Theater
«Unser Theater ist eine ausgepresste Zitrone»
Nach 17 Jahren als Schauspieldirektorin am Theater Orchester Biel Solothurn hört Katharina Rupp im Sommer 2024 auf. Ein Gespräch über Ausbrüche aus Erwartungen, kleine Theaterstädte und grosse Unverschämtheiten.
Solothurn, 26.10.2023
Gespräch: Valeria Heintges
Frau Rupp, bevor Sie ans TOBS kamen, wechselten Sie nach relativ kurzer Zeit von Theater zu Theater, letztendlich sogar von Schauspiel auf Regie. Dann kamen Sie als Schauspieldirektorin ans TOBS und blieben 17 Jahre. Warum verliess Sie hier der Wunsch nach Veränderung?
Katharina Rupp: Als ich die Solothurner Bühne sah und merkte, wie klein sie ist, dachte ich: «Da geht mir in drei Jahren die Fantasie aus, das zu bespielen. Hier sammele ich Leitungserfahrung, dann ziehe ich weiter…» Dann wurde die Arbeit so intensiv, dass ich kaum Zeit fand, mich um etwas anders zu kümmern. Vor zehn Jahren bot sich die Gelegenheit eines Absprungs.
Aber ich hätte in einer Zeit der Umbrüche ein Ensemble verlassen müssen, das teilweise meinetwegen hierhergezogen war. Darum entschied ich mich zu bleiben, auch weil ich die Gestaltungsmöglichkeiten hier enorm finde.
Dann kam die Sanierung, weil uns das bröckelnde Haus und seine Gipsstuckaturen buchstäblich auf den Kopf fielen;
dann der Umbau, während dem wir überall in der Stadt gespielt haben, die Vorfreude darauf, in ein frisch saniertes Haus zurückzukehren.
Vor zwei Jahren wollte ich wirklich aufhören – aber dann brach die Pandemie aus, und der Intendant bat mich, noch zwei Jahre weiterzumachen. Erst wollte ich nicht, es reichte. Aber es hätte mich frustriert, nur mit Verschiebungen, Ausfällen und Produktionen im Stau zu enden. Also sagte ich zu, noch bis Ende der Saison 2023/24 zu bleiben.
Es war für Sie nicht von Anfang an klar, dass Sie so lange bleiben?
Nein, überhaupt nicht. Es war immer wieder aufs Neue alle zwei Jahre eine echte Entscheidung.
Sie sagten, man hätte hier grosse Gestaltungsmöglichkeiten. Wie erklären Sie das?
Wir sind ein so kleines Team – eine Dramaturgin und ich machen das ganze Schauspielprogramm mit sieben Premieren. Alles wird von uns besetzt und entschieden, ich habe die Prokura für Personal und Programm. Da ergeben sich sehr viele Möglichkeiten, auch mit dem Jungen Theater zusammen.
Ich kann mit dem Team und dem Ensemble alles in die Hand nehmen und prägen. Das ist eine grosse Chance.
Wie haben Sie den Spielplan gestaltet? Von Zwängen wie Schulklassiker mal abgesehen.
Unser Leistungsauftrag gilt für alle Generationen, das ist eine pluralistische Veranstaltung. Es gibt drei Faktoren, die den Spielplan bestimmen: Personen, Themen und Texte. Personen – das sind die, deren Ideen und Projekte wir auf die Bühne bringen wollen und die, mit denen wir diese Vorhaben realisieren können und mit denen man gerne zusammenarbeiten will. Der zweite Faktor sind die Themen, von denen wir finden, dass wir sie verhandeln sollten. Und dann die Texte, alte oder neue, die zu «beleben» sind.
Der Spielplan ist eine komplizierte Tüftelei, weil das Budget beklemmend eng ist. Mit mehr Geld wäre unser Spielplan in relativ kurzer Zeit erstellt, aber so brauchen wir 10, 15 Varianten. Das Anstrengende ist, die Klassiker auf das herunterzudampfen, was wir vermögen. Aber dann stimmen sie oft dramaturgisch nicht mehr. Und wir müssen wieder neu überlegen.
