Shqipe Sylejmani unternimmt in ihrem ersten Roman eine Reise in ihre kulturelle Vergangenheit.

Shqipe Sylejmani unternimmt in ihrem ersten Roman eine Reise in ihre kulturelle Vergangenheit.

Bild Arzije Asani

Gespräch mit Shqipe Sylejmani

«Ich würde es nochmals genau so machen»

Wie finden junge Autor:innen aus der Einwanderer-Community ihren Platz im hiesigen Literaturbetrieb? Die junge Zürcher Journalistin Arzije Asani hat mit Shqipe Sylejmani darüber gesprochen. Die kosovarische Autorin hat ihre Suche nach Heimat in einem Roman verarbeitet, den sie selbst herausgegeben hat.

Von Arzije Asani

Zürich, 06.04.2022

11 min

Es ist ein kühler Montagabend, an dem ich die Autorin Shqipe Sylejmani vor dem Restaurant «Sultan Sofrasi» in Zürich antreffe. Wir haben uns hier verabredet, um Schwarztee aus Cay-Gläsern zu trinken, und bei einem kleinen Stück Baklava über den Prozess der Veröffentlichung ihres Buches «Bürde & Segen» zu sprechen. Shqipe begrüsst mich mit einer herzlichen Umarmung. Sie hat den ganzen Tag im Büro gearbeitet, strotzt aber nur so vor Energie und steckt mich direkt damit an.

Shqipe Sylejmani stammt ursprünglich aus dem Kosovo. Im Alter von vier Jahren kommt sie zusammen mit ihren Eltern in die Schweiz und wächst in einem kleinen Dorf im Kanton Basel-Landschaft auf. Bereits als Kind träumt sie davon, irgendwann ein Buch zu veröffentlichen. Doch damals weiss sie noch nicht, was für ein harter Weg auf sie zukommen würde, um dieses Ziel zu erreichen. Als Kind hat Shqipe nicht viel. Sie hat weniger als Jannine aus ihrer Schulklasse, aber mehr als Qendresa, ihre Cousine, die im Kosovo lebt. «Schau Shqipe, du bist in der Mitte, und es ist nicht schlecht, in der Mitte zu sein», pflegte ihre Mutter zu sagen.

Jannine und andere Schweizer:innen werden Freund:innen von Shqipe. Sie passt sich der Schweizer Gesellschaft an und entfernt sich dabei immer mehr von der albanischen Kultur. «Ich wollte keine Albanerin sein. Ich hatte ein Bild über Albaner:innen in meinem Kopf, die mir die Gesellschaft in der Schweiz auferlegt hatte.» Erst mit 22 Jahren, als sie eine Zeit lang in den USA lebt und dort in Kontakt kommt mit der albanischen Community, findet sie wieder einen Bezug zur albanischen Kultur und merkt, wie klein ihr Wissen über diese ist.

Reise in die Heimat der Familie

Im Sommer 2018 entschliesst sich Shqipe zusammen mit ihren Eltern und ihrer Tante, die albanischsprachigen Ortschaften des Balkans zu bereisen. «Meine Mutter träumte immer davon, Albanien zu bereisen. Im Sommer 2018 entschlossen wir uns spontan dazu, ihr diesen Wunsch zu erfüllen, und ich konnte dabei die albanische Kultur entdecken und kennenlernen.»

Sie steigen alle zusammen in einen alten Golf ohne Klimaanlage und reisen durch den Kosovo, Albanien, Montenegro und Nordmazedonien. Ihre Tante erzählt laufend Geschichten und Anekdoten, welche Shqipe aufsaugt wie ein Schwamm. «Während dieser Reise habe ich permanent geweint. Alles hat mich so berührt. Alles war so schön. Ich schämte mich, hatte ich doch jahrelang meine Identität und Kultur verurteilt, ohne sie überhaupt gekannt zu haben.»

Shqipe ist so überwältigt von den vielen Geschichten und dem kulturellen Erbe ihrer Heimat, dass sie nach zwei Jahren Recherche im Juni 2020, inmitten der weltweiten Pandemie, beschliesst, sich an den Schreibtisch zu setzen und ein Buch zu schreiben. «Innerhalb von sechs Wochen hatte ich meinen ersten Roman geschrieben. Ich sass von frühmorgens bis spät in der Nacht an meinem Schreibtisch und ging nur raus, um einzukaufen.» 

Die Autorin Shqipe Sylejmani.

Shqipe Sylejmani wurde 1988 in Prishtina, Kosovo, geboren und lebt seit 1992 in der Schweiz. Sie studierte Journalismus und Kommunikation in Zürich und arbeitete unter anderem als Journalistin in der Schweiz und in New York. Seit 2018 engagiert sie sich im Bereich der Kulturförderung und ist Präsidentin des Vereins «Kulturwerkstatt: Techno». In ihrem Erstlingswerk, dem Roman «Bürde & Segen», blickt sie auf ihre Migrationserfahrung und die Reisen in ihre Heimat zurück. Sie liest am Dienstag, 12. April, im Literaturhaus Zürich aus ihrem Roman «Bürde & Segen».

