Die Spielzeithefte der Schweizer Theater

Die Spielzeithefte der Schweizer Theater

Theater

«Zeig mir, wer du bist» – eine Spielheft-Kritik

Nach der Saison ist vor der Saison. Mit der neuen Spielzeit kommen auch die neuen Spielzeithefte. Die zeigen, wer die Theater sind und wie sie sein wollen. Nicht immer passt da alles zusammen.

Von Valeria Heintges

Zürich, 20.06.2022

13 min

Baden geht baden. In der Mitte des Spielzeitheftes des Kurtheaters Baden ist zu sehen, wie Menschen auf der ganzen Welt im Wasser schwimmen, am Strand sich sonnen. Man sieht aber auch: Sie knubbeln sich im Gedränge, sie sind viele. Und sie hinterlassen Spuren. 

Spielzeithefte sind nicht nur ein Verzeichnis von Premieren, Autorinnen, Komponisten, von Regisseurinnen. Spielzeithefte sind auch Statements, sie zeigen, wie ein Theater sich präsentieren, wie es gesehen werden will. Alle Jahre wieder, alle Spielzeit wieder. Einerseits. Andererseits verzichten nicht wenige Theater ohne Abonnenten mittlerweile auf Spielzeithefte. Wie etwa in Zürich das Theater Neumarkt oder die Gessnerallee. 

So wollten die Macherinnen des Theaters Neumarkt, Julia Reichert, Hayat Erdogan und Tine Milz erst gar kein Spielzeitheft machen, weil die Zuschauer:innen ohnehin spontan entscheiden würden, ob sie ein Ticket lösen, sich einen Abend ansehen wollen. Geben soll es wohl doch noch eins, erfährt man. Aber erst zu Beginn der neuen Saison. 

Die beiden Gessnerallee-Intendantinnen Michelle Akanji und Juliane Hahn denken ohnehin nicht mehr in Spielzeiten, sondern in Zyklen: Pro Spielzeit gibt es fünf Zyklen von ungefähr fünfeinhalb Wochen Dauer, dazwischen sind jeweils rund eineinhalb Wochen Pause. 

Aber die Häuser mit Abonnements haben sie noch, die Spielzeithefte. Alle sind online abzurufen, bei manchen muss man ein bisschen länger suchen, aber spätestens im Medienbereich sind sie für jeden einsehbar. Und es gibt sie auch noch in Papier: Grösser, kleiner, leichter, schwerer. Ein Vergleich, ein Überblick, der sich lohnt, der aber keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt: Weil man nicht Äpfel mit Birnen vergleichen sollte, nicht kleine Gastspielhäuser wie das Kurtheater Baden oder Tourneetheater wie das Theater für den Kanton Zürich mit Riesentankern wie dem Schauspielhaus Zürich oder dem Theater Basel. Aber einen Anspruch auf Einblick erhebt die Übersicht schon. Einblick in die Welt von Sein und Schein, von Design und Stil und Fotografie. 

Programmheft des Schauspielhaus Zürich der Theatersaison 2022/2023. Bild: Valeria Heitges.

Schauspielhaus Zürich

Link zum Programmheft: https://www.schauspielhaus.ch/de/18794/saisonvorschau-2022-23
Anzahl Seiten: 208, (fast)
durchgehend zweisprachig: Deutsch und Englisch
Anzahl Premieren: 18 (davon haben 5 schon woanders Premiere gefeiert)
Verhältnis: 11,5 Seiten pro Premiere
Gewicht: 702 Gramm
Motto: keines
Recyclingfaktor: Niedrig. Immerhin FSC-Papier, davon aber viel, auch sehr viel in Hochglanz.
Besonderheit: Das Heft ist dreifach gelocht, als wäre es schon ausgemustert worden. 

