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Ines Marita Schärer ist der siebte Gast in unserer Performance-Serie «Machs».

Bild: Mathias Balzer

Essen mit Ines Marita Schärer

Das Fragile als radikale Politik

Was wäre, wenn unsere Haut den Planeten spüren könnte? Und was haben solche Fragestellungen in der Kunst zu suchen? Ines Marita Schärer hat uns dies bei einem z'Nacht in Chur erklärt. Und sie schenkt den Leser:innen von FRIDA eine Performance, für die es etwas Mut braucht.

Von Mathias Balzer

Chur, 15.12.2022

10 min

Die Welt, in der wir leben, ist eine kritische Zone. «Critical Zone«, ein Begriff aus den Geowissenschaften, bezeichnet die fragile Schicht, die unseren Planeten umgibt, die Zone, in der Leben stattfindet. Was dort in dieser Zone vor sich geht, wird mittlerweile vor allem vom Handeln des Menschen beeinflusst, ist aber trotzdem schwer zu fassen, da die Vorgänge komplex, mitunter abstrakt sind.

Was aber wäre, wenn wir dieses Geschehen direkt auf unserer Haut wahrnehmen könnten? Wenn unsere Haut ein Organ wäre, das registriert, was in der «Critical Zone» geschieht? Wenn unsere Haut, ein Abbild dieser kritischen Zone wäre? Ähnlich wie in unserem Gehirn, wo ein topografisches Abbild unseres ganzen Körpers auf dem Scheitellappen, einem Teil des Neocortex, abgebildet ist.

Ines Marita Schärer hat diesen utopischen Gedanken in ihrem Text «NeoNeocortex» entworfen, der ihr derzeit als Basis für ihre künstlerische Recherche dient.

Treffen in der Heimatstadt

Wir treffen uns um 18 Uhr in Chur, in der Stadt, wo Schärer aufgewachsen ist. Die Künstler:innen, die Kurator Chris Hunter einlädt, in diesem Magazin eine Performance-Anleitung zu veröffentlichen, laden wir jeweils zum Essen. Die Gäste dürfen wählen: Gourmettempel, Lieblingsbeiz, Kebabstand, Picknick oder selber kochen: Alles ist möglich.

Performances zum Selbermachen

FRIDA schenkt ihren Leser/-innen zwölf Performances zum Selbermachen. In unserer vom Künstler Chris Hunter kuratierten Serie «Mach’s» stellen wir zwölf Performance-Künstler/-innen aus der Schweiz vor. Wir laden sie dafür zum Essen ein. Im Gegenzug präsentieren die Künstler/-innen jeweils eine Performance-AnleitungDiejenige von Ines Marita Schärer findest Du am Ende dieses Artikels.
Solltest Du der Aufforderung folgen, und die Performance im privaten Kreis nachstellen, bitte lass es uns wissen. Foto, Video, Erlebnisberichte – alles ist erlaubt.
Nach einem Jahr werden die zwölf Performances samt Euren Erlebnissen in einer Publikation dokumentiert.
Es ist ganz einfach: «Mach’s!»

Die Künstlerin hat die Brasserie «Süsswinkel» in der Altstadt ausgewählt. Sie ist aus dem Bergell angereist, wo sie einige Tage schreibenderweise verbracht hat. Im «Süsswinkel» sei sie seit sieben Jahren nicht mehr gewesen. Sie bestellt zum Aperitif ein Bier, wählt dann eine gute Flasche Châteauneuf-du-Pape zu diesem Menü: orientalischer Blattsalat, Hirschpfeffer, ohne Fleisch, aber mit allen Zutaten und Sauce, zum Dessert eine Crème brulée. Wir sitzen zu Beginn ganz alleine an einem Zweiertischchen am Kopf des schlauchförmigen Lokals, das sich bald füllen und nach gut vier Stunden wieder beinahe geleert haben wird.

Die 35-Jährige, in eleganter Seidenbluse, spricht leise, formuliert vorsichtig, suchend, aber nicht unsicher. Sie ist sich bewusst, dass ein solches Gespräch Narrative produziert, die, einmal in der Welt, kaum mehr wegzubringen sind. Fragilität ist ein Wort, das sie oft benutzt.

Ines Marita Schärer bei ihrer Performance «Immer an den Rändern» am 10.12.2022 im Bündner Kunstmuseum in Chur.

Ines Marita Schärer bei ihrer Performance «Immer an den Rändern» am 10.12.2022 im Bündner Kunstmuseum in Chur.

