Zwei Seiten desselben Spiels: Blick von der Bühne in den Zuschauerraum des Schauspielhaus Pfauen in Zürich.

Zwei Seiten desselben Spiels: Blick von der Bühne in den Zuschauerraum des Schauspielhaus Pfauen in Zürich.

Bild: Gaetan Bally/Keystone

Über Kritik am Theater

Kot, Kunst und Kritik

Die Hundekot-Attacke des Regisseurs Marco Goecke auf die Tanzkritikerin Wiebke Hüster hat der Diskussion rund um die gute alte Rezension auftrieb gegeben. Was aber kann und soll die Kritik heute überhaupt noch leisten? Was sind die Erwartungen an sie? Und wie könnte sich dieses Text-Genre trotz der immer schneller voranschreitenden Fragmentierung des Kulturbetriebs in die Zukunft retten? Der Versuch einer Antwort unserer Theaterkritikerin Valeria Heintges.

Von Valeria Heintges

Zürich, 02.03.2023

6 min

Nun ist also die Kritik endgültig auf den Hund gekommen. Schlimmer noch: Auf die Hundescheisse. Der mittelbare Übeltäter heisst Gustav und ist ein Dackel. Er ist im Besitz von Marco Goecke, bisher Ballettchef an der Staatsoper Hannover. Gustavs Exkremente landeten erst in einem Hundekotbeutel, dann im Beutel in der Jackentasche seines Herrn und schliesslich im Gesicht der Tanzkritikerin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), Wiebke Hüster.

Der Vorgang ist ekelhaft und indiskutabel, die Folgen liessen nicht auf sich warten: Goecke ist nicht mehr Ballettchef der Staatsoper Hannover; das Nederlands Dans Theater in Den Haag lässt die Zusammenarbeit mit ihm ruhen, das Nationaltheater Mannheim eine Premiere im April ohne ihn stattfinden. Hüster und die FAZ haben Goecke wegen Beleidigung und Körperverletzung angeklagt.

Goecke begründete die Attacke auf die FAZ-Kritikerin seinerseits damit, dass Hüster schuld sei am Rückgang der Abozahlen in Hannover.

Die Wirkung der Kritik nicht überschätzen

Ohne die überregionale Bedeutung der FAZ kleinzureden, bleibt doch festzuhalten, dass der Grund woanders liegen muss. Zumal die Zeitung ihren Schwerpunkt in Frankfurt hat, der Vorfall aber im 350-Kilometer entfernten Hannover stattfand. Lokale Medien mögen die Auslastung der Theater ihrer Stadt, überregionale eher die Karrieren der Künstler beeinflussen können. Aber man sollte beides nicht überschätzen.

Um ein aktuelles Beispiel zu nehmen: Die regionalen und überregionalen Kritiken zu Aufführungen des Schauspielhaus Zürich waren sehr positiv, die Zuschauersäle leerten sich trotzdem. Die Berichte in den lokalen Medien zur Arbeit der Intendanten, in denen die Ästhetik eine eher untergeordnete Rolle spielte, konnten dann aber wohl die Stimmung in der Politik gegen das Leitungsduo drehen.

Das Verhältnis von Kunst und Kritik ist schon immer ein schwieriges. Nicht erst, seit Karin Beier, Intendantin des Deutschen Schauspielhauses Hamburg erklärte, die Kritik klebe an den Künstlern «wie Scheisse am Ärmel». Anscheinend liegen fäkale Analogien irgendwie in der Natur der Sache.

Online-Medien springen in die Bresche

Längst ist evident, dass die Plätze für Theaterkritik in allen Medien rückläufig sind. Tageszeitungen verzichten immer mehr darauf, das Schaffen der Theater in ihrer Stadt kritisch zu begleiten, in der Schweiz stärker als in Deutschland, etwas weniger im theatervernarrten Österreich. Dieser Rückgang betrifft vor allem die kleineren Häuser und die Freie Szene. Niemand jammert darüber lauter als die Theater selbst.

Online-Medien versuchen, in die Bresche zu springen, am deutlichsten das Portal Nachkritik.de, das mit 50 Kritiken monatlich den gesamten deutschsprachigen Theaterraum berücksichtigt. Seit 15 Jahren versucht es, die Einbahnstrasse aufzulösen, will Kritik nicht als unumstössliches Monument sehen, sondern in einen Diskurs setzen. So spannend wie die veröffentlichten Rezensionen sind die Kommentare dazu, in denen emotional und kenntnisreich diskutiert wird – eine strenge Netiquette schützt vor unsachlichen Ausrutschern.

Die fünf goldenen Regeln im Umgang mit der Kritik

Unter dem Nachtkritik-Beitrag über die «Hundekot-Affäre» kommentierte Thomas Bockelmann, der im Sommer 2021 als Intendant des Theaters Kassel in den Ruhestand ging, diese «fünf goldenen Regeln für den Umgang von Künstlern mit Kritik»:

  1. Beklage Dich nie über eine schlechte Kritik.
  2. Bedanke Dich nie für eine gute Kritik.
  3. Betätige Dich niemals als Kritiker.
  4. Die Welt ist Dir nichts schuldig.
  5. Du ihr aber auch nicht.

