Romana Ganzoni besuchte bereits als Kind Formel-1-Rennen. Sie selbst fährt Rennvelo.
Bild: Mayk Wendt
Literatur
Auf den Schultern von Piz Papa
Die Autorin Romana Ganzoni schreibt derzeit für eine Veranstaltung am neuen Festival Zeit:fluss über die erste Schweizer Bergführerin, Nicole Niquille. Wir haben mit ihr ein E-Mail-Ping-Pong gespielt – über Männer und Berge, Clay Regazoni, die Passion in der Kunst und Wadenkrämpfe auf dem Rennvelo.
Chur/Celerina, 27.08.2025
Liebe Romana, ich beginne nun unser Ping-Pong. Der Ablauf ist einfach: Wir spielen uns über die – sagen wir mal – nächsten acht bis zehn Tage in lockerer Folge Fragen und Antworten zu. Die Antworten müssen nicht sofort kommen, sollten jedoch nicht allzu episch ausfallen.
Erinnerst du dich an Deine erste Bergbesteigung?
Romana Ganzoni: Hier meine nicht allzu epische Antwort. Ich kann anschliessend gerne auch noch kürzer werden: An die erste reale Bergbesteigung erinnere ich mich nicht, aber ich erinnere mich an zwei Männer, die mir als kleines Kind wie Berge vorkamen, der eine war mein Vater, der mich Huckepack nahm, mal ohne, mal mit Gestell, und mich auf seinen Schultern reiten liess, bis ich zu hüpfen begann oder einschlief, der andere Berg und enge Freund meiner Eltern hiess Linard. Wie fein der immer roch! Nach Benzin, Öl und Abgasen.
Wenn mein Vater und ich Linard in seiner Werkstatt besuchten, hob er mich hoch hoch hoch, tü est ün pasler, sagte Linard, du bist ein Spatz. Ich fühlte mich als VIP, über allen Dingen schwebend. Genau wie in Monza, wo mein Vater mich 1970 an den Grand Prix von Italien mitnahm. Es war ein warmer Septembernachmittag. Ich thronte auf den Schultern des Piz Papa, überblickte alle und alles, in der Hand eine kleine Schweizer-Fahne, die ich wie ein Szepter hielt.
Ich war aufgeregt, denn es starteten drei Schweizer: Clay Regazzoni (Ferrari), Joe Siffert (March-Ford) und Silvio Moser (Bellasi). Jackie Stewart (March-Ford) war am Start, Jean-Pierre Beltoise (Matra), Pedro Rodriguez (BRM), Emerson Fittipaldi (Lotus) und Jacky Ickx (Ferrari). Zum Glück hatte man mir verschwiegen, dass Super-Star Jochen Rindt (Lotus) am Tag zuvor beim Training tödlich verunglückt war.
Als Clay Regazzoni mit einer Zeit von 1:39:06:880 gewann, rutschte ich – 3 Jahre 4 Monate 19 Tage 30 Minuten alt – meinem Vater vom Buckel, wir streckten uns, schritten breitbeinig davon und spuckten auf den Boden, bevor wir ins Engadin fuhren. Mein Leben war ein einziger Höhenflug.
Du realisierst, gemeinsam mit Franziska von Fischer, für das neue Engadiner Festival Zeit:fluss eine Lesung mit dem Titel «Die Bergführerin». Inspiriert von der unglaublichen Geschichte der ersten Bergführerin Nicole Niquille, der es im Jahr 1986(!) gelang, als erste Frau in der Männerdomäne der Bergführer aufgenommen zu werden, ist diese literarische Reise in die Welt der Berge entstanden. So steht es im Programm des Festivals. Hättest Du lieber etwas über Autorennfahrerinnen gemacht?
R.G.: Ob es eine so unglaubliche und berührende Geschichte, wie sie Nicole Niquille in ihrer Autobiographie erzählt, auch unter Autorennfahrerinnen gibt? Ich weiss es nicht. Für mich sind die Formel-1-Rennen untrennbar verbunden mit dem Bergsteigen, das ich als Kind als etwas sehr männliches wahrgenommen habe. Mein Vater war Alpinist – und sein bester Freund, der tödlich verunglückte. Formel-1 und Bergsteigen, das war sehr nah am Leben und sehr nah am Tod, was mir gefiel.
Romana Ganzoni
Romana Ganzoni (geb. 1967 in Scuol) studierte Geschichte und Germanistik in Zürich. Nach einem Aufenthalt in London unterrichtete sie zwanzig Jahre am Gymnasium, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Ganzoni schreibt Erzählungen, Gedichte, Essays und Romane, Kommentare und Kolumnen in verschiedenen Zeitungen und Blogs, sowohl auf Deutsch als auch auf Rätoromanisch.