Bild: Mathias Balzer

Die Sprache im Zentrum

Bereits bei der Recherche zum Gespräch wird klar: Einfach zu fassen sind diese Künstlerin und ihr Werk nicht. Auf ihrer Webseite, die gerade in Erneuerung ist, sind Tonspuren mit experimenteller Noise-Music zu hören. Schärer performt, zeigt installative Arbeiten, kreiert Sound Art und experimentelle Musik. Sie entwickelt ihre Projekte oft in Kollaboration mit anderen Künstler:innen, wie etwa ein Noise-Konzert für die Erdbeeren in einem Monokulturgewächshaus in Belgien.

Oder sie inszeniert selbst ein «Rock-Concert», bei dem fünf Performer:innen Sound produzieren, indem sie mit den Füssen Steine rhythmisch bewegen. Oder sie installiert, gemeinsam mit dem Komponisten Julian Zehnder, eine völlig fremdartig klingende Pausenglocke in einem Berner Primarschulhaus. Oder dann gibt es da noch: das Hörstück in einem ausgedienten Erotik-Kino, das unscheinbare Radiogerät, das eine Holzstube in den Alpen zum Erzittern bringt, die Künstlerin, die hinter Gitterstäben «Sisch miar alles ai Ding» singt.

Ein Element, das viele dieser Arbeiten verbindet, ist Sprache: geschrieben, gesprochen oder gesungen.

Imagination ist der verbindende Link

Ines Marita Schärer ist in einer kunst- und theateraffinen Familie aufgewachsen, erst oberhalb von Chur an der Strasse Richtung Arosa, dann in einem Haus im Weiler Araschgen, der zu Passugg gehört. Sie habe als Kind viel gezeichnet, war im Chor der Kantonsschule, hat Tanzunterricht genommen. Sie sagt: «Ich glaube der Link zu den gegenwärtigen Arbeiten ist Imagination, das Welten schaffen. Ich habe als Kind auch gerne Geschichten erzählt, vor allem Gruselgeschichten.»

Die Eltern empfahlen ihr den Vorkurs an der Hochschule der Künste in Bern. Mögliches Ziel: Grafikerin. Ines nahm die andere Abzweigung: Bachelor of Fine Arts in Bern, dann den Master in Art Praxis am Dutch Art Institute in Holland, abgeschlossen 2018/19.

Seit drei Jahren lebt und arbeitet Schärer in Brüssel. Sie habe in dieser Zeit von Kunst- und Kunst-am-Bau-Projekten und Stipendien ihren Lebensunterhalt bestreiten können, trotz Lockdown und Pandemie. Die Künstlerin arbeitet ohne Atelier. Sie habe zwar eine Art Studio im geräumigen Badezimmer der Wohnung eingerichtet, wo der alte, blaue Linoleum-Boden sie ans Meer erinnere. Aber im Grunde ist ihr Atelier dort, wo sie sich gerade bewegt.

Den poetischen Blick etablieren

Für das Schreiben braucht sie ausgedehnte Spaziergänge oder Wanderungen. «Das bringt mich in einen Zustand geschärfter Wahrnehmung.» Neben der Sprache arbeitet die Künstlerin intensiv mit ihrem Körper, oder besser gesagt mit ihren Körperempfindungen. Sie sagt: «Die Arbeit mit dem Körper hilft mir ein Bewusstsein für den Moment zu erlangen, gesteigerte Aufmerksamkeit, eine Art ‚poetischen Blick` zu etablieren.»

Wenn Schärer von Tanzen und Singen als künstlerischer Praxis spricht, meint sie das nicht im herkömmlichen Sinn. «Dabei spielen somatische Praxen eine wichtige Rolle. Beim Tanzen geht es mir um eine Untersuchung darüber, wie ich mich im Raum bewege. Was spüre ich, was bewegt mich, was beeinflusst mich, wie reagiere ich darauf?» Ähnlich verhalte es sich mit dem Singen. «Woher kommt der Klang, wie und wo, in welchen (Neben-)Höhlen und Resonanzräumen klingt er nach, wohin wird er getragen, was ‘berührt’ er?»

Dieses Training, diese Sensibilisierung auf ihren Körper, auf die Welt, andere Menschen und Wesen brauche sie wiederum um wahrzunehmen, zu beobachten, und dann letzten Endes um zu schreiben. Sie sagt: «Die ‘Spürbarkeit’, das ‘Spürbar-Machen’ interessiert mich.»

Die Einflüsse auf ihr Werk

Sprache, Körperwahrnehmung, das situative Reagieren auf Orte. Hat sie bei diesen Vorgehensweisen Vorbilder? Der Begriff «Vorbilder» sei irgendwie zu autoritär gefasst, sagt sie während dem Essen. Sie schreibt jedoch später, es gäbe Arbeiten und Theorien, die in ihr nachhallen und Einfluss haben auf ihr Denken und ihre Praxis. Etwa der Film «I hope I’m loud when I’m dead» der englischen Künstlerin Beatrice Gibson, und wie sie darin intime, persönliche Ängste in einem aktuellen, sozialen Kontext verortet und Wut in Widerstand ummünze.

