Cover Buchtipp von BuchBasel Leiterin Marion Regenscheit

Literatur-Tipp

Literatur zum Anschauen: Die Graphic Novels der Stunde

Als Leiterin des Literaturfestivals BuchBasel ist Marion Regenscheit professionelle Vielleserin mit einem umfassenden Überblick. Für unser Magazin schreibt sie jeden Monat drei Lese-Empfehlungen. Im April dreht sich alles um Graphic Novels. Die können nämlich sogar noch mehr als das klassische Buch, findet die Expertin.

Von Marion Regenscheit

Basel, 13.04.2023

7 min

Liebe Leser:innen

Rechtzeitig zur Leipziger Buchmesse Ende April erscheinen gerade richtig viele spannende Titel: «Für Seka» von Mina Hava zum Beispiel; «Als lebten wir in einem barmherzigen Land» von A. L. Kennedy, «HASS» von Şeyda Kurt, «Wahrscheinliche Herkünfte» von Ivna Žic, «Habibitus» von Hengameh Yaghoobifarah, und sehr berührt bin ich von Helga Schubert «Der heutige Tag. Ein Stundenbuch der Liebe». Aber zu diesen Texten vielleicht ein anderes Mal mehr.

Heute möchte ich drei Graphic Novels vorstellen. Denn obwohl ich längst davon ausgehe, dass Graphic Novels als literarische Gattung wie Lyrik, Romane oder Sachbücher ernst genommen werden – immerhin wurde das wichtigste Comic-Festival in Angoulême in diesem Jahr 50 Jahre alt, und Lika Nüssli gewann Anfang des Jahres mit «Starkes Ding» einen Schweizer Literaturpreis – fragen mich immer wieder Menschen: Sind Graphic Novels Literatur?

Für mich sind sie das. Graphic Novels sind gut vergleichbar mit Romanen, sie erzählen längere, komplexe Geschichten nicht nur mit Text, sondern auch mit Bildern. Es gibt darin sowohl sprachliche Bilder als auch eine eigene Bildsprache. Und das finde ich spannend, weil anders als in reinen Texterzählungen können in Graphic Novels Vorgänge wie zum Beispiel «Sprachlosigkeit» dargestellt werden: Wenn der Text längst schweigt, erzählen Bilder weiter.

Marion Regenscheit


 

Elene Usdin: René:e aux bois dormants

Diese wunderschöne Graphic Novel von der französischen Künstlerin Elene Usdin beschäftigt sich mit dem Trauma der First Nations in Kanada. Am Anfang der Geschichte begegnen wir René, einem Kind, das sich nirgends so wirklich richtig fühlt: nicht in der Wohnung, nicht mit seiner Mutter, nicht mit anderen Kindern in der Schule, nicht in der grossen Stadt. Als sein geliebtes Kuscheltier verschwindet – ein Stoffkaninchen (ja, wie bei Alice im Wunderland) – taucht René auf der Suche danach in eine farbenprächtige Parallelwelt ein.

Von einem roten Riesen wird er durch diese andere, wandelbare Welt getragen; es öffnen sich Geschichten aus einer alten Zeit. Er erfährt beispielsweise von den Anfängen der Menschen und von einem monströsen Geschöpf, dem die Grossstadt mit den vielen Lichtern den Lebensraum geraubt hat. Bevölkert wird diese Welt von verschiedenen Fabelwesen, denen man oft nicht ansieht, ob sie gut oder böse oder ein bisschen beides sind.

Vieles ist in einer Art Metamorphose, auch René oder Renée. Der Junge wird zum Mädchen, zur Katze, zum Baum. Elene Usdin bewegt sich mit dem Buch in Themenfeldern wie Traum und Verwandlung, Kontrollverlust und Identitätssuche. Und lässt in «René:e aux bois dormants» eine Vorstellung einfliessen, die in Nordamerika bei fast allen indigenen Völkern verbreitet war. Nämlich, dass Geschlecht etwas Wechselndes und Hybrides ist.