 

Das Schwere

Grundsätzlich zwei Ideen liegen dem dicken Heft zugrunde. Zum einen werden Schauspieler:innenköpfe mit unterschiedlicher Mimik gezeigt – lachend, weinend – und verfremdet: verdoppelt, vervielfacht, verfünfundzwanzigfacht. Songhay Toldon hat Spiralen statt Augen, Maximilian Reicherts Kinn fliesst davon, Daniel Lommatzsch kotzt grünen Erbsenbrei. 

Zum anderen werden authentische Zuschauerrückmeldungen und die Reaktion des Hauses darauf gezeigt. Das sind zum Teil sehr feinfühlige Antworten auf ernste Bedürfnisse, da ist Freude über Lob, da sind aber auch komische Statements, die die Zuschauermeinung ad absurdum führen. So bemängelt ein Gast in krakeliger Schrift: «Die Schlange war sehr lang», darunter halten vier Schauspieler vor dem Pfau eine riesige Boa – die ist dann wirklich sehr lang. Die wenig schmeichelhaften Vergleiche der Optik des neuen Pfauenfoyers werden umgesetzt: Die charakteristischen Leuchtstoffröhren des Raumes zieren in Fotos ein Schwimmbad, einen Bahnhof oder eine Parkgarage …

Fazit: Viel Platz, nicht ganz so viel Gehalt. Viel Humor.

Theater Basel Spielzeitheft 2022/23

Theater Basel

Link zum Programmheft: https://www.theater-basel.ch/de/premieren2223
Anzahl Seiten: 100
Anzahl Premieren: 28 (11 x Oper, 12 x Schauspiel, 5 x Ballett)
Verhältnis: 3,6 Seiten pro Premiere
Gewicht: 271 g
Motto: keines
Recyclingfaktor: Mittel. Klimaneutral gedruckt auf FSC-Mix-Papier. Aber ganze Seiten in Farbe getunkt.
Besonderheit: Drei Einleger zu den Themen Tanz, Schauspiel und Abos.
Totalgewicht: 388 g

Das Fotolose

Das Spielzeitheft des Theaters Basel schafft den Spagat zwischen totaler Buntheit und äusserster Kargheit. Vor- und Rückseite zieren 28 bunte Streifen und das Innere hat Seiten mit Farbverläufen als Hintergrund, aber das Heft zeigt nicht ein Foto. Kein Bild vergangener Inszenierungen, kein Porträt einer Sängerin, eines Tänzers oder einer Schauspielerin – nichts. Stattdessen ganzseitig und in grosser Schrift Beschreibungen der geplanten Inszenierung jeweils mit drei Schlagworten, etwa bei der Uraufführung von Ariane Kochs «Die Aufdrängung»: Mein Haus – Mein Sofa – Mein Gast. Oder bei Lasse Kochs «Wilhelm Troll»: Zündeln – Zetern – Zerstören. Das Ganze hat ein wenig die Anmutung eines Farbkatalogs, hat aber einen hohen Wiedererkennungseffekt. 

Die bildlosen Zeiten haben ein Ende mit den drei Einlegern zu den Abonnement-Möglichkeiten, zum Ballett Basel und zum Schauspiel Basel, das mit einem riesigen Gruppenfoto der Basler Compagnie auftrumpft.

Auffällig: Der Ballett-Einleger zeigt in der Mitte zwei männlich-weibliche Regiepaare, die für «Imbalanced Parallels» verantwortlich sind. Sie werden flankiert von drei Männern links und drei Männern rechts, die die anderen Arbeiten verantworten. Keine einzelne Choreografin? Im Jahr 2022 – echt jetzt? 

Spielzeitheft des Luzerner Theater

Luzerner Theater

Link zum Programmheft: https://22-23.luzernertheater.ch/salon-digital/spielzeitheft2223
Anzahl Seiten: 160
Anzahl Premieren: 24 (9 x Oper, 9 x Schauspiel, 6 x Tanz)
Verhältnis: 6,6 Seiten pro Premiere
Gewicht: 346 g
Motto: Ewig jetzt
Recyclingfaktor: Mittel bis hoch: Nachhaltig und klimaneutral gedruckt, kein Hochglanzpapier.
Besonderheit: Die Bindung in Schweizer Broschur (der Rücken klebt nicht am Umschlag) wirkt edel und erlaubt ein bequemeres Blättern.

