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«Das Meer in den Bergen»

Bild: Bündner Kunstmuseum

Kunst

Brief an Leiko Ikemura

Unsere Autorin hat Leiko Ikemuras Ausstellung «Das Meer in den Bergen» im Bündner Kunstmuseum besucht. Sie hat der Künstlerin einen Brief geschrieben.

Von Margarita Balthermia

Graubünden, 12.09.2025

8 min

Liebe Leiko Ikemura

Du hast mich zu diesem Brief inspiriert, wofür ich Dir sehr danke. Und bitte verzeih das <Du> – aber ich brauche diese Nähe, um Dir schreiben zu können.

Ich habe «Das Meer in den Bergen» besucht, Deine Ausstellung im Bündner Kunstmuseum.
Ein Haus, dessen Neubau ich eigentlich ungern betrete.
Ich mag es nicht, wenn die Kunst in den Keller verbannt wird, ohne Tageslicht und ohne frische Luft. Da gehören eigentlich die Autos hin.

Aber das sind Gedanken vor denen man sich auch in Acht nehmen sollte. Zu leicht schreiben sie sich fest und spiegeln uns vor, die Wirklichkeit zu sein.

Der Besuch Deiner Ausstellung liess mich völlig vergessen, dass ich so weit unter der Erde bin.

Schon zu Beginn lädst Du mich ein, verschlungenen Wegen zu folgen. Oder sind es Bachläufe, die sich den Weg durch den Kies aus Andeer bahnen?
Und Du zeigst mir elf Steine aus dem Rhein, wenn ich denn richtig gezählt habe.
Sie fragen: Sind wir jetzt Kunst, weil wir in diesem Haus der Kunst sind? Und was waren wir vorher, am Wasser, und nachher, wenn uns ein Lastwagen wieder dorthin zurückbringen wird – hoffentlich.

Was werden wir dann sein? Steine, die einmal, für ein Momentchen in ihrem langen, langen Leben Kunst waren?

Ich lese, dass Du vor 36 Jahren ein Jahr in dieser Landschaft hier, im Dörfchen Sarn verbracht hast. Damals hast Du die Berge mit zögerndem, feinem Strich aufs Papier gebracht, ein Herantasten, das ich nun auf den fünf Zeichnungen aus dem Jahr 1989 sehe.

Und ich frage mich, ob das damals begonnen hat: Haben sich damals Mensch, Tier, Pflanzen, Steine, Wind und Wasser zusammengefunden, um jene Fabel- und Geisterwesen zu gebären, die nun hier am Wegesrand, am Flussufer stehen und mich staunend empfangen?

Zu Bronze gewordene schalkhafte Hunde-, Hasen- und Katzenwesen – nur das Kind trägt eine Rakete auf dem Rücken und erinnert an Deine Heimat – Japan.

An Hiroshima und Nagasaki, die Stunde Null Deiner Kultur, von der aus Du dich aufgemacht hast nach Europa, Dostojewski, Sartre, Beauvoir und Camus im Gepäck, das Absurde und all seine Schmerzen im Kopf, die Hoffnung des Sisyphos und die Sehnsucht nach Camus’ Mittelmeerkultur in der Seele.

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«Das Meer in den Bergen»

Bild: Bündner Kunstmuseum

Und nun bringst Du das Meer in die Alpen zurück. Wie Unter-Wasser-Wegweiser stehen Deine grünlichen Bronzestelen da und erinnern mich an den Sisyphos der existentialistischen Kunst, Alberto Giacometti, und seine stoisch ihr Schicksal fixierenden Frauenfiguren.

Auf Deinen langgestreckten Säulen hast Du ihnen Hasenohren aufgesetzt, oder sind es die Flügel einer Libelle? Oder geflügelte Gedanken in Erwartung des anbrechenden Morgens?

Die andere Säule trägt an der Spitze einen kleinen Vogel. Der wiederum erinnert mich an die Vögel und Tiere, die Diego Giacomettis Möbel behausen. Sie werden ja gleichzeitig in diesem Haus ausgestellt.

Auf der gegenüber liegenden Seite des Raums liegt träumend eine andere Bündner Berühmtheit am Bildrand: Zarathustra. Aber Du hast seinen Übermenschen zurück in die Natur geschickt, die Zentralperspektiven aufgelöst, ihm den biblischen Ton ausgetrieben und ihn in eine Landschaft gebettet, die wiederum an Deine Heimat erinnert, an die Tuschmalerei des Zen-Mönchs Sesshū Tōyō oder die ver-rückten Landschaften des chinesischen Taoisten Fan Kuan.

Du gibst diesen Bildern den Namen «Genesis», Ursprung.

Die Welt ist – nach langer Zeit an der Luft – wieder unter Wasser gebettet und irgendwie zum Frieden gekommen, als ob sie ihren Aggregatzustand gewechselt hätte.

Aber vielleicht ist das Meer in diesen Bergen ja gar nicht salziges H2O, sondern die Zeit, die alles umfliesst, genauso, wie Du diesen gesamten Museumsraum zum Fliessen bringst.

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«Das Meer in den Bergen»

Bild: Bündner Kunstmuseum

Ja! Du hast den Aggregatzustand des Museums verändert – mit drei Videoarbeiten.

