Hans Zimmer bei seinem Auftritt im Mediolanum Forum in Mailand im März 2022.

Hans Zimmer bei seinem Auftritt im Mediolanum Forum in Mailand im März 2022.

Bild: Keystone/Mondadori Portfolio/Elena Di Vincenzo

Hans Zimmer

Filmmusik ohne Film – geht das überhaupt?

Ein Konzert des Filmkomponisten Hans Zimmer im Hallenstadion Zürich gibt Anlass zu einer mäandernden Recherche, an deren Ende die Erkenntnis steht: Der eigens komponierten Filmmusik von Hans Zimmer fällt es live und ohne ihr Gegenstück schwer, ein Narrativ zu entwickeln. Kuratierte Musik in Filmen hingegen kann eine prägende Kraft entfalten, die Bezüge in die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ermöglicht.

Von Mathis Neuhaus

Zürich, 11.04.2022

7 min

Denke ich an Oerlikon, denke ich zunächst an zwei Skulpturen: Der auch 50 Jahre nach seiner Entstehung noch futurisch anmutende Brunnen «Sirius» von Annemie Fontana und das sachliche «Haus» von Peter Fischli und David Weiss befinden sich beide im Quartier im Norden Zürichs, in unmittelbarer Nachbarschaft zueinander. Sie bereichern den collagierten Stadtrand, zwischen Theater 11, der offenen Rennbahn, einer Kunsteisbahn, Parkhäusern, der Messe und dem Hallenstadion. Möglicherweise haben die Kunstwerke hier Schwierigkeiten, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Möglicherweise aber wollen sie das auch gar nicht, sondern gefallen sich in ihrer Beiläufigkeit. In ihrem peripheren Dasein in der Einflugschneise des Hallenstadions, das Platz für 15’000 Besucher:innen bietet. Und somit wohl als Platzhirsch bezeichnet werden darf. Oder als grösster gemeinsamer Nenner.

Das Hallenstadion ist vielfältig im weiten Feld des Pop. Mainstream, vielleicht, aber eben auch der Ort, an dem in den nächsten Monaten Künstler:innen wie die Pet Shop Boys, Dua Lipa, Billie Eilish oder Kiss Konzerte spielen werden. Daneben finden andere obskure Veranstaltungen statt, namens Paw Patrol Live, Gymnation, oder Cavalluna – Geheimnis der Ewigkeit. Eishockey wird ebenfalls gespielt, jedenfalls noch so lange, bis das neue Stadion der ZSC Lions irgendwann vielleicht doch fertig wird. Bei einem Blick in die Agenda bleibe ich am Namen des Filmkomponisten Hans Zimmer hängen. Was passiert mit der Musik, die für Blockbuster wie «Insterstellar», «Inception», «König der Löwen», «Blade Runner» oder «Fluch der Karibik» geschrieben wurde, wenn sie, gewissermassen dekontextualisiert, auf die ganz grosse Bühne gebracht wird? Passiert überhaupt irgendetwas? 

Statt in Hollywood auf Tournee

Am ersten Aprilwochenende 2022, als es nochmal für einige Tage Winter in der Schweiz wurde, hat der deutsche Komponist zwei ausverkaufte Konzerte für insgesamt über 20’000 Menschen im Hallenstadion gespielt. Eine Woche zuvor bekam er den zweiten Oscar seiner Karriere für die beste Filmmusik verliehen, die er zu Denis Villeneuves Verfilmung des Science-Fiction-Klassikers «Dune» beigesteuert hat. Wie alle anderen Gewinner:innen eher die Randnotiz eines Abends, dessen Hauptattraktion eine Ohrfeige war. Hans Zimmer jedenfalls hat sich vom viralen Trubel in Hollywood ferngehalten und seinen Preis aus sicherer Distanz angenommen, auf Tournee irgendwo zwischen Amsterdam, Mailand und eben Zürich; mit einer sehr umfangreichen Bühnenshow und einem umfangreichen Orchester, das aus insgesamt über 30 Musiker:innen besteht. 

Angeregt durch meinen Spaziergang zum Hallenstadion, der mich am «Haus» von Fischli/Weiss vorbeiführt, denke ich auf Platz 42 in Reihe 11 im Sektor V2 der Mehrzweckhalle über die Implikationen eines Massstabs nach: In ihrer Skulptur schrumpft das Schweizer Künstlerduo ein funktionales Gewerbegebäude um das Fünffache, konzipiert als «verkleinertes Abbild mittelständischer Macht und Prachtentfaltung.» Von dieser nuancierten Ironie, die der Neu-Skalierung zugrunde liegt, ist bei «Hans Zimmer Live» erstmal wenig zu spüren, und es wird massstabsgetreu gearbeitet. Grosse Kompositionen für grosse Filme, die ebenso gross auf die Bühnen dieser Welt gebracht werden. Aufwendig, teuer, exzessiv, epic

Nach dem Konzert recherchiere ich auf der Homepage der Filmdatenbank IMDb: Auf der Seite von Hans Zimmer finden sich, Stand heute, 224 Credits als Komponist, 178 Credits für Soundtracks und 146 in der Musikabteilung von Serien wie den «Simpsons», Videospielen wie «FIFA» oder Filmen wie «Bee Movie – Das Honigkomplott». Aus einer solch langen und illustren Karriere, mit zahllosen Kollaborateur:innen, resultiert natürlich Material für Stadiontouren genauso wie Material für, sagen wir, Pianobars oder kleinere Konzertsäle.

