Der Film «Girl Bang» im FRIDA Magazin

Leonie Balys aus Berlin lebt den Traum vieler Teenager: Sie ist erfolgreiche Influencerin. Der Film «Girl Gang» zeigt die Schattenseiten dieser Karriere.

Bild: Filmstill

Albtraum Influencerin

Die Social-Media-Prinzessin

Mit «Girl Gang» erscheint ein modernes Märchen im Kino: Teenagerin Leonie Balys aus Berlin wird Influencerin und angelt sich mithilfe ihrer Eltern Werbeauftrag nach Werbeauftrag. Ein Familienporträt in Zeiten der sozialen Medien.

Von Tamara Funck

Basel, 20.10.2022

8 min

Ein sonniger Tag in Berlin. Regisseurin Susanne Regina Meures beobachtet im Park am Prenzlauer Berg eine Gruppe von Mädchen und fragt sich, was die da tun. Pantomimentänze? Sie geht hin und bekommt die Social-Media-Plattform musical.ly (Vorgänger von TikTok) erklärt, auf der Nutzer sich mit der eigenen Handy-Kamera filmen und ihre Lippen synchron zu einem ausgewählten Lied bewegen. Die Filmemacherin ist fasziniert und entscheidet: Ihr nächster Film soll von den heutigen Mädels handeln, von den Girl-Gangs.

«Die junge Generation tickt anders, als wir das getan haben. Die, die in den Parks rumhängen und mit den Jungs ein Bierchen trinken, gibt’s noch, aber die Girl-Gangs von heute sind die Mädchen, die sich im Internet versammeln», sagt Meures.

Die Filmemacherin lernt die 14-jährige Schülerin Leonie Balys an einer Messe kennen und begleitet sie für die nächsten vier Jahre mit der Kamera. Leonie (@leoobalys) postet regelmässig Fotos und Videos auf Instagram, TikTok und YouTube, und so wächst eine Fangemeinde, ihre eigene Girl-Gang namens «Leooarmy», heran.

Die Verwandlung

Fünf Jahre nach dem ersten Drehtag feiert der Dokumentarfilm «Girl Gang» am Zurich Film Festival und in Berlin Premiere und kommt am
27. Oktober in die Schweizer Kinos. «Girl Gang» zeigt, wie Leonies Anzahl Follower rasant anwächst, sie neben Hausaufgaben Videos produziert und unter Dauerstress steht. Doch neben einem Einblick in das Leben einer jungen Influencerin ist «Girl Gang» vor allem eines: ein intimes Familienporträt in der Zeit der sozialen Medien.

Die Eltern sind Ostberliner, aufgewachsen in der DDR und träumten vom Westen als etwas Grosses und Glitzerndes, für sie Unerreichbares. «Das war das Schlaraffenland. Wir haben alle davon geträumt, reich zu werden. Nein, wir wollten frei sein», erinnert sich Vater Andy.

Filmstill aus «Girl Gang» im FRIDA Magazin

Vater und Manager Andy in «Girl Gang».

Bild: Filmstill

Geht es um Tochter Leonie, sind Mutter Sani und Vater Andy immer dabei, entweder als Mama und Papa oder als Managerin und Manager. Sie chauffieren ihr Mädchen von Termin zu Termin, verhandeln Honorare und erinnern sie, wenn es wieder Zeit ist, Inhalte über ihre Social-Media-Kanäle zu publizieren. Leonie durchläuft die Pubertät und verwandelt sich vor den Augen ihrer Eltern in eine Instagram-Prinzessin. Nach zwei Jahren zählt sie 500’000 Follower auf der Plattform, nach drei Jahren sind es über eine Million Follower.

«Mein Leben ist so viel spannender jetzt. Wahnsinn, was Leo uns ermöglicht. Wenn was schieflaufen würde, würde ich es wahrscheinlich gar nicht merken. Man ist so bedröppelt vor Glück», sagt Vater Andy.

Zwischen Empathie und Verurteilung

Leonies Onlinepräsenz wird zu einem lukrativen Geschäft. Immer mehr Unternehmen klopfen mit Werbeaufträgen an. Andy und Sani suchen nach einem Management. Weil sie niemandem trauen können, behalten sie das Management in ihren Händen und kündigen ihre Jobs. Fortan lebt die dreiköpfige Familie von den Einnahmen, die Leonie als Influencerin generiert.

