Davide-Christelle Sanvees Performance an der Ausstellung «Bang Bang» im Museum Tinguely in Basel im Jahr 2022.

Davide-Christelle Sanvees Performance an der Ausstellung «BANG BANG» im Museum Tinguely in Basel im Jahr 2022.

Performance

Das ungezähmte Kind der Kunst

Die Performance in der Schweiz erhält durch die gross angelegte Publikation «Revolving Histories» neue Sichtbarkeit. Die Autorin Nicole Müller beschreibt, warum sie diese flüchtige Kunst nicht mag, aber trotzdem liebt.

Von Nicole Müller

Basel, 30.09.2025

9 min

Kunst unterliegt den Verschlingungsmechanismen des Kapitalismus. Sie ist ein Distinktionsmerkmal für die Vermögenden. Besonders attraktiv ist sie wegen der Knappheit bestimmter Werke.

Im Bereich der Kunst erleben auch sogenannte High-net-worth individuals (HNWI), also Ultrareiche, dass sie nicht alles bekommen können. Ganz wie normale Sterbliche, die sich zum Beispiel bei der Wohnungssuche auf Tipps von Freundinnen oder schieres Glück verlassen müssen, müssen HNWI, wenn sie eines der distinktionsbildenden Kunstwerke haben möchten, Beziehungen, Geduld und Glück haben.

Das grosse Portemonnaie allein reicht nicht. Kunst funktioniert hier ähnlich wie Marken funktionieren. Gucci ist Bling-Bling. Hermès ist Tradition und Sinn für Qualität. Kunstwerke markieren ebenfalls Identität. Zu Gucci passt vielleicht eher ein Jeff Koons, während Matisse eher Hermès zugeordnet werden könnte.

Performance Kunst interessiert mich vor allem deshalb, weil sie diese erprobten Mechanismen unterläuft.

Man weiss nicht so recht, was hier das Produkt wäre, das verkauft werden könnte: Ist es die Idee bzw. die Lizenz, um eine bestimmte Idee jederzeit sichtbar zu machen? Ist es ein pars pro toto, also ein Ganzes oder ein Teil der Objekte, die im Act zur Aufführung kommen? Ist es die exklusive oder in limitierter Auflage erhältliche Dokumentation der Performance? Sind es Artefakte der Vorbereitung, also Skizzen, Fotos etc.?

Am ehesten noch ergäbe sich im Bereich der Performance Kunst Distinktion durch Dabeigewesensein: «Ich habe Yoko Onos Performance live gesehen, in den 1960er-Jahren in New York.» «Ich habe Marina Abramović in die Augen geschaut. Wow!»

Wie aber liesse sich dieses Dabeigewesensein monetarisieren? Das weiss man zum Glück nicht so genau. Und wird es hoffentlich nie wissen, denn an der Performance Kunst gefällt mir, dass sie das ungezähmte Kind der Kunst ist.

Volksfest

Im Dorf meiner Kindheit gab es alle paar Jahre ein Dorffest. Einmal musste Geld her für die Renovation der Kirche. Ein anderes Mal musste ein neues Schulhaus gebaut werden. Das ganze Dorf befand sich im Fieber. Alle werkelten vor sich hin, die Vorbereitungen dauerten über Monate. Es gab Krach, es entstanden lebenslange Freundschaften.

Und wenn die grossen, von viel Wetterbangigkeit begleiteten Tage dann endlich kamen, sass der Getränkelieferant im Bierzelt und trank das von ihm gelieferte Bier. Die Kinder kauften die Wundertüten, die sie selbst bestückt hatten. Die Frauen assen den Kuchen der Nachbarin, der sonst gratis für sie gewesen wäre. Und nicht selten gewann jemand bei der Tombola den selbst gestifteten Preis.

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Revolving Histories

Gemeinsam mit Performance Künstler:innen aller Regionen der Schweiz thematisiert die kollektive Recherche «Revolving Histories» die Zusammenarbeit, Soziale Eleganz und das Weitergeben von performativem Wissen. Ausgehend vom Ausstellungsprojekt «BANG BANG – translokale Performance Geschichte:n» im Museum Tinguely 2022, wird in dieser Publikation eine Praxis gegenseitiger Inspiration sichtbar. Künstler:innen, Journalist:innen, Kurator:innen, Wissenschaftler:innen und Archivar:innen führen als Autor:innen mit kurzen Texten an aktuelle Themen und Fragestellungen der Performance Kunst heran. Reiches Bildmaterial rund um das Ausstellungsprojekt, die Lust am Erzählen, die Aussenperspektive sowie das Involviert-Sein versprechen Lesegenuss.

Ergänzend erscheint im Jahr 2026 die Publikation «Atlas Revolving Histories – zu translokaler Performance Kunst Schweiz».

Bestellbar beim Vexer-Verlag

Die Durchlässigkeit der Rollen, dieses Hin- und Herfluten von Machen und Konsumieren, das Gemeinschaftsgefühl, das Gefühl, zusammen unterwegs zu sein, etwas zustande zu bringen, das leicht auch ein Nullsummenspiel oder ein Defizit hätte sein können: All dies erlebe ich auch bei der Performance-Kunst.

