Interview mit Christopher Rüping
«Das Theater hat mein Leben gerettet»
Ein Gespräch mit dem vielfach ausgezeichneten Regisseur Christopher Rüping über Fremdsein in Zürich, Theater als Medium der Überraschung, die Flucht vor der Wiederholung, das Aushebeln von Stoffen, über das kleine Gespenst und Publikumsschwund.
Zürich, 20.10.2022
Christopher Rüping, geboren 1985 in Hannover, hat mit 37 Jahren geschafft, wovon andere ein Leben lang träumen: Bereits fünf seiner Arbeiten wurden zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Im vergangenen Mai war dies «Das neue Leben», eine betörende Adaption der berühmten Erzählung von Dante Alleghieri. Die Inszenierung ist ab Donnerstag, 20. Oktober, am Schauspielhaus Zürich zu sehen.
Das Gespräch mit Rüping findet in der Schiffbau-Halle statt, in der noch der Wald von seiner Inszenierung «Border» steht, mit Bäumen und «Waldpool». Der Regisseur verteidigt höflich, aber bestimmt den reservierten Raum gegen immer mal wieder eintreffende Gäste. «Ich wusste gar nicht, was alles so an einem Theater passiert, wenn eigentlich nichts passiert.»
Rüpings Sache ist nicht die Provokation, sondern das Verbindende. Im Gespräch ist er zugewandt, locker. Auffallend oft beginnt er Sätze mit einem verbindenden «und». Er sagt, dass es ihm nur im Austausch mit dem Team gelinge, immer wieder neue, überraschende Mittel für seine Arbeiten zu finden und so «seine eigene Handschrift zu fliehen», wie er das nennt. Immer wieder wird deutlich, dass er sehr bewusst und reflektiert tut, was er tut. Aber die Eingangsfrage überrascht ihn sichtlich.
Christopher Rüping, Sie haben «Border» inszeniert, Hauptthema: Ist man fremd oder nicht, gehört man dazu? Und als nächstes machen Sie Sarah Kanes «Gier», da geht es um Gier nach Nähe, sagen Sie. Da fragt man sich schon: Fühlen Sie sich wohl in Zürich?
Ich habe den Zusammenhang zwischen den beiden Stücken noch gar nicht so gezogen, aber es ist natürlich schlagend, jetzt wo ich es höre.
Sie drücken es selbst so aus in einem Werbefilm des Schauspielhauses.
Wahrscheinlich spricht da eher mein Unterbewusstsein. Das zeigt wieder, wie sehr man den Blick von aussen braucht. Richtig, bei «Border» ging es darum, gehört man dazu, gehört man nicht dazu. Aber eben auch: Wie schafft man Räume, in denen sich die, die sich nicht zugehörig fühlen, zugehörig fühlen können. Die Figur, die Wiebke Mollenhauer spielt, fühlt sich auf der leeren Bühne nicht gesehen und nicht gemeint. Sie braucht einen Wald, hinter dessen Stämmen sie verschwinden, ins Wasser springen kann, wo sie Boden unter den Füssen hat. Das ist eine sehr theatrale Frage und eine, die mich in Zürich beschäftigt. Grundsätzlich ist es aber tatsächlich so, dass ich schon immer mit dieser Stadt gekämpft habe.
Sie kennen Zürich seit Ihrem Studium?
In einem Erasmus-Austauschprogramm bin ich von der Theaterakademie Hamburg für ein Semester an die Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) gekommen. Ich habe in einem Studentenwohnheim in Wollishofen gewohnt, in der Nähe der Roten Fabrik. Draussen fiel der Schnee. In meiner WG waren noch sieben Physik-Studierende.
Ich habe mich so allein gefühlt wie noch nie in meinem Leben.
Und draussen wurden die Schneeflocken immer dicker. So ein Regiestudium ist wie jedes Kunststudium davon geprägt, dass man allein für sich Dinge überlegt – man hat nicht die ganze Zeit an der Hochschule zu tun. Ein paar Jahre später habe ich in der Schiffbau-Box «Frühstück bei Tiffany» inszeniert, mit Nils Kahnwald. Diesmal hatte ich eine Wohnung am Schiffbau, wieder fiel der Schnee. Und wieder stieg die Einsamkeit in Wellen in mir auf.