Die ersten drei Regeln sollen vom Musiker und Autor Sven Regener stammen, die letzten beiden sind wohl Bockelmannsche Zutaten. Letztlich wird den Künstler:innen also geraten, den Kritik-Diskurs nur passiv zu verfolgen. Im Gegenzug wird ihnen aber eine mentale Unabhängigkeit gewährt, und sie werden aufgefordert, konsequent die eigene Linie zu verfolgen.

Eine Rückversicherung für die Kunst

Im günstigen Fall kann Kritik als Spiegel für die Künstler:innen fungieren. Zuschauer:innen haben ja nur wenige Möglichkeiten, ihre Meinung zu äussern: Sie können eine Karte kaufen oder nicht, können klatschen oder buhen und ihre Meinung auf Social Media kundtun. Kritiker:innen hingegen geben eine differenzierte, im besten Fall fundierte Meinung ab, interpretieren und kommentieren das Gesehene: Regie, Schauspiel, Bühnenbild, Kostüme. Vielleicht vertiefen sie einzelne Aspekte, eine Szene, ein Musikstück, eine Anspielung auf andere Künste. Sie können Rückversicherung sein für die Kunst, sind externe Betrachter, nicht verstrickt in die Interna des Hauses.

Meistens funktioniert das Verhältnis zwischen Kunst und Kritik auch genau so. Oft, meistens sogar, ist es von gegenseitiger Wertschätzung geprägt, die um die gegenseitige Abhängigkeit weiss.

Wobei Theater vielleicht ohne Kritik stattfinden kann. Aber Kritik sicherlich nicht ohne Theater.

Die vier Probleme der Kritik

Allerdings haben sich in letzter Zeit vier Punkte verschärft:

1. Da die Kunst zunehmend fundamental in Frage gestellt wird – inhaltlich, finanziell –, verlangt sie von der Kritik grundlegende Wertschätzung, sogar Unterstützung. Aber Kritiker:innen müssen eine gewisse Distanz wahren, sie sind nicht die verlängerten Arme der Marketing-Abteilung; vielmehr macht ihre Arbeit nur Sinn, wenn sie sich nicht mit den Anliegen der Theater gemein machen. Auch diesen Punkt hat Marco Goecke grundlegend missverstanden.

2. Eine gute Kritik setzt ein umfassendes Wissen voraus, das immer schlechter zu erlangen ist. Kritiker sollten die Originale der Texte kennen, die auf der Bühne behandelt werden. Aber wer zahlt ihnen die Lektüre von Manns «Zauberberg», Tolstois «Anna Karenina» oder Grossmans «Eine Frau flieht vor einer Nachricht»? (Alles übrigens realistische Beispiele)

Auch wird es immer schwerer, Anspielungen auf Filme zu verstehen – wer kennt schon die Filme sämtlicher Streaming-Anbieter, das analoge Programm plus die gerade angesagten Streifen Kino? Die Fragmentierung des Wissens durch das Internet macht die Aufgabe fast unlösbar.

3. Dazu kommt ein Phänomen: Kunst, die dem Publikum gefällt, ist nicht unbedingt die, die Kritiker mögen. Sie nehmen so viele Werke zur Kenntnis, dass sie natürlich lieber mit etwas Neuem überrascht werden als dass sie zum x-ten Mal den Klassiker in einer gefälligen Ästhetik sehen. Das Phänomen gibt es in allen Künsten gleich: Kinokritiker lieben Arthouse-Filme, die Mehrheit des Publikums strömt in Multiplex-Kinos. Museen sind gehalten, zeitgenössische, unbekannte Künstler zu entdecken, aber Besucher:innen strömen in die Ausstellungen der grossen Meister. Literaturkritiker lieben andere Bücher als die, die es in die Bestseller-Listen schaffen. Sicherlich, von solchen Phänomenen können und müssen Kritiker:innen abstrahieren, aber wo ihre persönlichen Präferenzen liegen, dürfte klar sein.

4. Zudem beklagen viele Kulturinstitutionen die Fragmentierung ihres Publikums, sprechen deshalb von Publikas, um diese Aufsplittung deutlich zu machen, keine schöne, aber eine einleuchtende Wortschöpfung. Kritiker:innen aber sollen sich alles anschauen und alles objektiv und angemessen beurteilen. Das können sie gar nicht.

Kritik darf persönlich sein

Ein Ausweg ist es, das Gesehene ausführlich zu beschreiben. Anhand dieser Passagen können die Lesenden selbst entscheiden, ob das Werk ihnen gefallen würde. Dann aber müssen die Kritiker:innen das Recht haben, zu einem klaren Urteil zu kommen – vor dem Hintergrund ihrer Erfahrung und ihrem Fundus an gesichteten Arbeiten. In diesen Absätzen brauchen sie nicht mehr objektiv zu sein.

Dann dürfen sie auch zu Einschätzungen kommen wie die FAZ-Kritikerin Hüster, die Goeckes Inszenierung «In the Dutch Mountains» zwar positive Passagen abgewinnen kann, dem Abend aber insgesamt bescheinigt, das Publikum werde «abwechselnd irre und von Langeweile umgebracht». Und die Kritiker:innen dürfen das tun, ohne, dass sie sich hinterher Gustavs Exkremente aus dem Gesicht waschen müssen.