Oder das Werk «Die Genhändler» der US-amerikanischen Sciene-Fiction-Autorin Octavia E. Butler, und wie sie darin andere Lebenswelten des Miteinanders, andere Formen der Wahrnehmung und Kommunikation entwerfe. Oder die junge englische Poetin Rebecca Tamás, deren Gedichte und Essays, durchdrungen vom Sinnlichen, Körperlichen und Mystischen, ökologische Themen mit grosser Dringlichkeit zur Sprache brächten. Oder feministisch-queere Werke, wie diejenigen von Sara Ahmed, Audre Lorde, Anna Loewenhaupt Tsing oder Astrida Neimanis.

Aber am meisten beeinflusst sei sie von ihrer nächsten Umgebung, von ihren Freund:innen, Kollaborateur:innen und persönlichen Mentorinnen Anna Pangalou, Anja Röttgerkamp, Julia Skof, Andrea Uhl, Anna Eberle, Paula Almiron, Caroline Profanter, Eliane Bertschi und Francesco Fonassi.

Die – im Original noch längere – Liste macht transparent, was im Werk dieser noch jungen Künstlerin zusammenkommt: Die Erforschung neuer, erweiterter Wahrnehmungstechniken, vor allem durch eine Sensibilisierung des Körpers, gepaart mit aktuellen Diskursen, etwa demjenigen, wie wir unser Verhältnis zur Natur im Zeitalter des Anthropozäns neu definieren könnten. Und letztendlich seien es oft die Orte, an die sie eingeladen wird, die Arbeiten konkret entstehen lassen. «Ich reise dann jeweils mit meinem Paket an», sagt sie und mimt mit den Armen, wie sie ein schweres Pack abstellt.

Der Inhalt dieses Paketes ist Work in Progress. Zurzeit sind es die Themen, welche die Künstlerin rund um das eingangs erwähnte Projekt «NeoNeocortex» formuliert und sammelt: Die Utopie, dass unsere Haut mit den Vorgängen in der «Critical Zone» verbunden wäre. Schärer schreibt dazu: «Mit dieser ‘fiktionalen’ wissenschaftlichen Methode würde die Haut des Menschen zu einer sensiblen Landkarte werden, die direkten Einflüsse, die Verheerungen in der ‘Critical Zone› würden auf der Haut des Einzelnen direkt spürbar.»

Fragilität als konstituive Kraft

Der Text dient der Künstlerin als Ausgangslage für einen «hybriden künstlerischen Korpus», wie sie es nennt. Oder eine «Topologie des Sensiblen». Das Ganze sei der Versuch, Fragilität und Sensibilität als legitime, konstitutive Kraft zu verstehen. Und auch als politische Praxis – könnte man ergänzen. Im Gespräch wird aber klar, dass es ihr weniger um konkrete Politik oder politische Aktion geht. Eher um die Forschung an einer Haltung, wie sie dieser Welt begegnen kann.

Dafür weitet sie das Feld ihrer Studien kontinuierlich aus. Seit Oktober macht sie eine Ausbildung in Faszien-Therapie. Faszien sind – verkürzt gesagt – unser Bindegewebe. Neuste Forschungen zeigen, dass sich dieses Gewebe jedoch nicht nur zwischen Haut und Muskeln befindet, sondern ein feinmaschiges Netz bildet, das Muskeln, Organe, Knochen, den ganzen Körper durchdringt. Zudem enthalten Faszien mehr Bewegungssensoren und Schmerzrezeptoren als Muskeln und Gelenke. Sie sind dadurch das grösste Sinnesorgan des Menschen. Die Künstlerin sagt: «Wenn ich mit der Behandlung das Fasziensystem anrege, ist die Wirkung natürlich sehr direkt und konkret.»

Womit sie natürlich recht hat. So intensiv wirkt kein Kunstwerk auf einen Menschen ein. Und trotzdem wünscht sich der Zuhörende, dass es ihr gelingen wird, dieses grösste Wahrnehmungsorgan irgendwie künstlerisch zu aktivieren. Wer weiss: Vielleicht existiert in uns ja bereits die von ihr beschriebene «sensible Landkarte», mit der wir wahrnehmen könnten, was in der «Critical Zone» wirklich vor sich geht. Dann würde das radikal Fragile urplötzlich zum radikal Politischen. Ines Marita Schärer macht sich auf den Weg dorthin. Sie nimmt nach dem Essen den steilen Weg von Chur nach Araschgen zu Fuss. Gehen schärft die Wahrnehmung.

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