Jetzt sind Sie Hausregisseur. Da sind Sie hoffentlich nicht mehr so einsam?
Nein. Aber als mich Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg fragten, ob ich mit nach Zürich kommen wollte, fiel vor meinem inneren Auge direkt wieder der Schnee. Ich kann das noch immer fühlen. Ich weiss nicht, was es über die Stadt und was es über mich als Mensch aussagt. Aber ein halbes Jahr nach meiner Rückkehr hierher war ja wegen Corona gleich schon wieder Schluss. Und ich sass wieder zuhause. Dieses Gefühl der Nicht-Angebundenheit war auch ein Teil der Folie für «Border». Denn nicht alle, nicht einmal die meisten, aber doch ein beträchtlicher Teil der Menschen, die mir in Zürich begegnet sind, können es nachempfinden.
Und in «Gier» geht es auch um Zürich?
Nein, da geht es eher um eine pandemische Erfahrung: um die Gier nach Nähe, nach Austausch, nach Rausch – Bedürfnisse, die in den letzten Jahren schwer zu stillen waren und es nach wie vor sind. Wenn man jetzt zum Beispiel wieder ins Theater geht, dann hat man eine Erwartungshaltung, ein Bedürfnis, dass sich etwas bestimmtes ereignet, dass man so vermisst hat. Und häufig wird man da enttäuscht.
Die Erwartungen sind zu hoch.
Genau. Gier: Ein Verlangen, das wächst, in dem Moment, wo man es befriedigt.
«Das neue Leben. Where do we go from here», frei nach Dante Alighieri, Meat Loaf & Britney Spears» behandelt auch dieses Gefühl von Trost, das Bedürfnis nach Nähe.
Es gibt Verbindungen. Aber bei Dante, in der Musik von Britney Spears und Meat Loaf, gibt es viel mehr Licht im Dunkel – ein Licht, an dem man sich wärmen kann. Bei Sarah Kane ist das Licht ein Feuerzeug im Sturm.
Vor der Premiere von «Brüste und Eier» nach dem Roman von Mieko Kawakami haben Sie unter dem Hashtag «#publikumsschwund» getweetet, es würde «die erste Premiere, seit ich Theater mache, die nicht ausverkauft sein wird. Bricht mir das Herz.» Haben Sie das Wort Publikumsschwund erfunden?
Ich habe es mir nicht ausgedacht. Aber ich habe es wohl als erster auf Twitter benutzt.
Dabei möchte ich wirklich nicht der Erfinder von Publikumsschwund sein.
Bereuen Sie den Tweet?
Nein. Der normale Vorgang im Theater ist der: Auf der Bühne predigt man «Zeig deine Wunde». Aber betriebswirtschaftlich kaschiert man jede Unsicherheit. Man spricht nicht gerne darüber, dass wenige Leute kommen. Ist ja auch nichts, was einen glücklich macht.
Die Diskussion ist voll entbrannt. Die Gründe, die dafür «gefunden» werden, sind manchmal haarsträubend.
Natürlich entgleist die Diskussion immer wieder völlig in Richtung Polemik, unglaublich, wie schnell das passiert. Aber es ist wichtig, dass man darüber spricht. Auch öffentlich.
Sie waren im April sehr früh mit Ihrem Tweet. Wie stehen Sie heute zu dem Thema?
