Die Sprache im Zentrum
Bereits bei der Recherche zum Gespräch wird klar: Einfach zu fassen sind diese Künstlerin und ihr Werk nicht. Auf ihrer Webseite, die gerade in Erneuerung ist, sind Tonspuren mit experimenteller Noise-Music zu hören. Schärer performt, zeigt installative Arbeiten, kreiert Sound Art und experimentelle Musik. Sie entwickelt ihre Projekte oft in Kollaboration mit anderen Künstler:innen, wie etwa ein Noise-Konzert für die Erdbeeren in einem Monokulturgewächshaus in Belgien.
Oder sie inszeniert selbst ein «Rock-Concert», bei dem fünf Performer:innen Sound produzieren, indem sie mit den Füssen Steine rhythmisch bewegen. Oder sie installiert, gemeinsam mit dem Komponisten Julian Zehnder, eine völlig fremdartig klingende Pausenglocke in einem Berner Primarschulhaus. Oder dann gibt es da noch: das Hörstück in einem ausgedienten Erotik-Kino, das unscheinbare Radiogerät, das eine Holzstube in den Alpen zum Erzittern bringt, die Künstlerin, die hinter Gitterstäben «Sisch miar alles ai Ding» singt.
Ein Element, das viele dieser Arbeiten verbindet, ist Sprache: geschrieben, gesprochen oder gesungen.
Imagination ist der verbindende Link
Ines Marita Schärer ist in einer kunst- und theateraffinen Familie aufgewachsen, erst oberhalb von Chur an der Strasse Richtung Arosa, dann in einem Haus im Weiler Araschgen, der zu Passugg gehört. Sie habe als Kind viel gezeichnet, war im Chor der Kantonsschule, hat Tanzunterricht genommen. Sie sagt: «Ich glaube der Link zu den gegenwärtigen Arbeiten ist Imagination, das Welten schaffen. Ich habe als Kind auch gerne Geschichten erzählt, vor allem Gruselgeschichten.»
Die Eltern empfahlen ihr den Vorkurs an der Hochschule der Künste in Bern. Mögliches Ziel: Grafikerin. Ines nahm die andere Abzweigung: Bachelor of Fine Arts in Bern, dann den Master in Art Praxis am Dutch Art Institute in Holland, abgeschlossen 2018/19.
Seit drei Jahren lebt und arbeitet Schärer in Brüssel. Sie habe in dieser Zeit von Kunst- und Kunst-am-Bau-Projekten und Stipendien ihren Lebensunterhalt bestreiten können, trotz Lockdown und Pandemie. Die Künstlerin arbeitet ohne Atelier. Sie habe zwar eine Art Studio im geräumigen Badezimmer der Wohnung eingerichtet, wo der alte, blaue Linoleum-Boden sie ans Meer erinnere. Aber im Grunde ist ihr Atelier dort, wo sie sich gerade bewegt.
Den poetischen Blick etablieren
Für das Schreiben braucht sie ausgedehnte Spaziergänge oder Wanderungen. «Das bringt mich in einen Zustand geschärfter Wahrnehmung.» Neben der Sprache arbeitet die Künstlerin intensiv mit ihrem Körper, oder besser gesagt mit ihren Körperempfindungen. Sie sagt: «Die Arbeit mit dem Körper hilft mir ein Bewusstsein für den Moment zu erlangen, gesteigerte Aufmerksamkeit, eine Art ‚poetischen Blick` zu etablieren.»
Wenn Schärer von Tanzen und Singen als künstlerischer Praxis spricht, meint sie das nicht im herkömmlichen Sinn. «Dabei spielen somatische Praxen eine wichtige Rolle. Beim Tanzen geht es mir um eine Untersuchung darüber, wie ich mich im Raum bewege. Was spüre ich, was bewegt mich, was beeinflusst mich, wie reagiere ich darauf?» Ähnlich verhalte es sich mit dem Singen. «Woher kommt der Klang, wie und wo, in welchen (Neben-)Höhlen und Resonanzräumen klingt er nach, wohin wird er getragen, was ‘berührt’ er?»
Dieses Training, diese Sensibilisierung auf ihren Körper, auf die Welt, andere Menschen und Wesen brauche sie wiederum um wahrzunehmen, zu beobachten, und dann letzten Endes um zu schreiben. Sie sagt: «Die ‘Spürbarkeit’, das ‘Spürbar-Machen’ interessiert mich.»
Die Einflüsse auf ihr Werk
Sprache, Körperwahrnehmung, das situative Reagieren auf Orte. Hat sie bei diesen Vorgehensweisen Vorbilder? Der Begriff «Vorbilder» sei irgendwie zu autoritär gefasst, sagt sie während dem Essen. Sie schreibt jedoch später, es gäbe Arbeiten und Theorien, die in ihr nachhallen und Einfluss haben auf ihr Denken und ihre Praxis. Etwa der Film «I hope I’m loud when I’m dead» der englischen Künstlerin Beatrice Gibson, und wie sie darin intime, persönliche Ängste in einem aktuellen, sozialen Kontext verortet und Wut in Widerstand ummünze.
Oder das Werk «Die Genhändler» der US-amerikanischen Sciene-Fiction-Autorin Octavia E. Butler, und wie sie darin andere Lebenswelten des Miteinanders, andere Formen der Wahrnehmung und Kommunikation entwerfe. Oder die junge englische Poetin Rebecca Tamás, deren Gedichte und Essays, durchdrungen vom Sinnlichen, Körperlichen und Mystischen, ökologische Themen mit grosser Dringlichkeit zur Sprache brächten. Oder feministisch-queere Werke, wie diejenigen von Sara Ahmed, Audre Lorde, Anna Loewenhaupt Tsing oder Astrida Neimanis.
Aber am meisten beeinflusst sei sie von ihrer nächsten Umgebung, von ihren Freund:innen, Kollaborateur:innen und persönlichen Mentorinnen Anna Pangalou, Anja Röttgerkamp, Julia Skof, Andrea Uhl, Anna Eberle, Paula Almiron, Caroline Profanter, Eliane Bertschi und Francesco Fonassi.
Die – im Original noch längere – Liste macht transparent, was im Werk dieser noch jungen Künstlerin zusammenkommt: Die Erforschung neuer, erweiterter Wahrnehmungstechniken, vor allem durch eine Sensibilisierung des Körpers, gepaart mit aktuellen Diskursen, etwa demjenigen, wie wir unser Verhältnis zur Natur im Zeitalter des Anthropozäns neu definieren könnten. Und letztendlich seien es oft die Orte, an die sie eingeladen wird, die Arbeiten konkret entstehen lassen. «Ich reise dann jeweils mit meinem Paket an», sagt sie und mimt mit den Armen, wie sie ein schweres Pack abstellt.