Klangkunst
Dimitri de Perrot: «Trainiere Dein Wissen über das Nichtwissen»
Kunst eröffnet neue Aufmerksamkeitsräume. Zu erleben ist das bei den Produktionen des Klangkünstlers Dimitri de Perrot. Ein Selbstversuch und ein Gespräch.
Zürich, 26.11.2024
1. November 2024, 18 Uhr, an der Gessnerallee in Zürich. Die Autos sausen Richtung Feierabend. Das Summen und Brummen der Motoren ist leiser als das Rauschen der Pneus auf dem nassen Asphalt. Von fern heult eine Sirene, dazwischen plötzliche Stille; dann Stimmen von der anderen Strassenseite. Die Lichter der Stadt spiegeln sich im Teer und verwandeln die tiefhängende Nebeldecke in eine fahl leuchtende Wolke.
Meine Aufmerksamkeit geht vollständig auf in diesem klingenden Bild. Ich scheine zu einem durchlässigen Empfänger eines Weltmoments geworden zu sein. Ein Gefühl totaler Präsenz, gepaart mit der körperlichen Empfindung grenzenloser Leichtigkeit.
Nein, es sind keine Drogen im Spiel.
Es ist die Kunst, die mich für einige Minuten an diesen Empfindungspunkt gebracht hat, von dem aus die Welt sich auf mirakulöse Weise weitet.
Gute Kunst ist immer eine Art Aufmerksamkeitsgenerator. Sie verwandelt unsere Wahrnehmung, weitet den Blick und lässt uns die Wirklichkeit für Momente völlig neu oder anders sehen.
Soweit ich mich erinnern kann, habe ich diese Verwandlung erstmals im Giacometti-Saal des Zürcher Kunsthauses erfahren. Ich war damals etwa 16 Jahre alt. Beim Verlassen der Ausstellung war die Stadt verwandelt. Ich sah Häuser und Menschen so, wie Giacometti sie gesehen haben muss. Auf einmal war die Welt ein bodenloser, Schwindel erregender Ort. Dieses Erlebnis war der Beginn meiner lebenslangen Auseinandersetzung mit Kunst.
Aber hier soll es um das Werk gehen, das mich an diesem Novemberabend die Gessnerallee als eine Art Weltmittelpunkt erfahren liess.
Mit dem Rücken hören
Der Klangkünstler Dimitri de Perrot hat im Theaterhaus Gessnerallee zur Uraufführung seiner Installation «Unter uns» geladen. Das Publikum, etwa zwanzig Personen, wird an der Kasse abgeholt, nach draussen geleitet, um das Haus durch einen anderen Eingang zu betreten.
In der dunklen Garderobe bittet uns die Reiseführerin, Jacken, Gepäck und Handys zurückzulassen und die Schuhe gegen ein Paar Wollsocken zu tauschen. Es wird kaum gesprochen. Eine Person nach der anderen wird allein auf den Weg geschickt, durch einen verwinkelten Korridor, an dessen Ecken man sich lebensgross im Spiegel sieht.
Der Gang endet in einem zuerst schwer fassbaren Raum, dessen Stoffdecke schief und in Falten über einem ausladenden Podest schwebt. Dort legen wir uns hin. Wer dies nicht möchte, kann auf Sitzsäcken am Rande dieser Insel Platz nehmen.
Unser Untergrund, das Podest, entpuppt sich als weitläufiger Klangkörper. Liegend wird mein Körper selbst zum Resonanzraum. Wogendes Rieseln erzeugt Gänsehaut. Es zischt, zirpt, klickt und klackt. Geräusche und Klänge flitzen und fliessen unter dem Körper hindurch, wandern von Ohr zu Ohr – und einmal mein ich, mit dem Rücken zu hören, vom Beben eines Gewitters durchdrungen – oder war es ein Bergsturz?