2014 war sie Finalistin beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt. Für ihren Erzählband «Granada Grischun» (2017) und ihren ersten Roman «Tod in Genua» (2019) wurde sie mit dem Bündner Literaturpreis 2020 ausgezeichnet. Ganzoni lebt mit ihrer Familie in Celerina.
Hast du selbst je ein Hobby betrieben, das «sehr nah am Leben und sehr nah am Tod» ist?
R.G.: Hobby würde ich das nicht nennen. Eher eine Passion im Wortsinn, ein Leiden. Leiden, wenn ich es tue. Leiden, wenn ich es nicht tue. Wie das Schreiben oder – in meiner Jugend – süchtig Geröllhalden ansteuern. Auch an kalten Tagen oder bei schlechtem Wetter. Im Nebel. Raufrennen. Rutschen. Auf die gepolsterten Knie fallen. Weitermachen. Wenn alles schmerzt, ein paar schöne Steine in den Rucksack packen. Das Alleinsein geniessen. Die Höhe.
Und dann. Das Passfahren. Mit dem Rennvelo. Ein rosarotes Cilo, dessen Garage mein Zimmer war, es stand neben meinem Bett, ich hätte das schöne Gerät lieber in meinem Bett gewusst, gut zugedeckt, aber es hatte keinen Platz. Den Pass rauftrampen. An schlechten Tagen mit sauren Beinen, ich fluchte, und ich fluchte wegen der Krämpfe oder wenn der Bidon leer war, ich an die Hausaufgaben dachte oder an Herrn Sch. Gleichzeitig fand ich, die Schmerzen zeugen davon, dass ich alles gegeben habe, dass ich über mich hinaus gefahren bin und mir deshalb das allermeiste egal sein kann.
Anschliessend. Den Pass runterrasen. Mich der Geschwindigkeit hingeben, dem Wind, dem Rausch. Kopf runter. So spät und kurz wie möglich bremsen. Nervöse, an die Pedalen festgezurrte Füsse. Hielt die Bremse? Ein Collé könnte platzen. Ich würde zerschlagen in der Mulde liegen. Sterben.
Das war zu einer Zeit, als es wenige Rennvelofahrerinnen im Unterengadin gab. Eine ganze Weile waren wir zu zweit, Frau D. und ich. Wir mochten uns nicht besonders. Sie war alt. Ich war jung. Wir hatten ausser dem Rennvelofahren nichts gemein. Trotzdem hätte ich Frau D. mit Zähnen und Klauen verteidigt, hätte Herr Sch., der überall verlauten liess, ein Weiberarsch passe nicht auf einen Rennsattel, etwas gegen sie gesagt. Die Leute, die mir wichtig waren, fanden es gut, dass ich Rennvelo fuhr. Aber sogar wenn kein Mensch uns unterstützt hätte, Frau D. und ich wären weitergefahren. Weil wir nicht anders konnten.
Gefällt Ihnen dieser Beitrag?
Wir verstehen uns als niederschwellige, experimentelle Plattform für Kulturvermittlung, welche die Teilhabe möglichst breiter Bevölkerungsschichten ermöglicht. Im Online-Bereich sind unsere Inhalte darum neu kostenlos zugänglich.
Sie können unser Magazin jedoch mit einer Spende unterstützen:
Wie andere Frauen auch. Zum Beispiel Nicole Niquille, die erste Bergführerin der Schweiz. Ich war nie eine Bergsteigerin, aber von Nicole Niquille liesse ich mich überallhin führen. Ich lese ihre Autobiographie, folge dem Text zu ihrer Prüfung und Richtung Gipfel, schreibe, was mir dazu einfällt. Können Finger beim Schreiben sauer werden? Eher taub. Sehnen entzünden sich, Schultern und Rücken tun weh, Augen trocknen aus, die Sehkraft schwindet, Zweifel am eigenen Tun schwellen an. Egal. Schmerzen zeugen davon, dass ich alles gegeben habe.
Deine Antwort ist episch, aber das sagen nur Journalist:innen, die Angst vor epischen Antworten haben, die sie dann so nicht abdrucken können, weil es Regeln gibt, redaktionelle, die besagen, dass Antworten nicht episch sein solllen und Fragen schon gar nicht. Ich sah Dich eben den Pass runterfliegen mit Deinem rosaroten Cilo, irgendwo im Engadin, wo ich ja auch aufgewachsen bin, in St. Moritz.