Als Zuschauer schwankt man zwischen Empathie, Ungläubigkeit und Verurteilung. Wie können die Eltern nur?! Ist das nicht zu viel Druck für Leonie? Und lebt sie noch ihren eigenen Traum oder längst denjenigen ihrer Eltern?

Was oder wer ist schuld?

«Die Dynamik ist komplex. Die Eltern sind einerseits die Erzieher, die Grenzen setzen müssen, und gleichzeitig sind es die Manager, die an Jobs erinnern müssen. Es ist ein Paradoxon, das sicher nicht immer einfach zu handhaben ist», sagt Susanne Regina Meures über ihre Protagonisten.

Gegen Ende des Films, als die Aufträge sich mehren und der Druck steigt, ist das Familienklima insgesamt schlechter als zuvor. Mutter Sani sagt: «Wir müssen liefern. Wir müssen die ganze Zeit liefern. Manchmal denke ich, ich kann nicht mehr.»

 

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Leonie setzt zwar für ihre Fans ein Lächeln auf und hält jede ihrer Tätigkeiten mit der Kamera fest, doch von den Eltern ist sie scheinbar dauergenervt. Sie knallt die Zimmertür zu, will nicht essen, fällt müde ins Bett. Was oder wer ist schuld? Die Pubertät? Die Eltern? Social Media? Der Film lässt es dem Publikum offen, sein eigenes Urteil zu fällen.

Influencerin versus Spitzensportlerin

«Für Influencer:innen entsteht ein hoher Druck, ständig perfekte Posts abzuliefern und sich auch nicht zu verändern, wenn man mal einen Stil angenommen hat. Follower reagieren oft ungehalten, wenn jemand die Erwartungen nicht mehr erfüllt. Das ist vergleichbar mit dem Druck, dem junge Spitzensportler:innen oder Profimusiker:innen ausgesetzt sind», weiss Daniel Süss, Professor für Medienpsychologie an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften.

Ausserdem sei es richtig, von einem genderspezifischen Phänomen, von Girl-Gangs, zu sprechen. «Influencer:innen verbreiten Inhalte zu sehr vielfältigen Themen. Wenn es um Lifestyle, Mode, Ernährung und Schönheit geht, dann sind da in viel höherem Masse Mädchen interessiert. Jungen interessieren sich mehr für humorvolle Posts, Challenges, Gaming und sportliche Inszenierungen.»

Filmstill aus «Gril Gang» im FRIDA Magazin

Bild: Filmstill aus «Girl Gang»

Eine «Boy Gang» als Fangemeinde würde also recht anders daherkommen. Eine euphorisierte Fan-Ansammlung bei Jungen könne man bei Sportanlässen beobachten, aber nicht, wenn eine Influencerin oder ein Influencer an einem Ort auf Follower trifft.

Der Sog von Social Media

Fan-Ansammlungen sieht man im Film immer wieder: Follower stehen Schlange, um mit Leonie ein Foto zu machen. Sie weinen, kriegen keine Worte raus und sind völlig überwältigt, ihr Idol vor sich zu haben. Leo ist für sie etwas zwischen einem Peer, älteren Geschwister und bewunderten Celebrity. Die Fans meinen, sie wirklich nahe und intim zu kennen.

Wie es Leonie mit all dem geht, weiss man nicht. Der Film bietet wenig Einblicke in ihre Gefühlswelt – und doch sagt sie: «Social Media ist eine Sucht», und macht deutlich, dass der ständige Applaus, der sich in Likes und Kommentaren ausdrückt, ihr Antrieb sei.

Während man dem Teenie zuschaut, wie sie postet und postet und immer mehr Follower dazu gewinnt (jetziger Stand: 1,6 Millionen), taucht man selber ein in den Sog von Social Media und in die Fanhysterie von Leonies Girl-Gang. Das ist ziemlich anstrengend, sogar vom Kinosessel aus.

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«Girl Gang», Schweizer Kinostart: 27. Oktober.
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