«Susanna und die beiden Alten» von Francesco Capella (1714–1784), genannt il Daggiù. Um 1745/1750. Öl auf Leinwand. Kunsthaus Zürich.

«Susanna und die beiden Alten» von Francesco Capella (1714–1784), genannt il Daggiù. Um 1745/1750. Öl auf Leinwand. Kunsthaus Zürich.

Bild: zvg Kunsthaus Zürich

Kunst-Kolumne

Wir alle sind Teil des grausamen Spektakels

Was kann uns eine biblische Figur über die aktuellen Vergewaltigungsvorwürfe gegen die Band Rammstein lehren? Eine kleine Kulturgeschichte zwischen Bibel und Popkonzert.

Von Naomi Gregoris

Zürich, 07.06.2023

5 min

Ende Mai schrieb eine Irin namens Shelby Lynn auf Twitter und Instagram, sie sei nach einem Rammstein-Konzert in Vilnius backstage unter Drogen gesetzt und vom Sänger Till Lindemann zum Sex aufgefordert worden, der wütend reagierte, als sie ablehnte. Dazu postete Lynn Fotos von Verletzungen, mit der Angabe, sie könne sich nicht daran erinnern, wie diese zustande gekommen seien.

Die Band dementierte den Vorfall per Twitter und bat darum, Vorverurteilungen zu unterlassen – sowohl der Band wie auch des mutmasslichen Opfers gegenüber. Eigentlich sollte hier ein Plural stehen, denn Lynns Post folgten etliche Wortmeldungen von Frauen, die ebenfalls von Gewalterfahrungen mit Rammstein berichten.

Sexualisierte Gewalt ist ein grauenhafter Strafbestand – allerdings einer, der sich sehr selten beweisen lässt. In der Schweiz hat eine von fünf Frauen über 16 ungewollte sexuelle Handlungen erlebt, aber nur acht Prozent der Betroffenen erstatten Anzeige. Grund dafür ist ein veraltetes Sexualstrafrecht (das sich momentan in Reform befindet), das für die Anerkennung von Vergewaltigungen ein Ausüben von Gewalt voraussetzt, welches vom Opfer «bewiesen» werden muss.

Aber das ist nicht die einzige Hürde. Mindestens ebenso schwer wiegt die Tatsache, dass sexualisierte Gewalt während Jahrhunderten banalisiert wurde – und die Kunstgeschichte liefert als Spiegel der Gesellschaft wie immer eindringliche Beispiele dazu.

Die Gerettete

Zur Veranschaulichung wähle ich eine berühmte biblische Geschichte, in der es um sexuelle Nötigung geht: Susanna im Bade. Kurz erzählt: Eine reiche, verheiratete Frau will sich baden. Zwei Männer spüren sie auf und wollen sie zum Beischlaf zwingen. Sie sagen ihr, dass sie ansonsten die Anklage erheben, Susanna habe Ehebruch mit einem jungen Mann begangen.

Susanna bleibt standhaft, schreit, die Männer ebenso, die Diener:innen eilen herbei, am nächsten Tag wird Anklage erhoben und Susanna zum Tode verurteilt. Woraufhin Gott einen Jüngling dazu «erweckt», die Wahrheit zu verkünden. Das Unterfangen endet erfolgreich, Susanna bleibt am Leben, Daniel wird gefeiert, die Täter getötet.

Das Bild dazu befindet sich in der Sammlung des Kunsthaus Zürich und ist ziemlich klassisch für einen Alten Meister mit diesem Motiv (von denen es etliche gibt): Susanna mit der unschuldigen porzellanweissen Haut steht am geschwungenen Waschstein und schaut angsterfüllt nach oben. Ihre linke Hand widerspricht dem Gesichtsausdruck: Unmissverständlich weist sie ein STOPP aus, die fünf kräftigen Finger ausgespreizt.

Die Geste betrifft mehr uns als die beiden Männer, die links im Halbschatten lauern und Susanna nötigen. Halt, scheint sie zu sagen, seht hier nicht, was ihr zu sehen denkt. Sie macht uns zu Täter:innen, und sie ist nicht die Einzige: Auch der eine Mann macht eine Geste mit seiner Hand: Kommt her, vermitteln die gebeugten Finger, macht mit.

Vergewaltigung bei den Alten Meistern

oder «rape», wie es auf Englisch heisst, stammt vom lateinischen Wort «raptus». Es meint weniger eine Vergewaltigung im heutigen Sinn als eine Entführung oder ein Entreissen. Der Frau ist in diesem Szenario der Alten Meister nicht einmal die Rolle des Opfers vergönnt: Während der Täter oftmals heroisiert wird (getarnt als gewaltsame «Eroberung», etwa beim weltberühmten Motiv «Raub der Sabinerinne»), ist nicht etwa die vergewaltigte Frau, sondern ihr Mann das Opfer dieser Übeltat – ihm wurde die Unversehrtheit «seiner» Frau genommen. Was hier entrissen wird, ist die Unschuld eines Frauenkörpers – der dem Mann gehört. Leidtragende ist folglich nicht die Frau, sondern der Eigentümer ihres Körpers – ihr Ehemann oder Vater. Bei Susanna gibt es eine weitere Dimension, es gibt nicht nur den männlichen Täter und das männliche Opfer (ihr Mann), sondern auch noch den männlichen Retter und Held. Na Hallelujah. (Naomi Gregoris)

Was hat das nun alles mit Rammstein zu tun? Auch in dieser Diskussion gibt es eine Art der gewaltvollen Partizipation, ausgeübt von den Fans, die die Anklage erhebenden Frauen in den sozialen Medien aufs Gröbste beleidigen und diffamieren. Klar, könnte man sagen, es gilt schliesslich die Unschuldsvermutung. Aber genauso gilt eine Schuldsvermutung. Frauen, die berichten, was ihnen mutmasslich geschah, ist nicht dasselbe wie eine Drittperson, die besagte Frauen beleidigt, nur weil sie*er ihnen keinen Glauben schenkt.

Nicht nur die Fans stellen sich auf eine Seite – auch ein signifikanter Teil der Öffentlichkeit hat das bisher getan: Der Leadsänger Lindemann veröffentlichte vor drei Jahren das Buch «100 Gedichte», in dem er unter anderem Vergewaltigungsfantasien schildert:

«Ich schlafe gerne mit dir, wenn du schläfst/
Wenn du dich überhaupt nicht regst (…)
Etwas Rohypnol im Wein (etwas Rohypnol ins Glas).»

Es gab einen kleinen Aufschrei, Lindemanns Verlag (und zahlreiche Feuilletonist:innen) argumentierten darauf mit dem lyrischen Ich, das nicht zu verwechseln sei mit dem Autor. Case closed. (Seit den aktuellen Vorwürfen hat besagter Verlag die Zusammenarbeit mit Lindemann beendet.)

Da tut eine Susanna gut

Allzu schnell greifen bei Vergewaltigungsvorwürfen althergebrachte Mechanismen: Die Frau will sich aufspielen, die Frau ist selbst schuld, die Frau wusste, worauf sie sich einlässt. Dabei liegt die Falschbeschuldigungsrate von angezeigten Vergewaltigungen bei gerade mal drei Prozent.

Da tut eine Susanna gut, die sich nicht nur wehrt, sondern auch klarmacht, wie sehr wir als Betrachter:innen dieses grausame Spektakel mitformen, wenn wir der Frau keinen Glauben schenken – und uns in die einladende Hand des Täters begeben.