Wer sind die Künstler:innen? Wer ist das Publikum? Ist die Journalistin Teil der Performance oder der Berichterstattung? Gibt es eine Wissenschaft der Performance-Kunst, ohne dass die Wissenschaft in sie involviert wäre? Die Grenzen sind flirrend, alles andere als trennscharf. Das widersetzt sich der betriebswirtschaftlichen Kategorisierung und Spezialisierung.

Hier geht es um Netze, Wurzelgeflechte, praktizierte Konflikte. Um alles, was wir sein könnten, wenn uns vom Kapitalismus nicht der Gang aufs Siegertreppchen verordnet worden wäre.

Ich bin so gerne herumgegangen im Format «Come and Show» bei «BANG BANG – translokale Performance Geschichte:n» im Museum Tinguely in Basel, von Performance zu Performance, wie wenn man an einem Fest von Stand zu Stand geht und hängen bleibt, wo das Angebot auf ein Interesse stösst. Und hinter den Kochtöpfen in der Küche im Garten vor dem Museum standen Performance-Künstler:innen, die noch für ganz anderes berühmt sind als nur für ihre Küche.

Arte Povera

Auch die Kargheit der eingesetzten Mittel in der Performance Kunst erinnert mich an die Welt des Dorfes. Da ist keine Bühne und kein roter Vorhang, keine gebührende Distanz, die die unmittelbare Körperlichkeit dämpfen könnte. Es ist Körper und Idee, viel «Bricolage» auch.

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Ariane Lugeons Performance an der Ausstellung «BANG BANG» im Museum Tinguely in Basel im Jahr 2022.

Eine Kunst, die den Frauen entgegenkommt, die immer schon haben improvisieren müssen, um über die Runden zu kommen.

Mich fasziniert die Ökonomie dieser Kunstform, die Tatsache, dass man mit wenig materiellem Aufwand unendlich viele Aussagen und weite Atmosphären schaffen kann, die ein Lasso werfen nach denen, die zuschauen, um sie hineinzunehmen in das Spiel der Bedeutungen.

Politik und Körper

In die Geld generierenden Prozesse werden nur die zugelassen, die den strengen Standards einer patriarchalen Machtstruktur entsprechen. Du bist schön, du bist jung, hast Busen, ein kantiges Kinn, Muskeln. Du unterzeichnest die Regeln der Macht. Wir sind umgeben von normgebenden Bildern, die ganze Zeit. Beim Warten auf den Bus, auf Tinder, in beruflichen Zusammenhängen.

«Being a black body, there is a sense that politics will follow you wherever you go», sagt die Künstlerin Kudzanai Violet Hwami. Das gilt auch für den weiblichen und den Trans-Körper oder überhaupt für alle Körper, die nicht der standardisierten Norm entsprechen. Performance-Kunst exploriert Positionen, die in den übrigen Kunstgattungen nicht zugelassen oder nur nachlässig integriert werden.

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Sharka Reys Performance an der Ausstellung «BANG BANG» im Museum Tinguely in Basel im Jahr 2022.

Sie ist ein wunderbares Feld, um über die Gewalt der Zuschreibungen und mentaler Dressuren nachzudenken und anderes zu erforschen und durchzuspielen. Für mich ist Performance-Kunst die am meisten politische Gattung der Kunst und daher eine ständige Quelle von Ärger und Inspiration.

Aufgezwungene Intimität

Wer kennt es nicht. Man steht herum und wartet, bis die Performance anfängt. Man sieht jeden Fleck auf der Hose. Es riecht streng. Die Performerin ist möglicherweise nackt. Oder man fragt sich, wie die Künstler ihre Kleider und Schuhe jemals wieder sauber bekommen. Einiges sieht peinlich nach Gebastel aus. Hat es jetzt schon angefangen? Oder wärmt sich die Künstlerin, der Künstler nur auf? Ist da jemand ohnmächtig geworden oder gehört das zur Performance?

Die aufgezwungene Nähe und Intimität sind oft quälend.

Wie bei einem Unfall möchte man lieber nichts wissen und schaut trotzdem hin.

Und doch ist es gerade diese radikale Nähe, die es mir erlaubt, mitzugehen und mit meinen Spiegelneuronen eine Erfahrung nachzuvollziehen, die mir sonst verschlossen bliebe. Es ist Körper und Körper. Ich bin da. Die anderen sind da. Und nun gehe ich mit, an Orte, wo ich noch nie gewesen bin.

Seit vierzig Jahren begleitet mich die Performance-Kunst. Seit vierzig Jahren denke ich immer mal wieder: Jetzt reicht es dann. Aber dann gehe ich wieder hin und schaue mir Performances an. Frisch gestärkt und naiv wie immer, sodass man durchaus sagen kann: I don’t like performance art. But I love it.

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Revolving Histories – Radio Live Event

Zur Feier des Erscheinens des Lesebuchs Revolving Histories wird zu einem Radio Live Event eingeladen, wo Texte der Publikation vorgestellt werden. Gemeinsam mit «Radio X» im Foyer Public des Theater Basel wird eine Livesendung entstehen, bei der das Publikum fünf Stunden sowohl live als auch via Radio dabei sein kann. 

Im Anschluss wird das schweizweite Performance Netzwerk PANCH mit Surprise Performances ab 17h auf dem Theaterplatz präsent sein.

Zum Anlass