Was für ein profanes, hässliches Wort aus dem Satzbaukasten der Kunstwelt: Videoarbeit…

Natürlich: Ich seh die Geräte, die das Licht senden und ich meine auch ihr Brummen zu hören, denn sie müssen arbeiten und haben heiss; jedoch vergesse ich sie gleich.

Hinknien, hinsetzen oder hinlegen möchte ich mich.
Wo ist der Liegestuhl, um dieses kleine Wunder zu bestaunen?
Du hast dem Raum die Ecken und Geraden geraubt, was mich wiederum an den schnauzbärtigen Autor vom im Bild liegenden «Zarathustra» erinnert, der in «Jenseits von Gut und Böse» schreibt: «Alles Gerade lügt. Alle Wahrheit ist krumm, die Zeit selbst ist ein Kreis.»

Und so hole ich mir einen Klappstuhl und setz mich hinein in diesen Kreis und lasse mich treiben und habe das Gefühl, Deine Kunst möchte eigentlich auch wegtreiben, weg aus diesem Haus, die Treppe hoch, raus aus diesem Bunker, raus aus der Strassenflucht, dem Himmel zu, von den Winden ins wilde Tal getrieben, dorthin, wo die weissen Wolken ohne Unterlass steigen und vergehen, dorthin, wo das Namenlose haust.

Und ich lass mich mittreiben. Schwebe mit Wolken, die Geisterwesen gebären. Sehe Sonnen, Horizonte, Lichtkaskaden, Schneestürme und Sternschnuppen, quirlige Dämonen und blaue Bergspitzen, Bäume in der Nacht.

In der anderen Ecke, der Du den Neunzigrad-Winkel ebenfalls ausgetrieben hast, schickst Du mich mit den Winden auf eine Insel, wo Regen die Leinwand wäscht, das Meer tost.
Ein blauer Nachmittag an den Gestaden der Seele.
Gefolgt von tiefer Nacht.

In ihr irrt ein Stern, eine sterbende Supernova, durchs All, um dann wieder dem Morgen, dem Tag und dem Wind das Feld zu überlassen.

Weiter weg folge ich Deinen Pinselstrichen und erinnere mich an jene Aufzeichnungen aus dem Teilchenbeschleuniger des CERN, jenem riesigen, unterirdischen Tunnel am Genfersee, wo Forscherinnen den Spuren und Zeichnungen von Kollisionen folgen, Materie-Kollisionen, in Hoffnung darauf wartend, dass der absolute Ursprung, der Anfang von allem sich endlich offenbare.

Du siehst, ich neige bereits dazu, erhabene Worte zu suchen, umschiffe «Gott» jedoch, genauso wie Du das Erhabene umschiffst. Denn das könnte das Ganze hier rasch werden – eine Feier des Erhabenen: Die Wege, die Bachläufe, die Steine, die Fabelwesen, das gedimmte Licht, das Fliessen und Wogen. Ein Tempel für die Natur, die Malerei, die Farben.

Aber mit dem Erhabenen würdest Du einer Erfindung der Männerkunstwelt folgen. Du sagst aber ja in dem schönen Buch, dem Gespräch mit Noemi Smolik, dass es für dich kein eindeutiges Weiblichsein und kein eindeutiges Männlichsein gibt. Auch da setzt du alles in Fluss. Und hier in Chur, der Hauptstadt dieser touristischen Landschaft, lässt Du dem Ballon der Erhabenheit die Luft raus.

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«Das Meer in den Bergen»

Bild: Bündner Kunstmuseum

Er zerplatzt an einem Stachel, der, so erlaub ich mir zu denken, ein Stachel ist, der schmerzt.

Es ist das Kind.
Das Kind, das, wie erwähnt, eine Rakete auf dem Rücken trägt.
Das Kind, das versucht, sich auf ein augenloses Gesicht zu legen, aus dessen linkem Ohr ein Baum wächst.
Das Kind als Himmelskind über dem Maloja-See schwebend.
Das Kind, dessen Antlitz in der Natur zu versinken scheint.
Das Kind in «Bright Yellow».
Das Kind, das sich an eine Mutterfigur schmiegt, eine Mutter, die stumm daliegt wie ein ausgehöhlter Baumstamm.
Das Kind, das engelsgleich über einer schwarzen Welle schwebt, die wiederum an Deine Wege und Bachläufe erinnert.

Und dann ist da jenes Kind, das leblos an den Gestaden des Silser-Sees liegt.
Ist es gestorben?
Oder schläft es bloss und die knackenden Eisschollen künden von einem Frühling, der alles bald weckt?

In seine Nähe hast Du zwei glühende Horizonte unter einem dunklen Himmel gehängt. Sie erinnern mich an den Planeten Solaris, den der polnische Science-Fiktion-Autor Stanislaw Lem erfunden hat. Auf ihm materialisieren sich die Erinnerungen der Besucher und Besucherinnen, was ziemlich grausam sein kann.

Was aber auch ein irgendwie schönes Sinnbild für unser Kunst-Machen ist: Wir materialisieren Erinnerungen oder Träume oder Gedanken. Jene luftigen Gebilde, welche die Winde für immer wegtragen, wenn wir nichts dagegen tun …

Ich danke Dir für all das und schicke Dir herzliche Grüsse

Margarita Balthermia