Das Klare

Das Spielzeitheft des Luzerner Theaters ist auch zweigeteilt, aber nicht so extrem wie das Basler. Die Inszenierungen werden schwarz-weiss mit dem firmeneigenen, ein bisschen schreienden Orange als Schmuckfarbe präsentiert. Zum ganzseitigen Text kommt eine Bildseite in ebendiesem Orange, meist mit einer Illustration, einem Zitat, oft einem handschriftlichen, zuweilen ein wenig ironischen Kommentar. Dem vorangestellt sind sehr schöne Fotos des Ensembles von Lauretta Suter. Vor grüngrauem Hintergrund zeigen sich die Akteur:innen in merkwürdigen Posen und vor allem seltsamen Kostümen. Tänzerin Phoebe Jewitt im viel zu grossen Torero-Kostüm, Tänzer Mathew Prichard im riesigen, scheinbar steifen Mantel, umgeben von vier weiteren stehenden Mänteln. Oder Schauspieler Thomas Douglas mit einer riesigen Halskrause und fünf aufeinandergestapelten Zylindern auf dem Kopf. Die Bilder sind ein wenig rätselhaft, aber sie setzen sich fest beim Betrachten und machen neugierig. Die einzelnen Teile des Heftes sind deutlich voneinander getrennt: Erst nach dem Inhaltsverzeichnis folgt das Vorwort, dann Ensemblebilder, Premieren, Vermittlungsangebote, und Abonnementvarianten. Kein überflüssiger Schnickschnack, sondern klare Strukturen und Linien in der Gestaltung der Agentur discodoener. Ohne Langeweile. Sehr praktisch, sehr gelungen. 

Spielzeitheft Bühnen Bern

Bühnen Bern

Link zum Programmheft: https://buehnenbern.ch/site/assets/files/0/55/977/bb-saisonheft-22-23_spzh_3sparten_ansicht_compressed.pdfAnzahl Seiten: 112
Anzahl Premieren: 24 (7 x Oper, 12 x Schauspiel, 1 x Oper/Schauspiel gemeinsam, 4 x Tanz)
Verhältnis: 4,6 Seiten pro Premiere
Gewicht: 275g
Motto: Wie wollen wir leben?
Recyclingfaktor: Eher niedrig. Keine Angaben zu Druck und Papier, aber viel Farbe.
Besonderheit: Das Mehrspartenhaus hat ein weiteres Heft für die Konzerte des Berner Symphonieorchesters (88 Seiten, 223 g). 

Das Durchdachte

Für die Gestaltung haben sich die Bühnen Bern ganz dem Farbschema verschrieben: Gelb für das Schauspiel, blau für die Oper, rot für den Tanz, grün für die Konzerte. Und konsequenterweise gelb-blau quergestreift für «Karmilla oder das Zeitalter der Vampire», die Schauspieloper von Jan Dvorak: Das ist eine Kooperation beider Sparten. Die Fotos des Ensembles finden vor dem entsprechenden Genre-Hintergrund und in entsprechender Kleidung statt – da grenzt das Konzept fast an Manie. Schliesslich steht gelb wirklich nicht allen, aber da müssen die Schauspieler:innen durch. Lucia Kotikova und David Berger retten sich – Flucht nach vorne! – in einen waschechten Ostfriesennerz, wie die gelben Regenjacken der deutschen Nordseeküste im Volksmund heissen. Wenn man das Konzept einmal durchschaut hat, ist es logisch, vorher verwirren die Farben ein wenig. Die Premieren werden mit Illustrationen präsentiert, die man versteht, wenn man die Texte gelesen hat. Das Spielzeitheft ist solide, überrascht aber nicht – das müssen dann die Inszenierungen erledigen. 

