Ilja Komarov und Trixa Arnold auf dem Dach des Kulturhauses der Metallurg in Ishevsk.

Trixa Arnold und Ilja Komarov bespielen mit ihrem Wandertheater Orte jenseits der konventionellen Kulturinstitutionen. Hier auf dem Dach des Kulturhauses der Metallurg in Ishevsk.

Bild: zvg

Trixa Arnold und Ilja Komarov

Die Künstler:innen verlassen Russland

Im Juli sind sie mit ihrem zeitgenössischen Wandertheater noch durch Russland getourt und waren begeistert von der dortigen Gastfreundschaft. Nun werden Trixa Arnold und Ilja Komarov selbst zu Gastgebern. Ihre russischen Freunde haben das Land fluchtartig verlassen.

Von Mathias Balzer

Zürich, 14.03.2022

6 min

«Man kann sich für vieles schämen. Für sich, seine Kinder, seine Familie. Für sein Land, seinen Präsidenten. Für seine Taten und Unterlassungen.» Diesen Text haben die Theatermacher:innen Trixa Arnold und Ilja Komarov vor drei Jahren geschrieben, als Einleitung zu ihrem Projekt «Schäm Dich!».

Angesichts des Kriegs in der Ukraine haben Arnold und Komarov den drei Jahre alten Text erweitert. Sie schreiben: «Und heute schämen wir uns zutiefst. Für Russland und seinen Präsidenten. Für unsere Unterlassungen. Der Westen hat diesen Krieg ermöglicht, indem er die Bomben bezahlt, die jetzt auf die Ukraine fallen. Und wir haben weggeschaut.»

Das Paar arbeitet seit 2004 in der Zürcher Theaterszene. Ilja Komarov ist in einer russischen Familie in Estland geboren, hat den russischen Pass, fühlt sich der russischen Kultur zugehörig. Seinen Grossvater in der Ukraine hat er als Kind jedes Jahr besucht. Er sagt: «Darum empfinde ich die Situation derzeit als so schmerzhaft. Ich leide darunter, dass Russland diesen Krieg anzettelt, darunter, was den Ukrainern angetan wird, darunter, dass die Russen nun pauschal verurteilt werden.» Denn lange nicht alle befürworten den Krieg.

Er und seine Partnerin kennen das Land gut, waren bereits in den Neunzigerjahren oft dort, haben in den Nullerjahren zwei Jahre in Sankt Petersburg gelebt. Sie haben den Aufstieg Putins mitverfolgt, aber auch sie haben diese Katastrophe nicht in diesem Ausmass kommen sehen.

Trixa Arnold und Ilja Kamarov bei einer Aufführung von «Schäm Dich!» im CZDR, dem Center für zeitgenössische Dramaturgie und Regie in Ishevsk.

Trixa Arnold und Ilja Kamarov bei einer Aufführung von «Schäm Dich!» im CZDR, dem Center für zeitgenössische Dramaturgie und Regie in Ishevsk.

Ihr Projekt «Schäm Dich!» ist als zeitgenössisches Wandertheater konzipiert. Arnold und Komarov stellen die Frage «Wofür schämst Du Dich?», lassen Menschen in einem «Scham-O-Maten» darüber reden oder sie sammeln Statements an den Aufführungen und füllen damit ihr Scham-Archiv, das wiederum Grundlage ihrer Performance ist. Die Theatermacher anonymisieren, verdichten und überschreiben die gesammelten Scham-Geständnisse, tragen eine Auswahl der bis heute 400 Geschichten dem Publikum vor. Das Setting ist einfach. Zwei Stühle, etwas Technik, ein Kreis für das Publikum.

Wandertheater als politisches Format

Organisiert von einem russischen Künstlerpaar, mitfinanziert vom Moskauer Büro der Pro Helvetia, ist «Schäm Dich!» im Juli 2021 durch Russland getourt. 13 Aufführungen in zehn Städten, von Jekaterinburg bis Sankt Petersburg, viele in kunstfernen Räumen wie auf Hausdächern, in Hinterhöfen oder Küchen, einige in Museen, nur eine in einem Theater. Arnold und Komarov verstehen ihr Wandertheater als politisches Format, mit welchem sie Menschen ausserhalb der traditionellen Kulturhäuser erreichen wollen.

Komarov sagt: «Man redet über etwas, das alle betrifft. Eigentlich sind schambesetzte Erfahrungen privat, verborgen. Sie trennen uns voneinander. Dadurch, dass man sie äussert, entsteht eine neue Verbindung zwischen den Beteiligten.» Und Arnold erklärt: «Es kann befreiend sein, über Verborgenes zu sprechen. Es kann auch befreiend sein, zu hören, dass andere vom Selben betroffen sind wie Du. Wir versuchen dieses Teilen von Erfahrungen, möglichst niederschwellig zu halten. Mit einer ganz einfachen künstlerischen Form.»