Rasch stellt sich das Gefühl von Orientierungslosigkeit ein, wohltuend und verwirrend zugleich. Fremdartige Klänge und eigene Assoziationen vermischen sich zu einem trudelnden Bewusstseinsstrom, einem Traum ähnlich.
Mit offenen Augen ist es nicht viel anders. Die Zeltdecke hat sich mittlerweile gehoben; ihr Zentrum – ist es ein Auge, eine Sonne? – wandert unmerklich über uns hin, senkt sich und verwandelt sich in eine Art steinerne Höhle, um am Ende hell am Zenit zu erstrahlen.
Abschied von den Theaterkonventionen
Eine Nacht und einige Träume später treffe ich Dimitri de Perrot zum Tee im «Volkshaus». Vor ziemlich genau sieben Jahren habe ich ihn an seinem Wohn- und Arbeitsort in Zürich Hottingen besucht. Damals stand sein Schaffen an einem Wendepunkt. Zwischen 1998 und 2016 hatte sich de Perrot, erst im Kollektiv Metzger/Zimmermann/de Perrot, später im Duo mit dem Artisten und Choreografen Martin Zimmermann, eine viel beachtete Karriere als Regisseur, Theatermusiker und Bühnenbildner erarbeitet.
Die Mischung aus Nouveau Cirque und spektakulären Installationen begeisterte das Publikum weltweit. Ihre unabhängige Company war zeitweise zu einem Unternehmen mit 40 Mitarbeitenden angewachsen und war der Exportschlager der Schweizer Theaterszene. Eine Erfolgsgeschichte, die hätte fortdauern können. Doch Zimmermann und de Perrot hatten sich auf dem Zenit des Erfolgs entschieden, getrennte Wege zu gehen.
De Perrot sagte damals, sich auf die Suche nach der ureigenen Stimme zu machen, sei keineswegs leicht gewesen: «Es entstand aus dem Wunsch, noch mehr zu verstehen. Ich wollte mich von den mir bekannten, eingeschliffenen Mustern und Theaterkonventionen befreien.
Um weiter zu kommen, muss man dahin gehen, wo es gefährlich und unsicher ist.»
Der Klangkünstler stellte sich damals für den Neuanfang eine radikale Frage: Was ist eigentlich schon da, bevor eine Aufführung beginnt? Und wie viel muss der Künstler hinzufügen, damit im Kopf des Betrachters etwas in Gang kommt? «Es geht mir darum, eine Haltung zu finden gegenüber einer mit Tönen, Worten, Bildern überfüllten Welt.»
Mit der Produktion «Myousic» – gemeinsam mit dem Perkussionisten Julian Sartorius – machte sich de Perrot auf den Weg, eine ganz eigene Bühnensprache zu finden. Mittlerweile nennt er diese «Deep-Listening-Theater», in Anlehnung an Pauline Oliveros, US-amerikanische Musikerin, die den Begriff des «Deep Listening», des offenen, bewussten und unbewussten Hörens, geprägt hat.
Seit 2016 kreierte de Perrot Produktionen und Installationen wie «Niemandsland», «Unless», «Strandgut & Blumen», «Schaufenster» oder «Into the Dirt», allesamt im Grenzbereich von Theater und Klanginstallation angesiedelt, mal im Theater, mal im Museum, mal im öffentlichen Raum zu sehen. Und nun also «Unter uns», eine Produktion, von der er sagt, sie sei vielleicht seine bisher radikalste.
Dem Boden zuhören
Zu Beginn des Projekts, an dem er rund zwei Jahre gearbeitet und ein ganzes Arsenal an natürlichen Geräuschen und Klängen gesammelt hat, sei dieser Gedanke gestanden: «Hören wir doch mal dem Boden zu, demjenigen Element, das uns trägt. Wir kommen aus dem Boden, ernähren uns von ihm, gehen auf ihm und kehren wieder in ihn zurück.»
