
Bei «Next Matters» probieren sich die Ensemblemitglieder für ihre zweite Karriere aus.
Foto: Ingo Hoehn
Tanz
Kunst mit Ablaufdatum
Tanzkarrieren sind kurz, mit 40 Jahren ist oft Schluss. Mittlerweile bekommen Tänzer:innen Hilfe, um den Übergang in eine zweite Karriere zu meistern. So können sie am Theater Luzern in «Next Matters» zeigen, welchen Aufgaben sie sich zukünftig widmen möchten.
Luzern, 16.11.2022
In grauer Jogginghose und weissem T-Shirt steht Dario Dinuzzi auf der Bühne des Luzerner Theaters. Um ihn herum die Tänzer:innen, alle in legerer Kleidung. 10.15 Uhr an einem ganz normalen Mittwochmorgen, Training für das Tanzensemble. Dinuzzi gibt einfache Übungen vor, die Tänzer:innen wärmen sich langsam auf, bevor in einer Stunde die kraftraubende Probe für die nächste Inszenierung beginnt. Ab 17. November ist «Next Matters» zu sehen. Die Arbeit bietet den Tänzer:innen ein Experimentierfeld, um sich in einem anderen Beruf zu versuchen. Denn für sie ist es besonders wichtig, sich rechtzeitig mit der Zeit nach ihrer aktiven Karriere auseinanderzusetzen.
Dario Dinuzzi, 40 Jahre alt, ist ein offenblickender Mann mit Vollbart und dichten, braunen Haaren. Geboren in Italien, lebte er länger in Vancouver, Kanada, und ist derzeit in der Schweiz zu Hause. 40 Jahre – für Tänzer:innen ein schwieriges Alter, hört doch dann für viele die Karriere auf, weil der Körper von der Arbeit, die an Hochleistungssport grenzt, ausgelaugt ist.
Auch Dinuzzi hat das früh erfahren müssen – als er 28 Jahre alt ist, muss er sich den Meniskus operieren lassen.
Er soll sich schonen, nicht tanzen.
«Ich dachte, das könnte das Ende meiner Karriere sein.» Die Ungeduld ist zu gross, nach drei Monaten steht er wieder auf der Bühne. Nicht lange, danach muss er wieder pausieren, dieses Mal für sechs Monate. Hat er damals Hilfe bekommen? Ja klar, sagt er, medizinische Hilfe. Und sonst? Nichts. Nein, psychische Unterstützung oder Hilfe, um seine «Transition» einzuleiten, bekam er nicht.
«Transition», Übergang, ist unter Tänzer:innen mittlerweile ein fester Begriff. Denn sie wissen es alle: Tanz ist eine Kunst mit Mindesthaltbarkeitsdatum. Für viele ist mit 40 Schluss, für manche schon mit 35, bei Unfällen mit irreparablen Schäden noch früher. Für Frauen ist die Lage noch prekärer: Eine Schwangerschaft lässt sich nur schwer mit dem Beruf vereinen, in den letzten acht Wochen vor dem Termin dürfen sie nach 20 Uhr nicht mehr arbeiten – zu Deutsch: nicht mehr auftreten, denn genau dann sind die Vorstellungen. Auch der Wiedereinstieg kann erst mit Proben für neue Stücke beginnen. Doch die Arbeitszeiten für darstellende Berufe sind schwer mit einer Kinderbetreuung vereinbar.
Karriere vorbei, bevor das Alter sichtbar wird
Aber wenigstens auf der Bühne herrscht Gleichberechtigung: «Weibliche und männliche Körper werden, zumindest was das Alter betrifft, nicht unterschiedlich wahrgenommen», sagt Wanda Puvogel, Tanzdirektorin am Luzerner Theater. Wahrscheinlich, weil die Karriere vorbei ist, bevor das Alter überhaupt sichtbar wird.