Ich habe eine These. Ich weiss nicht, ob sie gut ist, aber sie ist die beste, die mir zur Verfügung steht. Sie geht so: Die Leute kommen nach wie vor, wenn sie sehr genau wissen, was sie bekommen. Deswegen gibt es im Kino so viele Sequels von Blockbustern, deshalb sind die Konzerte der grossen Stars ausverkauft. Deshalb ist die Wiederaufnahme meiner Inszenierung «Dionysos Stadt» in München ausverkauft, obwohl sie zehn Stunden dauert und unter Corona-Gesichtspunkten eine Zumutung ist. Nun ist das Schöne am Theater, dass man nicht weiss, was man bekommt. Egal, welcher Stoff verhandelt wird, egal, wer daran beteiligt ist, egal, wer da mitspielt – so ganz weiss man nicht, was passieren wird. Das ist ein entscheidendes Qualitätsmerkmal, aber jetzt wird es zum Nachteil für das Genre, das wie kein anderes Medium auf Überraschung setzt. Diese Tendenz gab es vorher schon, aber sie wurde durch Corona beschleunigt. Da fällt mir auch auf die Füsse, dass ich als Regisseur den Überraschungs- und den Flüchtigkeitseffekt möglichst gross machen will.
Welche Lösungen sehen Sie?
Entweder wir finden eine neue Art zu kommunizieren, dass die Zuschauer:innen besser wissen, was sie erwartet. Oder die Neugier des Publikums wächst wieder und es gibt ein wieder erstarktes Interesse für das Unbekannte.
Aber weil sich die Welt gerade so schnell dreht, und sich so viele Dinge ändern, und Krisen so sehr zuspitzen, wollen eben viele nicht auch noch im Theater mit Neuem gestresst werden.
Sie setzen, sagen Sie selbst, auf den Überraschungs- und Flüchtigkeitseffekt, wollen sich mit jeder Inszenierung neu erfinden. Ein Essay, in dem Sie das beschreiben, trägt die Überschrift «Über die Flucht vor der eigenen Handschrift». Wie erreichen Sie das?
Der wirkungsvollste Schutz davor, sich ständig selbst zu wiederholen, ist anderen die Möglichkeit zu geben, den Prozess zu beeinflussen. Der zweite Schutz ist der Stoff. Die Idee für die Form muss immer aus dem Stoff kommen und nicht andersherum. Drittens ergeben sich aus dem jeweiligen Bühnenraum und der ihn umgebenden Stadt spezifische Ableitungen. Aber das ist viel schwerer in Worte zu fassen.
Benjamin Lilie, Maja Beckmann, Wiebke Mollenhauer, vorher noch Nils Kahnwald, arbeiten immer mit Ihnen, das ist Teil Ihrer Verabredung mit dem Schauspielhaus Zürich. Auch im Regieteam ist Wiederholung, etwa mit dem Bühnenbildner Jonathan Mertz, der Kostümbildnerin Lene Schwind arbeiten Sie regelmässig zusammen. Ist das kein Widerspruch, dieses Sich-ständig-neu-erfinden-Wollen und das Beharren auf immer den gleichen Menschen?
Diese Kontinuität ermöglicht den Schauspieler:innen, die Inszenierung viel mehr zu beeinflussen, weil sie angstfreier arbeiten können. Benjamin, Maja und Wiebke etwa können sich darauf verlassen, dass meine Liebe zu ihnen uneingeschränkt ist. Sie müssen sich damit nicht beschäftigen, sondern können sich auf das Inhaltliche konzentrieren. Das Ergebnis ist daher nicht immer nur das, was ich als Regisseur so mag. Und um aber nicht immer dieselben Gespräche zu führen, versuchen wir, sowohl auf der Bühne als auch im Team, neue Menschen kennenzulernen und auch sie das Ergebnis beeinflussen zu lassen. Ich will nicht als Regisseur über alles drüberbügeln, egal mit wem, an was und wo ich arbeite.
Diese Zusammenarbeit schützt Sie als Regisseur vor Wiederholung?
Wenn die Form nicht mehr aus dem Inhalt, aus den Leuten, aus der Zeit, aus dem Ort entsteht, sondern nur, weil es der Regisseur so will, dann wird Theater langweilig.
Im Theater sitzen acht Wochen vor der Premiere 20 Leute um einen Tisch. Und die Aufgabe ist es, all diese Leute teilhaben zu lassen. Was auf einer Bühne passiert, ist ein flüchtiges Ergebnis all der Gespräche und der angefangenen Gedanken, die im Raum zirkulieren. Wer nicht kollaborativ arbeiten kann, ist am Theater falsch. Der kann auch nicht zu einem Publikum kommunizieren.