Katharina Rupp
Katharina Rupp, geboren 1959 in Bern, ist seit 2007/08 Schauspieldirektorin des Theater Orchester Biel Solothurn (TOBS). Sie studierte Musik in Basel und Schauspiel an der Folkwang-Hochschule in Essen. Sie war 1985 bis 1996 Schauspielerin in Frankfurt, Nürnberg, dem Wiener Theater in der Josefstadt und am Theater Basel. 1997 wechselte sie ins Regiefach, inszenierte u.a. in Karlsruhe, Saarbrücken, Weimar, Münster, St. Gallen und Bern, arbeitete als Dozentin und drehte Dokumentarfilme. 2016 erhielt sie den Kulturpreis des Kantons Solothurn.
Foto: Roland Schmid
Theaterstadt mit Tradition
In den Spielplänen fallen immer wieder ungewöhnliche Projekte auf. 2021 «Ferferi» der Schauspielerin Atina Tabé über ihren Lebensweg als Flüchtling aus dem Iran. «Nichts geschenkt – eine kurze Geschichte der Frauenrechte in der Schweiz», ein Auftragswerk an Mirjam Neidhart über den langen Weg der Schweiz zum Frauenstimmrecht, und die Uraufführung des Visconti-Films «Bellissima», beide haben Sie selbst inszeniert. Und 2023 «Choc!» als Auftragswerk an Dominique Ziegler über das nicht ganz so süsse Schokoladengeschäft. Wie stemmen Sie so etwas? Das bringt doch sicherlich das ganze Haus an den Rand des Möglichen …
Ja. Das Haus, mich und mein Team. Diese Projekte könnten wir niemals mit unserem Budget stemmen, da sind wir auf Geldgeber angewiesen. Wir haben ein Publikum, das allergrössten Anteil nimmt, an dem, was wir tun, das uns begleitet, mit Engagement und Anteilnahme, zugewandt – aber überhaupt nicht unkritisch. Dieses kleine Solothurn ist eine wirkliche Theaterstadt mit einer langen Tradition: Im 16. Jahrhundert haben die Jesuiten das Theater gegründet, da gab es schon vor 400 Jahren einen Saal mit 1000 Plätzen!
Es gibt in dieser Stadt eine fantastische Bereitschaft, das Theater zu fördern, ein unglaubliches Privatmäzenatentum. Und je nach Thema und Projekt sind wir zusätzlich auf Unterstützung von Stiftungen angewiesen.
Und inhaltlich: Wie kommen Sie auf die Themen dieser Stücke, was reizt Sie?
Ich kann nicht immer sagen, wo die Initialzündung war für gewisse Stoffe. «Bellissima» war ein Stoff, der mich sehr beschäftigt hat als Film und mich als Anna-Magnani-Fan – da hängt sie! (zeigt auf ein Foto in ihrem Büro). Dazu kommen Ensemblemitglieder, die es umsetzen können. «Ferferi» etwa haben wir in der Pandemie entwickelt, aus dem Kinderbuch, das Atina Tabé über ihre Geschichte, ihre Flucht als Kind aus dem Iran, geschrieben hat.
Als ich sie bat, das zu einem Theaterstück umzubauen, ist der Text nur so aus ihr herausgeflossen. Und aus dem Kinderbuch wurde ein Stück für Jugendliche und Erwachsene. Oder wir wollten wieder mit der Autorin Mirjam Neidhart arbeiten. Das Frauenstimmrecht interessierte uns am meisten. Sie hat zwei Jahre recherchiert. Auch Dominique Ziegler hätte ein Zehn-Stunden-Schokoladenprojekt machen können.
Eben, die Stücke wirken allesamt sehr aufwendig. Da gönnen Sie sich etwas …
Na ja – gönnen … Es kommt immer der Punkt, an dem ich mich verfluche, das geplant zu haben, weil es einfach überbordet. Wenn man Verträge abschliesst, ohne das Geld bereits zusammenzuhaben – da habe ich schlaflose Nächte.