Spielzeitheft Theater St. Gallen

Theater St. Gallen

Link zum Programmheft: https://www.theatersg.ch/de/presse/unser-spielplan-20222023/253
Anzahl Seiten: 40
Anzahl Premieren: 24 (7 x Schauspiel, 5 x Oper, 3 x Jugendtheater, 4 x Tanz, 2 x St. Galler Festspiele, 3 x Jugendtheater) plus Konzerte
Verhältnis: 1,6 Seiten pro Premiere
Gewicht: 160 g
Motto: Der Abschied kann warten.
Recyclingfaktor: eher hoch: Keine Angaben, das Papier wirkt aber fast recycelt. Und viel Papier ist es nicht.
Besonderheit: Gross, aber leicht: Zeitungsformat, ohne Bindung.

Das Grösste

St. Gallen geht neue Wege und beweist Humor: Mit dem Motto «Der Abschied kann warten» verabschiedet sich das Haus vom Provisorium «Um!BAU» und gleichzeitig von Geschäftsführer Werner Signer, von Konzertdirektor Florian Scheiber und von Schauspieldirektor Jonas Knecht. Wer so tiefstapelt, darf gross auslegen – St. Gallen hat mit Abstand das grösste, gleichzeitig aber auch das leichteste Programmheft: Nur 160 Gramm bringt es auf die Küchenwaage, aber jede der 40 Seiten ist fast so gross wie eine des Tages-Anzeigers. Gleichzeitig ist das Programm aber grosszügig gestaltet, zwar sind die Überschriften riesig, die Schrift dafür klein. Das bietet viel Raum für – nichts. Genauer: Für Weissraum, also weisse Flächen, die die Informationen auflockern und strukturieren. Die Illustrationen sind ganzseitig, also riesig, aber nur in Schwarz-Weiss. Allerdings versehen mit einem farbigen Zusatzschnörkel, der sich nach den Genres richtet: Türkis für die Konzerte des Sinfonieorchesters
St. Gallen, gelb für alles andere: Oper, Operette, Musical (nur Wiederaufnahmen), Schauspiel. Das doch sehr spartanische Konzept wirkt, entsprechend dem Titel einer Tanzpremiere, ein wenig «raw», aber trotz allem Retro-Stil innovativ. Nur praktisch geht definitiv anders. 

 

Spielplanheft Theater Biel Solothurn

Theater Orchester Biel Solothurn

Link zum Programmheft: https://www.tobs.ch/fileadmin/Media/Dokumente/TOBS_Spielzeitheft_22-23.pdf
Anzahl Seiten: 160, durchgehend Deutsch und Französisch
Anzahl Premieren: 15 (5 x Oper, 7 x Schauspiel, 3 x Tanz) plus Konzerte und Jugendangebote
Verhältnis: 10 Seiten pro Premiere, aber wegen der Konzerte nicht vergleichbar
Gewicht: 357g
Motto: keines
Recyclingfaktor: Mittel. Keine Angaben. Kein Hochglanz, aber viel Papier.
Besonderheit: Die Sprachen sind meist mit Längsstrichen voneinander getrennt. Das wirkt sehr unruhig. Den Titel gibt es auf dem Cover auch in Blindenschrift.

Das Unruhige

Das Theater Orchester Biel Solothurn, kurz: TOBS, schlägt ein wenig aus der Reihe: Es sitzt nicht nur in Biel und Solothurn, sondern auch zwischen zwei Sprachwelten, zwei Spiel- und vielen mobilen Orten. Zudem werden auch die Konzerte im Spielplanheft beworben, was die Aufgabe für die Gestalter anspruchsvoll macht. Man versucht, dem mit einem klaren Schriftbild und ganzseitigen Bildern entgegenzuwirken, aber die Sache bleibt ambitioniert, wenn sich auch die Romands in dem Theater sofort zurechtfinden sollen. Unfaire Vergleiche soll man lassen. Also machen wir das.