Die Berufsoffizierin Sarah Brunner in der Probe zur Kalaschinkow-Szene, Teil von Milo Raus «Wilhelm Tell» am Schauspielhaus Zürich.

Die Berufsoffizierin Sarah Brunner in der Probe zur Kalaschinkow-Szene, Teil von Milo Raus «Wilhelm Tell» am Schauspielhaus Zürich.

Probebesuch bei Milo Rau

«Ich bin Fan der geistigen Landesverteidigung.»

Wir haben Milo Rau bei den Proben zu seinem «Tell» am Schauspielhaus Zürich besucht. Der international tätige Schweizer Regisseur hat uns verraten, warum er an das Ende des tragischen Denkens glaubt, was sein Gessler mit Tarantino zu tun hat, und wann er mit Isabelle Huppert seinen nächsten Film dreht.

Von Mathias Balzer

Zürich, 07.04.2022

10 min

Milo Rau ist ein global agierender Theater-Künstler. Der 45-jährige Berner, seit 2018 Intendant des belgischen NT Gent, hat einen beeindruckenden Output. Nur schon im angebrochenen Jahr ist er mit «The Interrogation», einer Zusammenarbeit mit dem Autor Éduard Louis, in Amsterdam und Paris präsent. Im März zeigte er seine «School of Resistance» in Gent, das Stück «Familiy» wurde in Madrid gezeigt, seine Filme «Orestes in Mosul» und «Das neue Evangelium» waren gerade in New York zu sehen. In Frankreich wird sein nächster Filmdreh vorbereitet, «Massacre», die Aufarbeitung eines SS-Massakers in Oradour-sur-Glane. Die Hauptrolle in dieser Doku-Fiction spielt Isabelle Huppert als grausame Résistance-Führerin, (Nazi-)Nebenrollen spielen Udo Kier, Ursina Lardi, Sebastian Rudolph und Johan Leysen.

2017 realisierte Rau mit «Die 120 Tage von Sodom» am Schauspielhaus Zürich seine bisher letzte Inszenierung in der Schweiz. Nun kehrt er mit «Tell» zurück. Während eines Probebesuchs fragen wir ihn, wieso gerade Schillers Blockbuster? «Es wäre meine Antritts-Inszenierung gewesen, hätte ich die Leitung des Schauspielhauses übernommen.» Rau wurde als Nachfolger von Barbara Frey gehandelt, war unter den letzten beiden Bewerbungen, entschied sich dann jedoch für das NT Gent, ein Theaterhaus mit weniger festgefahrenen Strukturen.

«Und ‹Tell› ist der einzige literarische Stoff, der in der ganzen Schweiz kollektiv präsent ist, über alle Generationen, bei allen politischen Akteuren, sogar den Einwanderern», erklärt der Regisseur. «Es ist wie bei der Bibel: Man muss sie nicht gelesen haben, um zu wissen, dass Jesus am Kreuz gestorben ist. Genauso verhält es sich mit dem Apfelschuss. Diese Bilder existieren jenseits des Textes im kollektiven Bewusstsein.»

Die Tell:innen verhandeln die Freiheit

Rau nutzt «Tell» als Folie, um ein Schlaglicht auf seine Heimat zu werfen. Entlang des Schweizer National-Dramas stellt er die Frage «Wem gehört die Freiheit?». Und wandelt die Frage in einen Schlachtruf: «Wir müssen uns befreien!» Gerufen wird dieser von einer zusammengewürfelten Truppe aus Schauspieler:innen des Zürcher Ensembles und von Gästen, die Rau im ganzen Land gecastet hat: etwa Irma Frei, ehemalige Zwangsarbeiterin beim Waffenhersteller Bührle. Oder Cyrill Albisser, Jäger aus der Innerschweiz. Sarah Brunner, die Berufsoffizierin. Oder Cem, ein Behindertenaktivist und -politiker aus St. Gallen. Oder Vanessa Gasser, eine Pflegerin. Sie alle sind freiheitssuchende Tell:innen, sie alle stehen für Raus Theater, in dem die Frage, wer eine Geschichte erzählt, zentral ist.

Das Casting zeigt: Hier verhandeln Vetreter:innen einer ebenso diversen wie widersprüchlichen Schweiz den National-Mythos. Rau dampft Schillers Stoff auf seine Essenz ein und schafft Raum für aktuelle Diskurse über die Schweiz. Und wie üblich sprengt er die Grenzen des Mediums Theater. Parallel zur eigentlichen Inszenierung finden Aktionen im öffentlichen Raum statt, die wiederum in das Stück einfliessen. Das Schweizer Fernsehen dreht einen Dokumentarfilm zu Raus «Tell». Er selbst seziert in einer «Blick»-Kolumne Schweizer Befindlichkeiten.

