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Gerda Steiner und Jörg Lenzlinger laden im Mühlerama in Zürich in ein überbordend-poetisches Brotuniversum.

Bild: Mathias Balzer

Das Künstlerpaar Steiner & Lenzlinger

Backen macht glücklich. Kunst kann das auch.

Gerda Steiner und Jörg Lenzlinger entwerfen mit ihren Installationen ausufernde Welt-Analysen. Fantasie, politische Haltung, Erfindungsreichtum und leichtfüssiger Humor prägen ihr Schaffen. Nun haben sie sich einem Grundnahrungsmittel angenommen – dem Brot. Wir haben das Künstlerpaar beim Aufbau ihrer Ausstellungen im Mühlerama und im Friedhof Forum in Zürich besucht.

Von Mathias Balzer

Zürich, 08.09.2022

9 min

Am Anfang war das Brot. Die Erfindung des Weizenanbaus hat die Menschheit sesshaft gemacht, war die Grundlage für die Entstehung früher Hochkulturen vor ungefähr 8000 Jahren. So die allgemeine Lehrmeinung. Aber stimmt das wirklich? Am langen Mittagstisch im Mühlerama in Zürich wird darüber diskutiert. Neuere Forschungsergebnisse würden ein anderes Bild zeichnen, so einer der Mitarbeiter des Museums für Esskultur, wie sich das Mühlerama auch nennt. Direktor Pius Tschumi hat für seine Mitarbeiter, die Künstler und den Journalisten gekocht, Fusili mit Zucchetti und Tomaten aus dem Garten von Gerda Steiner und Jörg Lenzlinger.

Das renommierte Schweizer Künstlerpaar lebt und arbeitet seit Jahren im alten Schulhaus im baselländischen Langenbruck. Von dort aus bespielen sie mit ihren gross angelegten Installationen Museen weltweit, von Melbourne über Venedig bis Rio de Janeiro, von Tokio bis Rotterdam. 2018 zeigten sie ihre bisher umfassendste Schau im Museum Tinguely in Basel. Dort war zu sehen, wie die Beiden seit 1997 an ihrem Gesamtkunstwerk arbeiten. Ein Werk, das auf einmalige Weise wissenschaftliche Herangehensweise, künstlerische Fantasie und Humor vereinigt. Ein Werk, das sich von Ausstellung zu Ausstellung konsequent weiterentwickelt.

Die beiden Kuenstler Gerda Steiner, links, und Joerg Lenzlinger posieren mit Direktor Roland Wetzel in ihrer Ausstellung

Gerda Steiner und Joerg Lenzlinger posieren in ihrer Ausstellung «Too early to panic.», 2018 im Museum Tinguely in Basel. Bild: Ennio Leanza/Keystone

In ihren schwebenden Gärten, wuchernden Labors und ausufernden Materialsammlungen werden die Grenzen von Zivilisation und Natur, Innen- und Aussenleben radikal hinterfragt. Ebenso konsequent erfinden Steiner und Lenzlinger laufend neue Formate, in welchen sie die Besucher zu Aktionen animieren und sie zu Teilhabenden am Kunstwerk werden lassen. Anlässlich ihrer überbordend verspielten Installation «Nationalpark», 2013 im Bündner Kunstmuseum, brachten sie auf den Punkt, was sie ihrem Publikum unter anderem schenken möchten: Ein Stück innere Verwilderung.

Eine lang angelegte Recherche

Und nun also das Brot. Auf das Thema gestossen ist das Künstlerpaar dank einer Einladung für eine Schau an der Manifesta 2020 in Marseille – die, pandemiebedingt, erst im Herbst 2021 im Kunstzentrum FRAC eröffnet wurde. Auf ihren Recherchen entdeckten die Künstler auf den Märkten der maghrebinischen Einwanderer deren vielfältige Backkultur, in einer Museumsausstellung den Reichtum an Brotformen rund um das Mittelmeer. Das Thema war gesetzt. Sie begannen ihre Recherchen zur Geschichte und Politik des Weizens, zu unterschiedlichen Anbau- und Backformen, fingen an Brote zu sammeln – und zu erfinden. Die daraus entstandene Ausstellung «Copains» haben sie nun für Zürich adaptiert und weiterentwickelt.

Das Mühlerama in Zürich ist selbstredend der richtige Ort, um über Weizen und Brot nachzudenken. Die 1986 in ein Museum umgebaute Industriemühle aus dem Jahr 1913 ist an sich schon ein sehenswertes, architektonisches Wunderwerk, das sich über vier Stockwerke erstreckt. In den rundherum angesiedelten Räumen breitet sich nun Steiner/Lenzligers Brotuniversum aus. An seinem Eingang steht ein Altar, die Ouverture zum Rundgang. Back- und Ernteutensilien, Weizensorten, getrocknete Ähren, Kornblumen, aber auch wuchernde Kristallisationen aus Düngemittel, Industrieprodukte wie Aromat, Bilder traditioneller und industrieller Anbau und Verarbeitungstechniken. Die Komplexität des Themas ist hier bereits ausgebreitet. Brot ist immer auch Politik.

