene hat das Um- und Neudenken jedenfalls bereits angefangen. Nur schon ein Blick auf die gegenwärtige Bündner Kulturszene zeigt, wie viele das Thema umtreibt: Jules Spinatschs Zyklus «Snowmanagement» etwa, in dem der aus Davos stammende Künstler die Bewirtschaftung der Skigebiete thematisiert.

Ursula Pallas langjährige Auseinandersetzung mit Naturvorgängen und Pflanzen, die Arbeiten von Ester Vonplon, Mirko Baselgia, Gabriela Gerber und Lukas Bardill, die Theaterarbeiten von Leander Albin, Jelena Moser und Piera Gianotti. Oder die Essays und Aktionen von Köbi Gantenbein zum Thema Klima – um nur eine kleine Auswahl zu nennen.

«Gletscherfahrt»: Video von Ester Vonplon, Musik: Stephan Eicher

Ich plädiere dafür, dass wir diesen Künstler:innen zuhören, sie befragen über ihr Natur- und – damit einhergehend – Tourismusverständnis, sie darüber befragen, wie sie einen Tourismus der Zukunft sehen.

Wir sollten den Mut haben, Graubünden als Labor für einen neuen Kultur-, Tourismus- und Naturbegriff zu definieren. Dies bedingt aber auch, dass wir unseren Begriff des Kulturschaffenden erweitern.

Analog zu meiner Behauptung, dass wir alle Touristiker und Touristikerinnen sind, hat Joseph Beuys Ende der 1960iger-Jahre verkündet: «Jeder Mensch ist ein Künstler.»

Er meinte damit nicht, dass jeder wie Picasso oder Miriam Cahn malen solle oder könne, sondern dass jeder Mensch die kreative Fähigkeit besitzt, die Gesellschaft mitzugestalten, sozial, politisch, ökologisch. Denn die Gesellschaft selbst ist die Soziale Plastik, das Kunstwerk. Dies war sein Beitrag zum «Erweiterten Kunstbegriff».

In diesem Sinne könnten wir uns auf den Weg machen: Künstler:innen sind in diesem neuen Modell nicht bloss die schnell an- und wieder abreisende Unterhaltungs-Truppe für die Touristen. Nein, sie arbeiten an der Entwicklung und Gestaltung eines Tourismus der Zukunft mit.

Kulturtouristiker und -touristikerinnen sollten sich Wissen, Erfahrung und Neugierde der Kulturschaffenden ins Boot holen, um Strategien zu entwickeln, die auf der Höhe unserer Zeit sind. Denn wir müssen davon ausgehen, dass auch unsere Gäste es sind und immer mehr sein werden.

Die Kulturschaffenden wiederum sollten den Touristiker:innen gut zuhören. Sie sind die Pragmatiker in diesem Spiel und haben den Auftrag Betten zu füllen.


Diese Rede wurde am 27. März 2025 am «Spazi avert & Ufficinas» von Graubünden Cultura gehalten.