Das liest sich dann beispielsweise so: «Ich hasse all diese Firmen, dieses System, das die Würde nicht nur der Schweizer, sondern so vieler Menschen in der Welt mit Füssen tritt. Ich hasse die Verlogenheit unseres Landes, das bei vielen Verbrechen gerade so weit abseitssteht, um entspannt den Gewinn einzustreichen. Denn in einer globalisierten Welt ist es egal, ob man in der Ukraine oder im Kongo einmarschiert – oder einfach nur davon profitiert. Und ja, ich hasse diesen Teil der Schweiz, der Menschen nur so lange respektiert, bis sie ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen können.»

Milo Rau (rechts) und sein Ensemble bei Filmaufnahmen zu «Tell» am Zürcher Schauspielhaus.

Milo Rau (rechts) und sein Ensemble bei Filmaufnahmen zu «Tell» am Zürcher Schauspielhaus.

Bild: Mathias Balzer

Rau zeigt Kante und formuliert messerscharf, ist aber gleichzeitig ein durch und durch verspieltes Animal théatral. Das zeigt sich an der Probe im Zürcher Schiffsbau. Auf dem Plan steht die Kalaschnikow-Szene, ein Video-Dreh, Material für den Shutdown in der Hohlen Gasse. Die Stimmung ist entspannt. Rau sieht in seinem Overall aus wie ein Theatertechniker, und er ist sich auch nicht zu schade, Hand anzulegen, um mal ein Podest selbst zu verschieben. Gedreht wird die Ermordung von Gessler, gespielt von Sebastian Rudolph. Vor dem Greenscreen treten unterschiedlichste Tell:innen mit einer Kalaschnikow aufs Podest, zielen auf die Kamera am Boden, schütteln die Waffe, während eine Assistentin mit einem Lichtreflektor vibrieren muss. Was in der Herstellung wie Basteln aussieht, ist am Ende Trash-Kino. Das Kalaschnikow-Massaker wird später durch den Hintergrund des altehrwürdigen Kino Uto ergänzt. Gessler, bei Rau ein Filmfan, wird ebenda umgebracht. Eine Hommage an Tarantinos «Inglourious Basterds».

Konzentration und Gelächter wechseln sich ab. Rau zeigt vor, wie er es haben möchte. Präzise, aber entspannt, führt er die Szene. Vier ballernde Schütz:innen werden gedreht. Rau lacht und meint: «Wir machen schon auch noch ernste Sachen!» Und reflektiert gleichzeitig das Resultat des Drehs: «Ich finde interessant, dass diese Form, so umgesetzt, nicht bloss Trash ist, sondern sie hat sehr wohl grosse Ernsthaftigkeit und auch etwas Verzweifeltes.»

Das Ende des tragischen Denkens

Szenenwechsel. Rau lädt zum Mittagessen und Gespräch in die Kantine des Schiffbaus. Ganz ehemaliger Journalist und Dokumentarist, beginnt er mit den Fragen: nach unserem Magazin, über Kulturjournalismus, dessen Finanzierung, um dann selbst zu erzählen: «Ich hab in Gent ja die erste Festanstellung in meinem Leben. Davor ging es einfach von Projekt zu Projekt.» Finanziell sei die Basis stabiler geworden, das Arbeitspensum aber eher gewachsen.

Kurz vor den «Tell»-Proben in Zürich hat Rau eine Kurzversion von «König Oedipus» in Gent gemacht und bereitet für die Biennale Venedig das fast unbekannte Stück «Rhesos» vor, beide Stücke Teile des vom NT Gent initiierten «All Greeks Festival». Der Inhalt: Sämtliche griechischen Tragödien, fünf von Rau inszeniert, die anderen 27 von Kolleg:innen auf dem ganzen Globus: Frankreich, Brasilien, Zentralafrika, Naher Osten, China. Rau sagt: «Tragödien sind im Grunde globalisierte Geschichten, ein Potpourri aus Stories, die aus den griechischen Kolonien zusammengeklaut wurden. Medea vom Schwarzen Meer, Europa aus Nordafrika etc. Wir verteilen diese Geschichten nun wieder über den Globus zurück.»

Aber warum gerade griechische Dramen? «Meine Theorie ist, dass das tragische Denken der Griechen die tragische Ontologie begründet hat, eine Ontologie der Trennungen: Mann und Frau sind getrennt, Natur und Zivilisation, Ratio und Rausch, Hybris und Masshalten», erklärt Rau. Im Grunde baue jede Tragödie darauf, diese binären Strukturen zu überwinden, sie abzuschaffen, also nahe bei den Göttern zu sein und gleichzeitig demokratisch. «Dieser Versuch scheitert natürlich immer, deshalb die Tragödie. Dieses tragische Denken hat Europa seit 2000 Jahren bestimmt.»