Puvogel engagiert sich sehr, um ihrem Ensemble den Übergang zu ermöglichen. Das Luzerner Theater hat das interne Förderprogramm «Reflektor» mit monatlichen Weiter- und Fortbildungsangeboten für alle Mitarbeitenden ins Leben gerufen, damit sie sich untereinander vernetzen und ihr Wissen intern weitergeben können. Die Teilnahme ist für Musiker:innen, Schauspieler:innen und technisches Personal freiwillig, aber für Tänzer:innen verpflichtend. «Früher haben die Tänzer:innen ihre Karriere nicht geplant», sagt Wanda Puvogel. Daran hat sich in den letzten Jahren viel geändert. Aber noch heute sei es für viele schwer, da langfristig zu denken. «Wenn es so weit ist, fallen sie oft in ein schwarzes Loch, weil sie das Problem verdrängen.»
Marketing oder Film
Wanda Puvogel will das Problem auf mehreren Ebenen angehen, denn die Lösung kann für jede Tänzer:in anders ausfallen: von einer Weiterbildung in einem neuen Beruf über andere Aufgaben am Theater bis zu naheliegenden Tätigkeiten wie Choreograf:in oder Lehrer:in. So interessiert sich Mathilde Ghislet sehr für alle Aufgaben des Marketings. Und Mathew Prichard wird in «Next Matters» seinen Tanzfilm zeigen.
So werden alle Tänzer:innen im klassischen und im zeitgenössischen Tanz eingesetzt, auch Hip-Hop-Arbeiten stehen für alle auf dem Programm. Das möge nicht nur das Publikum, es hilft auch den Künstler:innen, weil die Karriere im klassischen Tanz noch früher vorbei ist. Aber auch hinter der Bühne gibt es Möglichkeiten: Erst kürzlich wurden die Mitarbeitenden verschiedener Gewerke in einem Speeddating miteinander bekannt gemacht.

Next Matters
Arbeiten von Dario Dinuzzi, Phoebe Jewitt, Zhiyelun Qi, Tanaka Roki, Mathew Prichard.
Die Ensemblemitglieder von TanzLuzern tanzen, choreografieren, begleiten die Produktion organisatorisch, dramaturgisch oder filmisch – je nach Interesse. Denn an dem Abend probieren sie sich aus für ihre zweite Karriere nach der aktiven Zeit auf der Bühne.
Dario Dinuzzi und Phoebe Jewitt choreografieren für jeweils fünf ihrer Kolleg:innen. Tanaka Roki und Zhiyelun Qi, beide neu im Ensemble von TanzLuzern, zeigen selbst entwickelte Solos. Mathew Prichard arbeitet an einem Tanzfilm.
Dario Dinuzzi hat damals in der Zwangspause nach seiner Operation mit dem Unterrichten begonnen, weil ihn eine befreundete Lehrerin ansprach. Heute nennt er sich nicht mehr Tänzer, sondern Tanzkünstler. «Der Tanz ist der Schirm, unter dem ich meine verschiedenen Aktivitäten bündle.» Er arbeitet als Choreograf, coacht und berät. Aber vor allem ist er Lehrer, arbeitet als Ballettmeister, gibt Workshops und hat sich als Gyrotonic-Trainer eine spezifische Methode angeeignet: «Ich habe schon auf fast allen Kontinenten unterrichtet, darauf bin ich stolz.»
Viele Tänzer:innen müssen nach ihrer aktiven Karriere ohne fremde Hilfe über die Runden kommen.
Bis heute gebe es in der Schweiz zu wenig finanzielle Unterstützung für Weiterbildungen. Die Vergütung während der aktiven Zeit sei so niedrig, dass sich Tänzer:innen unmöglich ein Polster für eine mögliche Weiterbildung anlegen können. Feste Jobs müsse man «mit der Lupe suchen», sagt Wanda Puvogel, und in der ganzen Tanzszene gebe es «wahnsinnig viel Selbstausbeutung».
Keine Ersparnisse für Weiterbildung
«Ich habe es selbst erlebt, dass mir in den 80er-Jahren auf dem Arbeitsamt gesagt wurde, ich hätte mir Geld für eine Weiterbildung zurücklegen sollen», sagt Kathleen McNurney. «Da konnte ich nur bitter lachen.» Sie war als Puvogels Vorgängerin zwölf Jahre lang Tanzdirektorin am Luzerner Theater, wechselte aber im Juni letzten Jahres ins Präsidium des Berufsverbandes Danse Suisse. «In den letzten Jahren sind wir schon einen grossen Schritt weitergekommen», sagt McNurney. «Aber wir müssen noch viel mehr schaffen.»
