Beatrice Fleischlin im Porträt
Fleischlins Aufklärung
Beatrice Fleischlin tourt aktuell mit einer diversen Truppe in einem Zelt durch die Schweiz. In diesem Zelt wird Sex in unterschiedlichsten Ausprägungen verhandelt. – Dabei war in Fleischlins Leben doch alles ganz katholisch eingespurt worden. Wie aus der andächtigen Ministrantin im Luzernischen Sempach, Tochter einer Schweinezüchter-Familie, eine politische und queere Performerin wurde.
Luzern, 05.05.2022
Als Ministrantin machte sie ihre ersten theatralen Erfahrungen. Das sagt die Ko-Autorin des Sex-Stücks, Beatrice Fleischlin. «Die katholische Kirche hat also nicht nur schreckliche Erinnerungen bei mir hinterlassen.» Ihr langes Haar, dass sie als Kind in stets eng anliegenden Bauernzöpfen trug, durfte sie in dieser Rolle offen tragen. Sie habe sich gefühlt wie ein Engel und habe jedes Jucken, jeden laufenden Schnodder mit unbeeindruckter Erhabenheit ausgehalten. Man lobte sie als andächtigste Ministrantin im Luzernerischen Sempach, wo sie aufwuchs.
Jetzt steht die freischaffende Schauspielerin, Regisseurin und Performancekünstlerin in glitzernden Strümpfen in der «Manege». Ihr platinblondes kurzes Haar schaut unter der Mütze hervor. Es wird geprobt auf dem Inseli im Luzerner Seebecken. Das rotweisse Zelt, eigens für das Stück und seine Tour produziert, steht hier neben dem Kinderspielplatz. Draussen, hinter den Planen hört man Schiffe hornen, mal Techno aus tragbaren Boxen, mal Kinderlachen. Drinnen wird ein roter schwerer Samtvorhang aufgezogen. Dahinter viel Pailletten, Netzoberteile, Strass und hohe Hacken.
«Manege frei für die schönste und komplizierteste Nebensache der Welt», heisst es, und die Truppe von Menschen zwischen 20 und 60 Jahren beginnt mit ihrer Revue. Darin paaren sie «Gesellschaftskritik mit Humor, Aufklärung mit Unterhaltung und arbeiten dran, ein System aus den Angeln zu heben, das Menschen reduziert, in Rollen zwingt und Narben hinterlässt», heisst es im Stückbeschrieb. Dabei trifft man auf humanoide «Liebesroboter», auf kindliche Onanie-Erfahrungen, auf Tanz, Gesang und sehr viel Konsens.
«Manege frei für die schönste und komplizierteste Nebensache der Welt»
Der Motor Verunsicherung
Verantwortlich für «Das Sex Stück» sind die Performerin Beatrice Fleischlin und die Radioautorin Nina Hellenkemper. Zwei Frauen, die bereits seit Jahren an dieser gemeinsamen Idee sponnen. Nun stehen sie auch beide dafür auf der Bühne – tanzen, singen, fassen an.
Im Gespräch wirkt Fleischlin erst zurückhaltend, bezeichnet sich selbst gar als schüchtern. Doch das legt sich schnell. Und vielleicht sei das ein längst überholtes Bild von sich selbst, dem unsicheren, ruhigen Kind, dass sie gewesen sei. Ein Bild, das vielleicht schon lange nicht mehr zutreffe. «Verunsichert ist wohl das passendere Wort für mich, verunsichert durch Vieles», so Fleischlin. Doch genau dieses Gefühl sei die treibende Kraft dahinter, Dinge für sich zu erobern.
Die Kunst sei ihr Werkzeug, Themen und Welten, die sie verunsichern, zurückzuerobern. Ihr Körper, ihre Weiblichkeit, das Altern und die Scham um all das herum. «Die Realität nimmt uns unsere Selbstverständlichkeit, drückt sie in Formen – über die Kunst hole ich sie mir wieder.» Im Theater könne sie ihre eigenen Regeln aufstellen, ihre Arbeit und ihr Team so gestalten, wie sie sich ihre Welt wünscht. Fleischlins oft sehr politische Arbeiten dominiert eine zarte Subversivität, die mal auf überforderten Widerstand triff, oder auch auf ein in Tränen aufgelöstes Publikum. So jedenfalls zeigten es die Beobachtungen der Autorin dieses Artikels.
Aufgeklärt im Stall
Aufgewachsen ist Beatrice Fleischlin auf dem Land – mit acht Geschwistern – als älteste Tochter einer katholischen Schaf- und Schweinezüchterfamilie. «Sex gab es da nicht, es gab bloss Kinder», sagt sie und lacht. Über Sex habe man nicht gesprochen. Und ihre Aufklärung habe durch die Beobachtung von Schafen und Schweinen stattgefunden. «Wir hatten auch keine Sprache für Sexualität, den Akt, oder das Gebären, und wenn, dann war sie grob und übergriffig und hörte sich bei Tieren und Menschen gleich an.»