In Russland haben die Menschen auf diese Aufforderung anders reagiert als das eher zurückhaltende Schweizer Publikum. Bereits nach zehn Minuten seien Diskussionen entstanden oder hätten Leute begonnen, ihre eigenen Scham-Geschichten zu erzählen. Anders steht es jedoch um die Offenheit der Russen, wenn es um Politik geht.

Künstler unter Spionageverdacht

Trixa Arnold sagt: «Man redet nicht über Politik. Ich wollte aber auch nie insistieren, da ich nicht weiss, ob die Menschen davor Angst haben.» Komarov meint: «Wir haben uns vor allem in der Kulturszene bewegt. Wir haben das Thema auch vermieden, weil Künstler, die mit westlichen Organisationen in Kontakt stehen, bereits dem Verdacht der ‹Spionage› ausgesetzt sind. Vor kurzer Zeit wurde ja ein Gesetz eingeführt, das dem Staat erlaubt, Organisationen, die vom Ausland finanziert werden, zu überwachen, da sie sich der Spionage verdächtig machen.»

Komarov warnt vor dieser Situation und ergänzt, schon die schweizerische Kulturstiftung Pro Helvetia, die auch ihre Tournee unterstützt habe, könnte durchaus unter diesen Verdacht fallen. Ihr letzter Auftritt im Museum Akhmatova in Sankt Petersburg habe beispielsweise nicht im offiziellen Programm stattgefunden, sondern quasi inkognito. «Die Museumsleitung hat uns ausdrücklich darauf hingewiesen, dass wir nichts auf Social Media posten sollen, weil das Probleme geben könnte», so Komarov.

Er erzählt, wie viele seiner russischen Facebook- oder Telegramm-Freund:innen, die sich zu Beginn des Krieges noch geäussert hätten, nun schweigen. Trixa Arnold erzählt von ihren Kontakten in der russischen LGBTQ-Gemeinde. «Mit Ihnen sind wir über die Plattform Signal verbunden. Die schreiben, dass sie sich gar nicht mehr vor die Tür trauen. Und sie ziehen sich auch aus den sozialen Medien zurück.»

Arnold sieht dadurch einen dramatischen Braindrain auf das Land zukommen. Die überfüllten Züge von Russland nach Finnland sprechen da für sich. Persönlich machen sich Arnold und Komarov jedoch Sorgen um ihre Freunde, das Paar, das ihre Tournee in Russland organisiert hat.

Flucht aus Russland

Die beiden treten unter dem Namen Gorod Ustinov in Erscheinung und realisieren niederschwellige, institutionskritische Projekte, sie gehen beispielsweise mit ihrem «Museum Delivery» zu den Menschen nach Hause. Und sie haben viele Kontakte zur Kulturszene im Westen. «Auch mit ihnen haben wir kaum über Realpolitik gesprochen», so Arnold. «Aber für sie ist Kunst ausserhalb der staatlich kontrollierten Institutionen bereits ein politischer Akt.»

Aus Angst, auf den Radar der Behörden zu geraten, und davor, dass Putin den Eisernen Vorhang wieder aus der Mottenkiste kramt und die Bevölkerung demnächst wieder zu Gefangenen im eigenen Land macht, haben die beiden die Flucht ergriffen und sind nach Taschkent, Usbekistan, geflogen. Für sie die einzige Möglichkeit rauszukommen.

«Wir überlegen uns jetzt, wie wir das Künstlerpaar unterstützen könnten», sagt Arnold. «Russen können ja keinen Asylantrag in der Schweiz stellen. Aber wir werden versuchen, die Kooperation mit ihnen auszubauen.»

Aber was die nahe Zukunft bringt, ist schwer abschätzbar. Zwei Tage nach unserem Gespräch schickt Ilja Komarov einen Link des «Van Magazins», einem russischen Portal für klassische Musik. Darin veröffentlichen verschiedene Musiker:innen Statements gegen den Krieg und sagen, dass sie im Land bleiben werden. Kamarov schreibt, das zeige, dass nicht alle Angst hätten. Sein Freund Vladimir Rannev, ein Musiker, veröffentliche auch auf diesem Portal und bleibe in Russland, obwohl er fliehen könnte.

Letzten Donnerstag dann dies: Putin betitelt in einer Rede jeglichen Widerspruch gegen den Krieg in der Ukraine, gegen seine Politik, gegen seine Sicht der Dinge als «Abschaum und Verrat» und droht damit allen Andersdenkenden in Russland. Er spricht von «natürlicher Säuberung», die das Land «nur stärken» könne, wenn «echte Patrioten die Verräter einfach ausspucken wie eine zufällig verirrte Mücke».

«Schäm Dich!», 5. bis 10. April, Fabriktheater Rote Fabrik, Zürich. Im Mai spielen Arnold/Komarov zwei Wochen in Rotterdam und den Niederlanden, im August ist das Projekt ans Fringe Festival in Edinburgh geladen.