Sie und Puvogel weisen darauf hin, dass die Entwicklung der Tanzszene in der Schweiz anderen Ländern deutlich hinterherhinke. «Keine anerkannte Ausbildung ist hierzulande älter als 15 Jahre», sagt Puvogel. Und eine geregelte Ausbildung für Tanzpädagogik gebe es bis heute nicht. McNurney möchte ihren Verband sichtbarer machen. Das ist auch wichtig, weil viele Tänzer:innen nicht wüssten, wo sie welche Hilfe bekommen. «Viele sind Ausländer:innen, sprechen keine der hiesigen Sprachen, kennen das System nicht», sagt McNurney. «Für sie ist Orientierung besonders wichtig.» So hilft der Verband auch mit Musterverträgen, die obligatorischen Sozialversicherungen und eine berufliche Vorsorge einschliessen.

Der Artikel «Kunst mit Ablaufdatum» ist zuerst bei der unabhängigen Stimme für Kultur in der Zentralschweiz «041– Das Kulturmagazin» erschienen.
Im Sinne einer gegenseitigen Bereicherung tauscht das FRIDA Magazin hin und wieder Artikel mit anderen Medien aus.
Wer sich früh Gedanken macht, kann dem Übergang gelassen entgegensehen. Phoebe Jewitt wurde bereits während ihres Studiums in Contemporary Dance an der Zürcher Hochschule der Künste darauf vorbereitet, dass sie nur eine kurze Zeit habe, in der sie ihren Beruf werde ausüben können. Das hatte sie im Hinterkopf, als sie vor einigen Jahren begann, selbst zu choreografieren. Ihre Arbeit «For Old Times’ Sake» gewann Preise in Kopenhagen, Taipeh und Rom. «Es war wunderbar, ein Wendepunkt», sagt sie.
Sie tanzt selbst mit ihren Kollegen Mathew Prichard und Igli Mezini, zeichnet aber auch mitverantwortlich für Musik und Lichtdesign, die Kostüme sind ganz allein ihre Entwürfe. «Ich habe mir das vor allem selbst beigebracht», sagt die 27-Jährige. «Ich liebe es, mit Musik herumzutüfteln und mit Text und Tanz meine eigene Welt zu erschaffen.»
Sie tanzt leidenschaftlich gerne, aber sie hat sich Alternativen aufgebaut.
«Ich bin früh dran», sagt sie. Aber sie weiss eben auch, dass die aktive Zeit als Tänzerin für sie als Frau, die vielleicht einmal Kinder bekommen möchte, besonders kurz ist. «Frauen denken doch generell eher darüber nach, was sie wann wo machen wollen.»
Dario Dinuzzi, der wie Phoebe Jewitt in «Next Matters» eine eigene Choreografie vorstellt, sagt zu seinen Schüler:innen: «Jeder Mensch ist einzigartig. Was du also kannst, das kannst nur du. Jetzt musst du herausfinden, was das ist und wie du es ausdrücken kannst.» Dinuzzis Worte sind voller Herzblut. Aber der Gedanke an den Abschied vom Tanz fällt ihm sichtlich schwer. Begeistert erzählt er von dem Tänzer, der mit 46 Jahren ein Solo vorbereitet. Nein, der könne nicht mehr atemberaubende Sprünge machen. Aber er habe eine Intensität, eine Erfahrung im Körper, die ihm eine ganz andere Ausstrahlung verleihe. Wer Dario Dinuzzi zuschaut, wie er diese Unterschiede zwischen den Bewegungen der Jüngeren und der Älteren demonstriert, wünscht sich ohnehin viel mehr ältere Tänzer:innen auf der Bühne.
Next Matters
Premiere: Donnerstag, 17. November, 20 Uhr
Luzerner Theater