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Elene Usdin: René:e aux bois dormants

Verlag: Editions Sarbacane


Liv Strömquist: Astrologie

Schon einige Male habe ich versucht, Liv Strömquist nach Basel einzuladen. Vielleicht klappt es ja dieses Jahr. Ich drücke uns die Daumen, denn schliesslich gilt die schwedische Autorin als feministische Comic-Ikone. Sie ist berühmt für ihre scharfsinnigen Graphic Novels und wurde mit «Der Ursprung der Welt» und «Der Ursprung der Liebe» sehr bekannt. Nun beschäftigt sie sich in «Astrologie» mit dem Trendthema der Horoskope.

Der Band kommt meiner Meinung nach zwar nicht ganz an die anderen erwähnten Werke heran, aber lesenswert ist er allemal. Passend zum Thema ist das Buch als Kalender gestaltet. Neu sind die Zeichnungen auch koloriert und jedes Sternzeichen bekommt seine eigene Farbwelt: Grün für das «Strenzeichen Höhlenmensch» Widder, gelb für das «Sternzeichen Labertasche» Zwilling, oder violett für das «Sternzeichen Trotzkopf» Schütze. Innerhalb der einzelnen Kapitel versammelt sie Stars mit ihren, den jeweiligen Sternzeichen entsprechenden, Eigenschaften und parodiert auf diese Weise das Genre der Zeitungshoroskope.

Abgeschlossen wird der Band, wenn man das Buch um 180° dreht, mit einem Theorieteil. Anhand eines Essays von Theodor W. Adrono aus den 1950er-Jahren und einer Analyse des zeitgenössischen Soziologen Aris Komporozos-Athanasiou sucht sie Antworten auf die Frage, was das astrologische Interesse des Mainstreams mit unserer Gesellschaft zu tun hat und wie es dazu kommt, dass sich Menschen rund 300 Jahre nach der Aufklärung noch immer mit Astrologie beschäftigen.

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Liv Strömquist: Astrologie

Verlag: Avant Verlag

 


Tommi Parrish: Menschen vertrauen

Tommi Parrish erzählt in seiner zweiten Graphic Novel von zwei Frauen, die unter schwierigen Umständen und traumatisierenden Erlebnissen versuchen, eine gesunde neue Beziehung aufzubauen. Die Geschichte beginnt während einer Gruppentherapie und wir lernen Eliza kennen: Sie erzählt, dass sie seit fünf Jahren nüchtern ist, dass sie sich vor Kurzem vom Vater ihres Kindes getrennt hat und versucht, im Schatten des Alkoholismus und den Erfahrungen, die sie mit ihrer eigenen Mutter gemacht hat, zurechtzukommen.

Bei einem Spaziergang mit dem Hund begegnet sie Sasha, die kein gutes Jahr hatte, wieder bei ihren Eltern eingezogen ist, als Sexarbeiterin Geld verdient und vor allem versucht, wieder auf die Beine zu kommen. Aus der Freundschaft wird mehr, aber ihre Beziehung ist nicht leicht. Parrish zeigt beeindruckend, wie weit Menschen bereit sind zu gehen, um am Rand von einer zunehmend individualisierten und kapitalistischen Gesellschaft Nähe und Intimität zu finden. Beide wollen glücklich sein, wissen aber nicht so richtig wie das geht.

«Menschen vertrauen» ist ein intimes Porträt einer queeren Freundschaft. Parrish hat während dreier Jahre täglich während rund 15 Stunden an den Bildern gearbeitet. Als Leser:in sieht man diese Sorgfalt auf jeder Seite. Und ich freue mich sehr, bereits jetzt schon ankündigen zu können, dass Tommi Parrish im November an der BuchBasel zu Gast sein wird.

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Tommi Parrish: Menschen vertrauen

Verlag: Edition Moderne

 

Marion Regenscheit ist Leiterin des Literaturfestivals BuchBasel und eine chronische Vielleserin. Sie ist ständig von Büchern umgeben, sieht Bücher als ein gesellschaftliches Phänomen, liebt Geschichten und ist fasziniert von Schnittstellen und Interfaces aller Art – selbstverständlich besonders dann, wenn Bücher und ihre Leser:innen involviert sind.