Ich navigiere durch die langen Listen und stosse auf die Kollaborationen des Komponisten mit dem Regisseur Steve McQueen für seine Filme «12 Years a Slave» und «Widows», die beide (wie alles von Steve McQueen) sehenswert sind. Vor allem der Soundtrack für «Widows» weckt mein Interesse: Nicht nur, weil die acht Stücke, die Hans Zimmer beigetragen hat, filigraner sind, als das, was ich im Hallenstadion zu hören bekam, sondern auch, weil durch die Songs drei weiterer Künstler:innen ein grösserer Referenzrahmen eröffnet wird: «Wild Is The Wind» der Jazzsängerin Nina Simone aus dem Jahr 1966, «Dice Game» von den Rappern The Cool Kids und «The Big Unknown» von Sades «Smooth Opertor» verankern den Soundtrack in genrespezifischeren Gewässern. 

Filmstill aus Steve Mc Queens «Widows», Teil des Konzerts von Hans Zimmer im Hallenstadion in Zürich.

Filmstill aus Steve Mc Queens «Widows»

Ein Wiedereinsteigen in Sades Oeuvre, die seit ihrer Beteiligung am Soundtrack von «Widows» im Jahr 2018 keine Musik veröffentlicht hat, führt mich über ihr Album «Lovers Rock» aus dem Jahr 2000 wieder zurück zu Steve McQueen: Sein ebenfalls «Lovers Rock» betitelter Film, der 2020 im Rahmen seiner fünfteiligen Small-Axe-Filmreihe veröffentlicht wurde, dokumentiert eine Geburtstagsparty im Londoner Stadtteil Notting Hill im Jahr 1980. Der Titel des Films referenziert das gleichnamige Genre, das sich ab Mitte der 1970er-Jahre aus Grossbritannien heraus entwickelte: Eine Stilrichtung des Reggaes, die für die Windrush Generation, also Angehörige der Schwarzen Diaspora in England, eine zentrale Rolle als gemeinschaftsstiftendes Element bildete. Private Lovers Rock-Partys, wie Steve McQueen sie in seinem Film zeigt, waren geschützte(re) Orte, die, im Alltag oft eingeschränkte, Formen des sozialen Austauschs ermöglichten. 

Im Gegensatz zu Hans Zimmer, der in seinen Filmkompositionen auf die originäre Genese von Musik setzt, nutzt Steve McQueen ein musikalisches Genre und dessen Geschichte als narrativen Anker seines Films. Und beeinflusst durch einen geschickten Einsatz derselbigen gar die Handlung. Die Geschehnisse während der Party werden durch einen Soundtrack strukturiert, der ikonische Lovers Rock Stücke miteinander in Verbindung setzt. Über «Darling Ooh» von Errol Dunkley, der die Party in Schwung bringt, sagt der Regisseur in einem anderen Interview: «Der Song hat einen Effekt, als versprühte man Parfum in einem Raum: für die richtige Stimmung.» Wenn der DJ, später im Film, «Silly Games» von Janet Kay spielt, bricht die Musik auf der Tanzfläche irgendwann ab und der ganze Raum verfällt in ein Sing-along, das, wie Steve McQueen im gleichen Interview rekapituliert, nicht geplant war: «Ich hatte natürlich gehofft, dass wir zu einem Punkt kommen, an dem die Leute anfangen zu singen. Deshalb habe ich den Ton abgestellt und es ist tatsächlich passiert. Das ist etwas, was man nicht planen kann. Wir wollten es, aber ich wollte es nicht erzwingen. Das es so kam, war schön, wunderschön.» 

Die musikalische Collage von Lovers Rock in «Lovers Rock» macht das (Wieder-)entdecken eines wegweisenden Genres möglich, beim Konzert von Hans Zimmer im Hallenstadion vermisse ich die visuellen Gegenstücke zu seinen Kompositionen: Timothée Chalamet und Zendaya in der Wüste von Arrakis in Dune, oder Daniel Craig als James Bond verwickelt in eine Verfolgungsjagd an einem malerischen Ort dieser Welt. Musik, die geschrieben wurde, um das bewegte Bild zu dramatisieren, wirkt live, ohne das Duett mit diesen Bildern, einsam. Trotz des unbestreitbar begabten Orchesters mit Hans Zimmer im Zentrum und einer Bühnenshow, die vermutlich ein grösseres Budget hatte, als der Film von McQueen. Klassiker wie «He’s the Greatest Dancer» von Sister Sledge wiederum sind, egal in welchem Kontext, in der Lage, ihre eigene Geschichte zu erzählen.