Am Schluss war ich aber doch immer froh, dass wir es gewagt haben.
Es sind doch auch solche Dinge, die einen am Laufen halten, oder nicht?
Ja, mit Sicherheit. Das verhindert jegliche Routine. Absolut.
Das Theater Orchester Biel Solothurn (TOBS)
Das Theater Orchester Biel Solothurn ist ein Städtebundtheater der Städte Biel/Bienne und Solothurn, die 1927 zusammengelegt wurden. 1995 gründeten die Gemeinden Biel und Solothurn mit der Orchestergesellschaft Biel – dem heutigen Sinfonie Orchester Biel Solothurn – die Stiftung Neues Städtebundtheater. 2011 wurde sie aufgelöst und unter dem Dach der Stiftung Theater und Orchester Biel Solothurn (TOBS) mit den Sparten Musiktheater, Konzert, Schauspiel und Tanz vereinigt. Das theaterpädagogische Angebot tritt auf unter dem Namen Junges Theater Biel Solothurn (JTBS).
Gespielt werden dieselben Stücke in Biel und Solothurn, wobei die Oper fünf Inszenierungen pro Saison in Biel/Bienne, das Schauspiel sieben Produktionen in Solothurn produziert. Dazu kommen Gastspiele u.a. am Theater Winterthur, Stadttheater Schaffhausen, Kurtheater Baden, Stadttheater Langenthal, Equilibre Fribourg.
Intendant und Operndirektor ist seit 2013/14 Dieter Kaegi, Konzertdirektor und Chefdirigent Yannis Pouspourikas, Katharina Rupp leitet das Schauspiel seit 2007/08, ab Sommer 2024 übernehmen Patric Bachmann und Olivier Keller.
Premiere «Switzerland» von Joanna Murray-Smith, 26.10.23, Theater Solothurn
Premiere «Cyrano» von Edmond Rostand, 18.1.24, Theater Solothurn,
Foto: Johannes Iff
Ein Ensemble, zwei Sprachen
Was für Folgen hat die Zweisprachigkeit für Ihre Arbeit?
Sie hatte fürs Schauspiel lange Zeit keine grossen Folgen, ausser dass man mit einigen Mitarbeitenden in Biel Französisch gesprochen hat und dass drei Stücke von uns in Biel übertitelt sein müssen. Das hat sich geändert, seit einigen Jahren gibt es auch von der Politik eine Animation, viel mehr die Sprachen zu mixen, dass jeder in seiner Sprache bleiben kann.
In «Choc! – Die Süssigkeit der Götter» steht ein zweisprachiges Ensemble auf der Bühne. Eine Premiere.
Auch unser Schauspielpublikum in Biel ist mehrheitlich deutschsprachig, denn für das französischsprachige Publikum gibt es das Nebia – Bienne Spectaculaire. Aber es wird der Versuch gestartet, wie jetzt bei «Choc!», auch einmal zweisprachige Stücke anzubieten. Das war ein Experiment, das sich ergeben hat, weil Dominique Ziegler als Genfer zwar Deutsch spricht, aber nicht sehr gerne.
Es war die Quadratur des Kreises, dieses Thema und die Sprachen zu verstricken.
Aber es funktioniert sehr gut und wird angenommen.
Ihre Nachfolger Olivier Keller und Patric Bachmann sind zweisprachig – ist das auch ein Zeichen, dass der Prozess intensiviert werden soll?
Ich glaube, da haben andere künstlerische Überlegungen den Ausschlag gegeben. Aber es ist sicherlich befördernd dazugekommen.
Traumstart beim ersten Probentag
Warum sind Sie eigentlich 1997 vom Schauspiel zur Regie gewechselt?