Aber es gehe auch anders. Als er am Anfang der Pandemie in Manaus im Amazonas war, um dort «Antigone» zu inszenieren, (die Produktion wird kommenden Winter fertiggestellt) konnten die beteiligten indigenen Aktivist:innen mit diesem tragischen Denken nichts anfangen. «An ihrem Denken scheitert unser binärer Ansatz. Sie können mit unseren tragischen Held:innen gar nichts anfangen. Aber vielleicht kommt jetzt ja eine Zeit, in der das tragische Denken zu einem Ende kommt.»

Dramaturg Bendix Fesefeldt und der Musiker Elia Rediger setzen sich an den Nebentisch. Rau organisiert mit ihnen kurz die Sprachaufnahmen des Nachmittags. «Macht doch zwei Varianten: Eine mit Donner und Pathos, eine normal gesprochene.» Schauspielerin Maya Alban Zapata kommt an den Tisch und erkundigt sich, wie es gehe. Rau meint, zum Glück habe ihm die Barkeeperin letzte Nacht noch ein Aspirin gegeben. Gelächter. Die Wechsel von ernster Reflexion zum Rumblödeln sind bei Rau fliessend. Da der intellektuelle Theaterneudenker, dort der fröhliche Bub, der sich über seine eigenen Streiche herzhaft freuen kann.

Rau zeigt auf seinem Handy Bilder einer Performance im Zürcher Kunsthaus. Irma Frei, eine ältere Dame, die in den Fünfzigerjahren als Kind ihrer Familie entrissen wurde und Anfang der Sechziger drei Jahre unfreiwillig in einer Bührlefabrik arbeiten musste, geht mit einem grossen Stein auf der Schulter durch die Sammlung ihres ehemaligen Chefs. Sie fordert Gerechtigkeit und Entschuldigung.

Milo Rau und Irma Frei bei den Proben zu «Wilhelm Tell» am Schauspielhaus Zürich.

Milo Rau und Irma Frei bei den Proben zu «Wilhelm Tell» am Schauspielhaus Zürich.

Bild: Mathias Balzer

Und Rau erzählt von seiner Begegnung mit Miriam Cahn, der Künstlerin, die für «Tell» die Plakate entwirft, und ihre Werke aus dem Kunsthaus abgezogen hat, da diese durch die Bührle-Sammlung kontaminiert würden. Ebenso ergehe es den impressionistischen Meisterwerken der Bührle-Sammlung: Sie würden, laut Cahn, in diesem Kontext ihre Aura verlieren. Man müsse sie befreien. Am 20. April inszeniert Rau dazu ein Happening im Museum.

Aber so aktionistisch diese Ansätze auch sind, der Regisseur hat vor Schillers Text grossen Respekt: «Ich war nie ein Fan der Dekonstruktion oder Verblödung eines Tell-Textes. Das alles ist nicht komisch. Schiller hat tolle Texte geschrieben, zwar für uns heute viel zu lang. Wenn man sie aber eindampft, bleibt etwas übrig, das wahnsinnig vielschichtig ist.» Schiller selbst dekonstruiere sein Stück durch die letzte, selten gespielte Parricida-Szene. «Da kommt ein wirklicher Revolutionär, der Vater- und Kaisermörder Parricida, in die Schweiz und sagt zu Tell: ‹Du bist doch auch ein Freiheitsheld, gib mir Asyl.› Tell antwortet: ‹Du willst das System umwerfen, wir wollen nur weniger Steuern›.» Rau lacht wieder: «Das passt doch zur Schweiz!»

«So etwas ist heute kaum mehr möglich»

Auch was die Rezeption des «Tells» angeht, hat Rau einen differenzierten Blick. Ein wichtiger Bezugspunkt ist für ihn Oskar Wälterlins Inszenierung von 1939 am Pfauen, mit Heinrich Gretler in der Hauptrolle. Hitlers Lieblingsstück sei damals vom Exil-Ensemble gewissermassen vom Faschismus befreit worden. «Es gab im Programmheft einen Text, der sich gegen den Faschismus gerichtet hat, ein Plädoyer für die geistige Landesverteidigung», erklärt Rau beim Kaffee. «Dem kann ich heute noch absolut zustimmen. Genau das ist der Sinn von Neutralität, Humanismus und Kunst: alle Meinungen zuzulassen. In dieser Zeit war das eine mutige und recht radikale Haltung, in einem Land, das von faschistischen Mächten umzingelt war. So etwas wäre heute wohl kaum mehr möglich.» Und es wird spätestens hier klar, Rau meint den Befreiungsruf seines «Tells» ernster, als vielen vielleicht lieb ist. «Ich bin Fan der geistigen Landesverteidigung.»

«Wilhelm Tell» Premiere: Samstag, 23. April, Schauspielhaus Zürich