Dort ging ich im Sommer aber vor allem baden in den Lej Marsch, wo wir Moorschlachten veranstalteten oder Frisbee spielten – und wo ich auch zum ersten Mal zu viel Martini Bianco getrunken habe. Im Winter war ich mindestens vier Tage die Woche auf dem Eis mit Stock und Helm und Puck, in grossen gepolsterten Hosen, und Schonern an allen Gelenken, als linker Flügel von Roberto Triulzi, der dann ja Karriere gemacht hat, während ich mit 16 aufgehört habe mit Schlittschuhlaufen, dafür angefangen mit rauchen, trinken, schreiben, malen, töpfern, kiffen, küssen – was ja auch alles ziemlich viel Zeit für Training beansprucht. Aber eigentlich sollten wir uns ja wegen dem neuen Engadiner Kulturfestival Zeit:fluss über Euren Abend zu Nicole Niquille unterhalten. Was macht ihr da genau, wenn ihr selbst keine Ahnung vom Bergsteigen habt? Einfach Ihre Texte lesen?
R.G.: So schön kann Ping Pong also sein! Vielen Dank für Deine epische Antwort, die ins Moor und aufs Eis führt, genau wie Deine Frage: Wie gestalten zwei Nichtbergsteigerinnen eine Hommage, wie einen literarischen Abend über eine Bergführerin?
Sie folgen in einem ersten Schritt den Texten der ersten patentierten Bergführerin der Schweiz, Nicole Niquille, sie folgen den Texten von Annemarie Schwarzenbach, die kluge Dinge über das Engadin formuliert, und sie folgen den Texten von Henriette d’Angeville, bekannt als erste grosse Alpinistin.
Franziska von Fischer – Schauspielerin, Sprecherin und vieles mehr – studiert und arrangiert diese Texte und arbeitet so lange daran, bis sie als Collage schwingen und klingen und mir einen Dialog anbieten, worauf sieben neue Texte entstehen, die sich mit den Erlebnissen und Einfällen der anderen Autorinnen verbinden, sie befragen und reflektieren, aber auch zum Anlass nehmen, eine eigene Route zu wählen.
Im Wechsel mit Franziska von Fischer werde ich diese Texte lesen, am Dienstag, 16. September, 17h, in der Biblioteca Engiadinaisa, Sils, sowie am 19. September, 17h, im Hotel Chesa Randolina, ebenfalls in Sils. Dies im Rahmenprogramm des neuen Kulturfestivals Zeit:fluss unter der Leitung von Till Löffler, das auf das Internationale Musikfest Resonanzen folgt.
Das ist jetzt bereits ein sehr runder Schluss dieses Textes, der dem Veranstalter sicher auch gefallen würde, da ja der Anfang und das Ende eines Textes immer am meisten Aufmerksamkeit bekommen. Aber Du hast vorhin das Schreiben als Passion beschrieben, ein Leiden, wenn Du es tust, und eines, wenn Du es nicht tust. Was sollen wir jetzt tun: Weitermachen und daran leiden, einen möglichst guten Text schreiben zu wollen? (Wobei lang ja überhaupt nicht automatisch gut bedeutet.) Oder sollen wir aufhören und daran leiden, dass es schon zu Ende ist? Dafür könnten wir versuchen, den Feierabend mit allem drum und dran zu geniessen – obwohl es hier in Chur erst 15:20 Uhr anzeigt.
R.G.: Verdammt sind wir! Schreiben wir nicht weiter: Das Beste wäre vielleicht noch gekommen? Schreiben wir weiter: Haben wird den idealen Schluss verpasst?
Tun oder lassen: Beides geht und geht nicht. Also ein Drittes: Ein Stück Feierabend-Schokolade aus der Küchenschublade. Wärst Du da, ich würde mit Dir teilen.
In Celerina ist es jetzt 15:34.
Zeit:fluss Kulturfest
Als 2023 das Internationale Musikfest Resonanzen nach einundzwanzig Durchführungen zu Ende ging, entschloss sich das Hotel Waldhaus Sils, ein neues Kulturfest für Sils und das Engadin zu initiieren. Im Herbst 2025 findet die erste Ausgabe des interdisziplinären Festivals im Oberengadin statt.
Intendant des Festivals ist der Komponist, Dirigent, Pianist und Theatermusiker Till Löffler. Die künstlerische Leitung wechselt von Ausgabe zu Ausgabe. 2025 sind die Sängerin Anne-May Krüger sowie der Posaunist und Komponist Mike Svoboda für die Programmierung verantwortlich.
Zeit:fluss
14. bis 20. September 2025