Elsbeth Böniger (*1945) Kolibri, 1980, bei FRIDA Magazin

Die Zürcher Künstlerin Elsbeth Böniger (*1945) hat «Kolibri» 1980 gemalt, in Mischtechnik, auf Papier.

Bild: Sammlung Glarner Kunstverein

Kunst-Kolumne

Und täglich grüsst der Kolibri

In der Kolumne «Staub und Häppchen» holt Naomi Gregoris jeden Monat ein Kunstwerk aus dem Archiv eines Schweizer Museums und verhandelt an ihm aktuelle Gesellschaftsthemen. Diesmal geht es um die Frage: Kann Kunstbetrachtung auf dem Handy funktionieren?

Von Naomi Gregoris

Basel, 08.08.2023

4 min

Diese Sommerferien nahm ich zum Anlass, die Kolumne für einmal etwas anders zu gestalten. Statt mir ein Thema zu suchen, das gerade alle beschäftigt, drehte ich den Spiess um (der Schlenker «Barbie in der Kunstgeschichte» ist Ihnen somit erspart geblieben, gern geschehen!): Ich suchte mir ein Bild und liess mich davon beschäftigen.

Kurz vor Anbruch der Ferien wählte ich in der digitalisierten Sammlung eines Museums ein Werk, das ich zwei Wochen als Sperrbildschirm auf meinem Handy in den Schwarzwald mitnehmen würde. Eine unkonventionelle Art der Bildbetrachtung, zugegeben, aber Ferien bedeutet keine Kita, sprich Kinder rund um die Uhr, da muss man sich was einfallen lassen.

Meine Wahl fiel auf «Kolibri» der Zürcher Künstlerin Elsbeth Böniger, ein Werk aus der Sammlung des Kunsthaus Glarus (übrigens ein Bijou von einem Museum, falls Sie mal in der Gegend sein sollten).

Kunst für die Hosentasche

Es ist, kurz gesagt, ein Bild, an dem man sich nicht sattsehen kann. Auf den ersten Blick ist es angenehm symmetrisch, ein bunter Rorschach-Test in weiss, rosa und blau. Beim zweiten Hinsehen treten Vogelköpfe hervor, heitere Schwäne, meinetwegen Kolibris, aufgefächert wie in einem Kaleidoskop. Ab da geht es nur noch tiefer hinein. Perfekt. Ich speicherte es als Bild auf dem Sperrbildschirm und steckte das Handy in die Hosentasche.

Das erste Mal schaute ich wieder drauf, als ich eingeklemmt zwischen zwei Kindersitzen im Auto sass. Draussen war Stau, das Bild war grotesk verzerrt, mein kunsthistorisch geschultes Ego (nie! die Abbildung dem Original vorziehen!) starb Tausend qualvolle Tode. Die Schwäne verschmolzen zu einer hämisch grinsenden Maske. Mir wurde schlecht, ich legte das Handy weg.

Später am Tag stand ich in der Küche des Ferienhauses und wollte ein Rezept googeln, als die Schwäne wieder auftauchten. Mir fielen die roten Flecken unter ihren Schnäbeln auf, hellrot wie Blut, das die Leinwand hinunterläuft. Ich schauderte.

Dazu muss ich sagen, dass mir Elsbeth Böniger bis anhin kein Begriff war. Aus meiner kurzen Recherche weiss ich, dass sie aus Zürich stammt und Mitte dreissig war, als sie dieses Bild malte. Wie ich. Das bedeutet an sich nichts, aber es dient mir zur Projektion. Wieso malte sie, was sie malte, wieso sehe ich, was ich sehe?

Die schwierigste aller Fragen

Ich erinnerte mich an Sigmar Polkes «Reiherbild III», vor dem ich Anfang meiner Studienzeit einmal zwei Stunden lang sass, verkatert, aber motiviert, und mein liebster Kunstgeschichte-Professor die einfachste und zugleich schwierigste Frage stellte: Was seht ihr?

Ein hässliches Bild, lautete damals meine Antwort. Es erinnerte mich an einen Holzstich, den meine Grosseltern in ihrem beigen Badezimmer aufgehängt hatten. Schwarze Reiher waren mir suspekt, ein verkitschter Vogel mit unsinnigen Proportionen. Aber mein Professor war hartnäckig. Geht in euer Gefühl, sagte er sinngemäss, haltet aus, hinterfragt.

Es waren die anstrengendsten und lehrreichsten Stunden, die ich je in einem Museum verbracht habe.

Mir wurde bewusst, dass Kunst nicht als Darstellung, sondern als Einladung verstanden werden kann.

Sie öffnet einem eine Tür, durch die man oftmals nicht geht, weil man keine Zeit hat, keine Musse, keine Energie. Tut man es doch, bereichert sie das Leben. Billig wie ein Reiher, diese Aussage, aber anders kann ich es nicht formulieren. Als hätte man ein Zimmer mehr in der Wohnung, als gäbe es eine Farbe mehr auf dem Spektrum.

Natürlich hatte ich im Schwarzwald keine Zeit für eine ausgiebige Kunstbetrachtung und doch leuchtete mir «Kolibri» unablässig entgegen, vom Bildschirm dieses Geräts, das ich hundertmal pro Tag in die Hand nehme. Ich trat also irgendwann ganz von selbst durch die Tür. Und als hätte ich mir zum ersten Mal Kontaktlinsen eingesetzt, wurde ich aufmerksamer, sah schärfer, erfreute mich an Details. Ich fand zwei gelbe Pilze im Bild und kurz darauf, während eines Spaziergangs im Wald, ihr Pendant. Freute mich wie ein Kind über diese Magie, die ich allein verstand.

Mittlerweile habe ich «Kolibri» unzählige Male gesehen. Manchmal kurz, manchmal länger, manchmal eine gefühlte Ewigkeit, vor dem Einschlafen im kleinen Bett im Dachstock des Ferienhauses. Die Kinder schliefen, die Balken knarrten, die Kolibris surrten, eine wunderbare Verschmelzung von Sphären.

Und «Kolibri» hat mich gesehen, bilde ich mir ein, in den glücklichsten und hässigsten Momenten dieser zwei Wochen. Was sollte Kunst mehr sein als das: ein enger Begleiter, ein Fernrohr, ein Mikroskop. Die Ferien sind mittlerweile vorbei, «Kolibri» ist immer noch mein Sperrbildschirm.