Ich wollte unbedingt und immer mehr Regie machen. Damals konnte man noch relativ leicht wechseln. Ich dachte lange Zeit, ich könnte Schauspielen und Inszenieren. Aber ich habe mich mit der anderen Seite so intensiv angefreundet, mit diesen vielen Herdplatten, auf denen man parallel kochen muss, …
Das ist ja ein schönes Bild!
Regie führen ist wie ein vielgängiges Menü zuzubereiten, jedes der Gewerke, jede Abteilung trägt dazu bei, auch das Timing ist wichtig. Diese verschiedenen Teile auf den Weg zu bringen, dazu habe ich durchaus eine grosse Affinität.
Was war Ihre schönste Erfahrung in Ihrer Zeit am TOBS?
Unser Start war ein Traumstart. Wir eröffneten mit «Der Revisor» von Gogol. Am ersten Probentag war ich so aufgeregt, als sich alle das erste Mal begegneten.
Es funkte sofort!
Der Start mit diesem Ensemble, das sich gegenseitig so befeuert und potenziert hat, das war einfach toll. Ein unglaublicher Katalysator.
Und die schlimmste?
Dieser Betrieb ist so komplex, mit diesen zwei Theatern, den geteilten Abteilungen, den Gastspielen in der ganzen Schweiz. Gleichzeitig ist das Budget so eng, weil es seit zehn Jahren eingefroren ist – trotz nachlassender Kaufkraft.
Das TOBS ist eine ausgepresste Zitrone, wir alle kämpfen wie die Idioten darum, es mit Qualität am Leben zu halten, im Zustand permanenter Überarbeitung, mit minimalen Gagen und schlaflosen Nächten.
Und dann kommt dieses Plakat der Bieler SVP zur Abstimmung über den Leistungsvertrag mit der dürren Kuh, die von der bösen, fetten Melkmaschine TOBS ausgesaugt wird. Das ist dermassen skandalös! Diese Dummheit, nicht zu sehen, dass wir ein ganz elementarer Standortfaktor sind und mit 250 Beschäftigten auf 120 Vollzeitäquivalenten auch ein wichtiger Arbeitgeber. Dass wir sozial und kulturell wichtig sind für die Region, die Menschen. Dieses Plakat finde ich ganz schlimm, respektlos gegenüber einer ganzen Branche.
Der Leistungsvertrag wurde angenommen. Wie geht es jetzt weiter?
Die Bieler Stimmbevölkerung hat mit 62 % Ja gesagt. Es war wunderbar zu sehen, wie viele sich dafür engagiert haben. Ihnen gilt ein grosses Dankeschön!
Theater für die Menschen von hier
Was geben Sie Ihren Nachfolgern Patric Bachmann und Olivier Keller mit auf den Weg?
Den Betrieb nicht zu unterschätzen. Alle, die zuerst hierherkommen, tun das. Ich dachte auch, ich hätte genug Zeit, wieder reiten zu gehen. Wissen Sie, wie oft ich reiten war?
Einmal?
Keinmal. Das TOBS ist ein Nonstop-Laden. Auch das versuche ich weiterzugeben. Aber es scheint nicht, als wollten die beiden alles neu machen, einen radikalen Schnitt. Sie wissen, dass man hier sehr viel Know-how nutzen kann, um sich das Leben kreativer gestalten zu können.
Also geben Sie ihnen Detailwissen mit?
Ja, so viel wie möglich, und ich sage: «Beachtet die Region. Macht Theater für die Menschen von hier!» Das planen sie bereits, und das finde ich sehr klug.
Am 26. Oktober 2023 hat am TOBS Joanna Murray-Smith’ «Switzerland», am 18. Januar 2024 «Cyrano» von Edmond Rostand Premiere – beide Werke werden Sie inszenieren. Führen Sie auch danach weiter Regie?
Das Kerngeschäft hat mir immer grossen Spass gemacht.
Aber ich bin nicht unglücklich, das ganze Drumherum jetzt abgeben zu können.
Ich bin im Vorstand vom ITI Schweiz, das werde ich intensiver gestalten.
Vielleicht gehen Sie auch mal reiten?
Ja, vielleicht.