«Wir sind für kurze Zeit ein winziger Teil dieser Erdgeschichte, dieses riesigen Organismus’, den es schon so lange gibt – und noch lange geben wird. Ich wollte etwas machen, wo der Mensch zwar Teil ist, aber nicht im Zentrum steht.»
Trotzdem, so de Perrot, gebe es einen sozialen Aspekt, der auch in der Doppeldeutigkeit des Titels «Unter uns» anklinge: «Das meint einerseits den Boden, hinterfragt aber auch, wer dieses ‘uns’, dieses ‘wir’, diese Gemeinschaft ist.»
De Perrot beschäftigt die Frage, was uns verbindet jenseits aller Polarisierung, die heute stattfindet. Wo fängt das Individuelle an, wo die Gemeinschaft? «Vielleicht kann ein solcher Raum, wenn wir dort liegen, uns dafür sensibilisieren.»
Und wie würde er die aktuelle Arbeit beschreiben?
«Ich will die Menschen einladen zu hören, sich auf einen Raum einzulassen und vielleicht gängige Narrative wie einen Text oder eine Geschichte hinter sich zu lassen. Die Besucher:innen erleben eine Art Kontrollverlust – sollen aber trotzdem Orientierung finden. Das Zuhören ermöglicht da Vieles.»
Sich auf das Hören und den Moment einzulassen, das töne vielleicht nach wenig, sei aber höchst aktuell, erklärt der Musiker.
«Es gibt ja so viel, das uns vom eigentlichen Moment ablenkt, nicht nur alle äusseren Einflüsse, sondern auch unsere Gedanken, Wünsche, Erwartungen. Es stellt sich also die Frage: Wie komm ich dazu, dass ich mich auf etwas einlasse, etwas anderem Raum gebe?»
Das Leben ist Improvisation
Die Aufmerksamkeit sei beim Hören viel umfänglicher als beim Sehen. «Mir scheint das gerade in unserer Zeit wichtig: Dass wir unser Wissen über das Nichtwissen, unser Wissen über das Nicht-Verstehen schulen und trainieren.»
Für de Perrot, den Autodidakten, der nie ein klassisches Instrument gelernt, sondern in den 1990igern als DJ angefangen hat, für ihn ist «das Leben eigentlich eine einzige grosse Improvisation.
Wir kontaminieren uns jeden Augenblick mit Welterfahrung und müssen uns in diesem steten Fluss orientieren.
Improvisation ist die Kunst dem gelebten Moment im Hier und Jetzt zu begegnen.»
Das fordere Aufmerksamkeit. «Ich sehe es als Aufgabe, sich diesem Fluss zu stellen. Es geht darum, Vertrauen ins Ungewisse zu schaffen, in das sich Verändernde, um entscheidungs- und handlungsfähig zu bleiben. Es gibt Sachen, die sind grösser als wir, und trotzdem sind wir Teil davon und verwandeln sie stetig mit. Das tiefe Zuhören, das sich nicht an die eigenen Gewissheiten klammert, ist dafür eine Grundbedingung.»
Sagt’s – und geht weiter – dahin, wo es unsicher, vielleicht auch gefährlich ist.
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«Unter uns» spielt noch bis am 30. November 2024 in Mannheim im EinTanzHaus im Rahmen des von der Kunsthalle Mannheim initiierten Netzwerks «Die 1920er Jahre in Mannheim» und der Ausstellung «Die neue Sachlichkeit».
Dimitri de Perrot im 2025
Mai: «Into the dirt» am Spring Performing Arts Festival in Utrecht
Juni: «Into the dirt» an der Schlossmediale Werdenberg
Juni: «Schaufenster» an den Ruhrfestspielen Recklinghausen
Herbst: «Unter uns» in Paris.
Herbst: «Niemandsland» als Museumsversion im Le Commun in Genf, im Rahmen des Festivals KorpSonor.
Update auf www.dimitrideperrot.com