Ähnlich wie Shqipe, geht Shote, die Hauptfigur des Buches, auf Reisen. Der Roman führt sie durch zahlreiche albanischsprachige Orte im Balkan. Ihr folgend, lernen die Leser:innen Orte, Kultur, alte Legenden und Redewendungen kennen. Legenden, die nicht nur an eine vergangene Zeit erinnern, sondern auch die heutige Gesellschaft spiegeln. Wie die Geschichte der eingemauerten Rozafa. Eine Frau, die sich für die ganze Familie opfert, wie so viele Frauen in der albanischen Gesellschaft. Die Hauptfigur des Buches, die ebenfalls in der Schweiz aufgewachsen ist, versucht auf dieser Reise durch die Heimat ihrer Vorfahren, den Sinn ihres Lebens zu finden und begegnet dabei sich selbst.

Die ergebnislose Suche nach einem Verlag

Shqipe Sylejmani scheint ihren Lebenssinn gefunden zu haben. Ihren Job als Key-Account-Managerin in einer Firma, bei der sie 15 Jahre lang angestellt war, hat sie an den Nagel gehängt. «Ich war einfach nur noch müde von meinem Alltag und brauchte eine Pause. Erst dann fand ich die nötige Kraft, um ‹Bürde & Segen› überhaupt als Geschichte entstehen zu lassen.» Innerhalb kürzester Zeit bündelt Shqipe die ersten zehn Kapitel des Buches und sendet sie an verschiedene Verlage. «Ich dachte, ich höre jetzt eine Weile nichts mehr, aber die Verlage haben sich sehr schnell gemeldet und wollten einen Termin mit mir.»

Voller Vorfreude fährt Shqipe an diese Treffen in der ganzen Deutschschweiz und wird dabei jedes Mal enttäuscht. «Es waren insgesamt 26 Verlage und sie wollten immerzu, dass ich über den Krieg, meine Traumata oder Unterdrückung schreibe. Das Buch hat sie kein bisschen interessiert.» Shqipe ist masslos enttäuscht, doch sie gibt nicht auf und versucht es weiter.

Beim 27. Treffen liegt endlich ein Angebot auf dem Tisch. Sie dürfe unter dem Namen des Verlags publizieren, müsse aber selber für alle Kosten aufkommen. Mit ernster Miene schaut mich Shqipe an: «Wir sprechen hier von 40’000 Franken.» Nach dem Treffen fährt sie gedankenversunken nach Hause und ruft ihre Mutter an. «Schau, meine Tochter. Es ist nicht das erste Mal, dass sie dir absagen. Vielleicht sollte es einfach nicht sein.» Shqipes sagt: «Weisst du, es hat mich so sehr geschmerzt. Nicht nur, weil mein Traum zerschlagen wurde. Sondern auch der meiner Mutter. Ich hatte so sehr gehofft, dass es vielleicht auch für uns möglich wäre, unsere grossen Träume zu verwirklichen.» 

Am Ende bleibt nur der Eigenverlag

Wie zu Beginn des Gesprächs mit ihrer Energie steckt mich Shqipe nun mit ihrem Schmerz an. Zu gut verstehe ich diesen und den Drang, etwas zu erreichen und die Eltern stolz zu machen. Doch bei mir kommt auch die Frage auf: Wie viele bekannte Autor:innen mit albanischem Hintergrund gibt es denn in der Schweiz, die bei einem Schweizer Verlag veröffentlicht haben? In der Deutschschweiz gibt es keine. In der Romandie stosse ich auf den Namen Bessa Myftiu und im Tessin auf Elvira Dones. Laut dem AdS, dem Autorinnen- und Autoren-Verband der Schweiz, gibt es keine genauen Zahlen oder Statistiken zu dieser Frage. 

Shqipe erzählt weiter: «Nach diesem letzten Treffen wusste ich nicht mehr weiter. Ich setzte mich einfach an meinen Tisch und schrieb die letzten Kapitel. Das Gespräch mit dem Verlag liess mir keine Ruhe. Kostete es wirklich 40’000 Franken, ein Buch zu veröffentlichen?»
Shqipe recherchiert und kommt genau auf diese Zahl. Schnell kommt ihr der Gedanke: «Wieso mache ich mich abhängig von diesem Verlag? Ich bin eine Geschäftsfrau. Ich kann doch selbst ein Buch veröffentlichen. Aus Trotz und Enttäuschung gegenüber der Verlagswelt werde ich dieses Buch publizieren, auch wenn es mich alles kostet wird, was ich habe.»