Wie wählen Sie den Stoff aus?
Es gibt immer einen persönlichen inhaltlichen Antrieb, warum ich einen Stoff wähle, sonst mache ich es gar nicht. Ich mache keine Stoffe mehr, die ich nicht will. Aber gute Stoffe zu finden, wird schwerer, je länger man Theater macht. Ich befürchte, dass diese Antwort unbefriedigend wird, weil ich es selbst nicht genau weiss. Da ist etwas extrem Persönliches in mir. Meistens reicht mir ein Satz, eine Frage.
Ein Satz? Das ist nicht viel…
… und schon der fällt mir bei 80 Prozent der Stoffe nicht ein. Für «Border» lautet diese Frage: Wie entstehen Räume, in denen Menschen sich wohlfühlen, welche sich in den üblichen Räumen, die unsere Gesellschaft zur Verfügung stellt, nicht wohlfühlen? Oder bei «Gier»: Wie stillt man ein unstillbares Bedürfnis? Diese Fragen beschäftigen mich hier im Theater, aber auch in der Gesellschaft. Bei «Das neue Leben» war die Frage: Wie finde ich Trost? In diesem ganzen Corona-Horror: Tausende Menschen sterben in Krankenhäusern, jeder einzelne von ihnen hinterlässt Lücken. Aber man kann es nicht verarbeiten, sondern sitzt allein zuhause. Und für «Einfach das Ende der Welt» war die Frage: Bin ich der, der ich bin, wegen, trotz oder ungeachtet der Situation, aus der ich komme?
Und von diesem Satz aus hebeln Sie das Stück aus?
Genau. Von da aus entstehen Risse, eine Kartografie, der ich folgen kann. Der Satz ist aber darauf angewiesen, dass sich andere Sätze, andere Meinungen daran herankristallisieren. Und dafür braucht man den Dialog auf der Probe. Zu Beginn meiner Karriere hatte der eine Satz zum Teil gar nichts zu tun mit dem Stoff – das geht auch nicht.
Da hat man Stoffe an Sie herangetragen? Daher der Satz: Ich mache keine Stoffe mehr, mit denen ich nichts anfangen kann?
Genau. Es kann sein, dass ich trotzdem scheitere, keine Frage. Ich bin jetzt an einem Punkt, wo ich sage:
Wenn ich nicht weiss, warum ich es mache, mache ich lieber gar nichts.
Können Sie sich erinnern, wie Sie mit Theater in Berührung gekommen sind?
Ich bin in Hannover aufgewachsen. In der 3. Klasse wurde «Das kleine Gespenst» aufgeführt. Und das Mädchen, in das ich wahnsinnig verliebt war, spielte das kleine Gespenst. Weil ich mich im echten Leben nicht traute, mit ihr zu reden, habe ich mich auf die Rolle des Oskar beworben, der auf der Bühne sehr viel mit dem Gespenst zu reden hatte. So fing alles an.
Danach wollten Sie ans Theater?
Seither wusste ich, dass es Theater gibt. Viel signifikanter war, dass ich mit 14, 15, 16 Jahren, also in der Zeit, in der man stark mit der Welt kämpft, keinen Platz für mich fand. Ich war auf einem humanistischen Gymnasium, habe Kampfsport gemacht, Ju-Jitsu. Aber an allen drei Orten – Familie, Schule, Sport – hatte ich das Gefühl, dass sie nicht meine sind, so wie Tina zu Beginn von «Border». Ich war händeringend, auf der Suche nach einem Ort, an dem ich mich wohl fühlte. Es war wirklich existentiell, ohne das jetzt dramatisieren zu wollen. Und dann fand ich die Jugendclubs vom Schauspiel Hannover. Das war mein Raum, ein Ort, an dem man sich über das Leben, über Musik und über sich selbst austauscht. Ich empfand es damals so, als würde das Theater mein Leben retten. Das war der Anfang.
Christopher Rüping am Schauspielhaus Zürich
«Das neue Leben – Where do we go from here», Nach Dante Alleghieri. Ab Donnerstag, 20. Oktober.
«Border» Nach dem Film von Ali Abbasi.