Gerda Steiner erzählt, wie sie bereits 1998 auf einer Indienreise damit konfrontiert wurden. Damals begannen die landesweiten Demonstrationen gegen die Monopolisierung des Saatguts. Wer Brot hat, hat Macht. Das ist aktuell auch an der Weizenkrise abzulesen, die der Ukraine-Krieg auslöst. Die politische Dimension des Brots zieht sich denn auch durch die ganze Ausstellung, von der Brot- und Spiele-Politik der Römer bis zur aktuellen politischen Instrumentalisierung des Nahrungsmittels im Nahen Osten. Ebenso wird unsere Entfremdung vom alltäglichen Brot thematisiert, ausgelöst durch die industrielle Massenproduktion. Was früher von der Ernte bis zum Dorf-Ofen ein soziales Gemeinschaftswerk war, ist heute Sache der Roboter und Lebensmitteldesigner.

Politisch denkende Poeten

Im Mühlerama sind aber nicht politische Aktivisten am Werk, sondern zwei politisch denkende Poeten. Was sie über vier Stockwerke ausbreiten ist vor allem auch eine Feier des Brots, eine überschwängliche Hommage an den Reichtum von Formen, Traditionen und Backweisen. Bei unserem Besuch sind die Künstler mit dem Feinschliff beschäftigt, vor allem mit der Verteilung der Texte, die neben den beinah 1000 (!) versammelten Broten die zweite Inspirationsebene bilden. Ein Balance-Akt, zu dem Jörg Lenzlinger sagt: «Wir müssen schauen, dass wir nicht zu viel Hunger zeigen. Es braucht auch etwas Schlaraffenland.» Denn das ist die Ausstellung in der Tat, ein veritables Brot-Universum.

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Da gibt es die realen Brote. Etwa den Tisch mit Broten aus Zürcher Bäckereien, verbunden mit deren Geschichte. Oder die Sammlung von Broten aus dem arabischen und asiatischen Raum. Oder diejenige aus Frankreich, aus der Innerschweiz, die Brote aus Russland, aus Italien, die Sammlung von Hostien, das Agathenbrot, die dreibrüstige Brotgöttin aus Frascati oder den «Schweizer» aus Valence.

Unter diese an sich bereits erstaunliche Sammlung mischen sich Fantasie-Brote wie etwa: das Schaumstoffbrot, das Erd- und das Teerbrot, das Brot mit eingebrannter Fernbedienung, das psychedelische Brot mit Mutterkornzusatz, das Golfrasen- oder das Einzeller-Brot.

Die dritte Abteilung sind die Künstler:innen-Brote wie: «Aus der Backstube des Denkens» von Peter Radelfinger, «Geschnitztes Brot» von Rochus Lussi oder das «Blökende Brot» von Kuno Schaub.

Zur Interaktion laden die Künstler im Brösmeli-Labor, wo die Besucher:innen Brotkrumen unters Mikroskop legen und die Bilder ausdrucken können. In der stockdunklen Brotdegustationskabine darf man sich ganz und gar auf den Geschmack von Brot konzentrieren.

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Die oben genannten Texte zum Thema formen eine kunterbunte Zettelwirtschaft aus realen und surrealen Titeln, seriösen Informationen, kalauernden Wortspielen, poetischen und sakralen Sinnsprüchen. Jiddi Krishnamurti, Laotse oder Hermann Hesse kommen ebenso zu Wort, wie wissenschaftliche oder historische Quellen.

«Backen macht glücklich – und ist auch eine der Kunst verwandte Tätigkeit», sagt Gerda Steiner während dem Rundgang. «Kunst kann glücklich machen», könnte man entgegnen, sofern man den Zustand der Inspiration als Glück empfindet. Das (Back-)Rezept zur Kunst von Steiner und Lenzlinger funktioniert auch zum Thema Brot. Ihre Mischung aus Faktischem, Kommentar, Fantasie, Verspieltheit, politischer Haltung, Spiritualität und Humor bereitet uns einmal mehr einen Weltzugang, bei dem Komplexität nicht überfordernd, sondern bereichernd wirkt. Am anderen Ende der Stadt, im Friedhof Forum Sihlfeld, gelingt es ihnen sogar das lebensspendende Brot mit dem Tod zu verknüpfen.

Gerda Steiner & Jörg Lenzlinger «Copain» Mühlerama Zürich, bis 18. Juni 2023

Frida_Magazin: Gerda Steiner und Jörg Lenzlinger zeigen «Tod - unser täglich Brot» im Friedhof Forum Zürich.

«Tod – unser täglich Brot»

Parallel zur Ausstellung im Mühlerama zeigen Gerda Steiner und Jörg Lenzlinger im Friedhof Forum Zürich die Installation «Tod – unser täglich Brot».

Im Sommer 2022 hat das Künstlerpaar auf dem Friedhof Sihlfeld ein 400 Quadrameter grosses Weizenfeld mit unterschiedlichen Sorten angelegt. Der geerntete Weizen wurde ins Mühlerama ins Seefeld transportiert, wo daraus wiederum Kunstbrote für die Ausstellung «Copain» gebacken werden.

Im Ausstellungsraum Friedhof Forum verknüpfen die Künstler das Thema Brot mit Tod und Sterben. Sie tun dies auf überraschend verspielte Weise: Totenschiffe aus Brot, eine Mehluhr, deren Zeit nicht verrinnt, Miniatur-Särge für Pestizid-Opfer, ein Mobile aus Brotrinden, Herzschrittmacher und Zigarettenfilter – all dies versammelt sich zu einem Panoptikum, in welchem das Sterben transformiert wird. Oder wie der in der Ausstellung zitierte Philosoph Jiddu Krishnamurti sagt: «Wo der Tod ist, entsteht etwas völlig Neues.˚

«Tod – unser täglich Brot», Friedhof Forum Zürich, bis 13. Juli 2023.