Shqipe nimmt die Publikation ihres Buches selbst in die Hand. Als sie beim Leiter einer Druckerei anruft, um die erste Auflage in den Druck zu geben, kann dieser nicht glauben, dass die Autorin schon 3500 Stück drucken möchte. Normalerweise beginnt ein Erstlingswerk mit einer Auflage von höchstens 1000 bis 1500 Stück. 

«Als ich meine Eltern fragte, was sie davon halten, meinte mein Vater: «Oh, po as 500 nuk munesh me i shit. – Nicht mal 500 wirst du verkaufen können.» Shqipe lacht, wenn sie das erzählt, ich sehe aber doch Schwermut in ihren Augen. «Weisst du, meine Eltern sind sehr realistische Menschen. Keine Träumer:innen. Sie waren damals noch nicht überzeugt von meinem Projekt.»

Vor allem Interesse an der Person

Wir sitzen seit zwei Stunden an diesem hölzernen Tisch. Der Schwarztee ist mittlerweile kalt geworden. Vor lauter Zuhören hatte ich vergessen zu trinken. Ich bin beeindruckt von Shqipes Ausdauer und Geduld, aber auch Willenskraft, dieses Projekt durchzuziehen, obwohl sie in den Anfängen des Projekts auf so wenig Unterstützung trifft und gleichzeitig finanziell an ihre Grenzen kommt.

Shqipe war überzeugt, gut genug zu sein, um das Buch 3500-mal verkaufen zu können. «Ich wollte, dass das Buch von jeder albanischsprachigen Person auf dieser Erde gelesen werden kann. Ich brauchte nur noch eine PR-Agentur mit Rang und Namen, die die Medienmitteilung verschicken würden. Wenn ich es selbst gemacht hätte, wäre dies bei den Medien einfach untergegangen.» Shqipe findet eine Agentur, die ihr hilft, innerhalb von drei Monaten ihren Roman zu publizieren. Nach zwei Monaten herrscht jedoch immer noch Stille. Kein Schweizer Medium hatte sich bei Shqipe gemeldet.

«Ich war darauf angewiesen, dass dieses Buch sich verkauft. Geschlafen habe ich in dieser Zeit fast gar nicht.» Dann kam der erste Lichtblick. Das Radio-Bremen-Magazin «Cosmo» meldet sich bei Shqipe für ein Interview. Sie zweifelt daran, ob ihr ein Interview in Deutschland etwas bringen würde. Sie macht es trotzdem und merkt schnell, dass sie sich geirrt hat. Nachdem das Interview von «Cosmo» online geht, melden sich plötzlich reihenweise Schweizer Medien. Doch in den folgenden Interviews wird der Roman nur am Rande besprochen. Viel mehr geht es um ihre albanische Herkunft und das Aufwachsen als Seconda in der Schweiz. «Einerseits ist es sehr schön, dass ich aus meiner Perspektive erzählen darf, wie es war und ist, als Albanerin in der Schweiz zu leben. Andererseits fände ich es aber auch toll, mehr über das Buch erzählen zu dürfen.»

Das Literaturhaus Zürich bietet der Autorin nun diese Plattform. Am 12. April ist Shqipe dort eingeladen, um aus ihrem Buch zu lesen. Die Lesung findet im Rahmen des Projekts «Weltenliteratur» des Vereins Alit statt. «Der Verein kümmert sich um die Stiefkinder der Literaturvermittlung, wie Lyrik, Essay, verschwundene Bücher und eben Schreiben zwischen den Kulturen», sagt Dragica Rajčić Holzner, die Co-Leiterin des Projekts. «Darum bin ich auf Shqipe gekommen. Sie erkundet in ihrem Buch die Kindheit sowie das verborgene Trauma des Exils.» 

Am Ende doch ein Erfolg

Der Roman «Bürde & Segen» hat sich bis jetzt 3500-mal in deutscher Sprache verkauft, plus 500 Bücher in Albanisch und Englisch. Shqipe Sylejmani sagt: «Ich habe meinen Leser:innen so viel zu verdanken. Ein Beispiel: Ich hatte zwar einen Vertrieb, aber ich war trotzdem Self Publisher und die Buchhändler:innen veröffentlichen in der Regel keine Self Publisher in den Läden. Meine Leser:innen beschwerten sich immer wieder, bis die Buchhandlungen keine andere Wahl mehr hatten, als mein Buch aufzunehmen.»

Nun schreibt Shqipe schon an ihrem zweiten Roman, den sie ebenfalls selbst veröffentlichen wird. «Weisst du, mein Weg war alles andere als rosig, aber ich würde es zu 100 Prozent nochmals genau so machen. Ich habe so viel gelernt in dieser Zeit.»

Shqipe Sylejmani: Lesung aus «Bürde & Segen». Dienstag, 12. April, Literaturhaus Zürich. Moderation: Dragica Rajčić Holzner.