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Aus dem Archiv des Kunsthaus Zürich: «Studie des Rosenlauigletschers» vom norwegischen Künstler Thomas Fearnley aus dem Jahre 1835.

Kunst-Kolumne

Untergehen, mit Sonne im Gesicht

«Staub und Häppchen» ist unsere frisch kreierte Kolumne über alte Meister und neue Fragen. Für Karfreitag holt Naomi Gregoris ein Bild aus dem Archiv des Kunsthaus Zürich und beschreibt, was Gletscher mit Jesus zu tun haben.

Von Naomi Gregoris

Zürich, 04.04.2023

3 min

Vor einem Jahr sass ich im Salon eines wunderbaren Hotels im Berner Oberland, dessen Namen ich nicht preisgeben will, weil ich mir einrede, dass es nach wie vor ein Geheimtipp ist (was längst nicht mehr stimmt). Dieses Hotel wird von Frau K. geführt, die ich seit langem bewundere. Frau K. ist spröde und herzlich, eine Mischung, die ich nur von ihr kenne, und sie liest sehr gern.

Entsprechend vielseitig ist die Bibliothek im Salon des Hotels, und an jenem Aprilwochenende strich ich über die Buchrücken in den Belle-Epoque-Vitrinen auf der Suche nach einer Lektüre, die meinem Glücksgefühl entsprach. Ich hatte zum ersten Mal seit langer Zeit wieder einen Tag für mich, es wurde langsam Frühling, das Leben war schön. Ich zog Goethe aus dem Regal, setzte mich in die Sonne und fing an zu lesen:

Im Tale grünet Hoffnungsglück;
Der alte Winter, in seiner Schwäche,
Zog sich in rauhe Berge zurück.
Von dort her sendet er, fliehend, nur
Ohnmächtige Schauer körnigen Eises
In Streifen über die grünende Flur.
Aber die Sonne duldet kein Weißes,
Überall regt sich Bildung und Streben,
Alles will sie mit Farben beleben.

Wir lesen uns mit Goethe weg

Nun muss man sagen, dass sich das Hotel in der Nähe des Rosenlauigletschers befindet, der sich, wie alle Gletscher in der Schweiz, zusehends zurückzieht. Der Winter schickt immer weniger körniges Eis, und die Hoffnung, die der Frühling jeweils so treu mit sich brachte, ist einem selbstironischen Fatalismus gewichen: Es ist Klimakatastrophe, und wir sitzen in Hotels unter schmelzenden Gletschern und lesen uns mit Goethe weg. Haha! Oder wie die Berner:innen sagen: Gschäch nüt schlimmers. Dass Schlimmeres geschehen wird, ist leider unbestritten, aber wenn schon untergehen, dann wenigstens mit Sonne im Gesicht.

Dabei hilft mir auch die Kunst, hier konkret ein kleines Ölbild (24 x 39 cm) aus der Sammlung des Kunsthaus Zürich: «Studie des Rosenlauigletschers» vom norwegischen Künstler Thomas Fearnley aus dem Jahre 1835. Es war die Zeit der Romantik, man verstand die Natur als Ausdruck des Göttlichen, dessen Erhabenheit den Menschen in Demut versetzte. Die Natur, eine allmächtige Gewalt, der Mensch daneben, die mickrige Gestalt.

Eine mickrige Gestalt, die ziemlich rasch in einen an Wahnsinn grenzenden Kompensationszwang verfiel. Details braucht es keine, wir wissen, wie’s um die Welt steht. Die hier wichtige Frage lautet: Gibt’s angesichts der Weltlage einen Grund für frühlingshaften Frohmut?

Einen Grund nicht, behaupte ich, aber vielleicht eine Anleitung. Schaut euch die Romantiker an, kommt wieder in diesen Modus des Staunens. Erfreut euch an der stolzen Selbstverständlichkeit, mit der Fearnleys Rosenlauigletscher im Bild thront, was für ein Protz, was für eine Wucht! Und dann denkt weiter: Wie tragen wir diese Achtung in unseren Alltag?

Keine Erlösung in Sicht

Es ist Karfreitag und der Name kommt vom althochdeutschen kara, was so viel bedeutet wie Kummer. Die Christ:innen trauern um den gekreuzigten Jesus, ich aber traure um den Rosenlauigletscher und um die Tatsache, dass es in der Klimakrise keinen erlösenden Sonntag gibt. Der Gletscher kommt nicht zurück, es gibt keine Auferstehung, die Sonne duldet kein Weisses.

Ich werde das Eis des Rosenlauigletschers nie sehen, wie es Fearnley gesehen hat, da hilft kein Goethe, kein Liegestuhl vor dem Belle Epoque-Hotel. Aber ich kann lernen, die Ambivalenz auszuhalten, die Schönheit und den Verlust mitzutragen und in Entscheidungen, die ich treffe, zu berücksichtigen. Plastik, Flugreisen, Konsum: Die Möglichkeiten sind zahlreich. Wichtig ist, dass die Kunst ihren Beitrag dazu leisten kann. Sie zeigt uns die Vergänglichkeit, aber sie gibt sie uns auch an die Hand.