Sie habe damals auch oft damit gehadert, später einmal eine Frau werden zu müssen. «Ich sah, wie Frausein ständige Verfügbarkeit bedeutete und offenbar die Erlaubnis gab, sich übergriffig zu verhalten.»
Die Rückeroberung des eigenen Körpers ging Beatrice Fleischlin dann 2009 in ihrem Solo «my ten favorite ways to undress» erstmals auf der Bühne an – während ihrer Tanzweiterbildung in Berlin. Hier lernte sie auch ihre Partnerin Anja Meser kennen, mit der sie in den vergangenen Jahren Produktionen wie «Come on Baby», «This is me*» oder «Radical Hope» entwickelte – letztere in Zusammenarbeit mit minderjährigen unbegleiteten Asylsuchenden. Die Performerinnen arbeiten regelmässig zusammen und gewannen 2021 gemeinsam einen der Schweizer Preise Darstellende Künste. Für die Arbeit pendeln beide zwischen Basel und Berlin, wo das Familienzuhause mit dem sechsjährigen Sohn eingerichtet ist.
Aus der Bubble ins Zelt
Der Spagat zwischen den beiden Städten entwickelte sich in den letzten Jahren durch die vermehrte Arbeit in Luzern zu einer Achse. «Ich finde es toll, auch örtlich so fluid leben und arbeiten zu können», sagt Fleischlin. Dass «Das Sex Stück» in Luzern uraufgeführt werde, freue sie dabei besonders. «Hier auf dem Acker, wo ich den Humus kenne.» Es ist nicht die erste und wird nicht die letzte landwirtschaftliche Metapher im Gespräch bleiben.
Dass die Produktion in einem Zelt tourt, und nicht durch die Theaterräume der freien Szene, liege am inhaltlichen Ansatz. «Ich wollte bei diesem Thema nicht in meine eigene Bubble reinsprechen. Sondern an einem öffentlichen Ort auch ein anderes Publikum erreichen», so die 51-Jährige. Ein Publikum, dass sich nicht so intensiv, wie die junge freie Szene, mit Themen wie Gender, Sexismus oder Intersektionalität auseinandersetzt.
Sie empfinde es als toxisch, dass «Sex» in unserem Alltag so oft auf Penetration reduziert wird. «Sex fängt so viel früher an, als beim Berühren von Genitalien. Es geht um Zärtlichkeit, Alltag, Nähe, Vertrauen. Darum, sich zu begegnen auf so vielen Ebenen.» Das passt auf so viele ihrer Arbeiten, in welchen sie sich oft mit einem transnationalen, queeren Identitätsverständnis beschäftigt, auf der Suche nach einer eigenen Sprache, nach Ehrlichkeit hinter den Konventionen.
So entwickelte sie gemeinsam mit Antje Schupp und den kosovarischen Performern Astrit Ismaili und Labinot Rexhepi 2013 «Love. State. Kosovo» und «Islam für Christen – ein Crashkurs». Und als «associated artist« am Theaterhaus Südpol in Luzern organisierte sie unter anderem 2015 jeweils am letzten Tag des Monats «Just one minute!» – ein Mahnmal im öffentlichen Raum, gegen das Vergessen des Sterbens an den Grenzen Europas. Regie führte sie auch bei der Produktion «0021-Diamonds are forever» mit der Theaterschaffenden Annette von Goumoëns und ihrem Bruder Christoph, der mit Trisomie 21 geboren wurde.
Floristin auf Abwegen
Beatrice Fleischlin war nach ihrem Studium an der heutigen ZHDK über sechs Jahre mit dem Label GASTSTUBE° international unterwegs – an der Schnittstelle von Inszenierung, Installation und Interaktion. Es folgte eine Weiterbildung an der Tanzfabrik Berlin und Engagements unter anderen bei den Regisseuren Boris Nikitin und Thom Luz. Und neben alledem schreibt Fleischlin auch Theatertexte, war im Rahmen des «Stück Labors» gar Hausautorin am Theater Basel.
Die ersten zwanzig Jahre ihres Lebens jedoch hatte sie mit Theater nichts am Hut. Sie versuchte sich als Tankwart, Charcuterieverkäuferin und Hochzeitsfotografin, machte die Ausbildung als bäuerliche Hauswirtschaftlerin, lernte als Au-pair die Führung eines gehobenen Haushalts in der Romandie.
Während der Ausbildung zur Floristin jedoch fand sie durch einen Freikurs zum Theater, den sie eigentlich nur besuchte, weil eine Freundin sich alleine nicht getraut hätte. In ihrer ersten Produktion, mit Ecco Rondo, spielte sie nur 200 Meter vom Inseli entfernt, in der Turnhalle des damals neu eröffneten Gewerbeschulhauses – vor ziemlich genau 30 Jahren.