Volksmusik
Zugluft mit Tomaten
Unser Volksmusik-Experte Köbi Gantenbein über die Suche nach Gewohntem im Fremden und Durchzug im Kopf.
Fläsch, 18.10.2023
Da es sich nicht gehört, den Mehltau an den Tomatenbüschen mit Donner Fungizid aus dem Garten zu jagen, suche ich immer wieder nach neuen Sorten, denen der lästige Blattpilz wenig anhaben kann.
Ein Fund heisst «Etual» und kommt aus Kasachstan, aus seinen Samen wachsen ungewohnt süsse Früchte in blassem Rot, grosse Mocken.
Und so rätselte ich, ob Andrea Kirchhofer, Geige, und Bruno Strüby, Bassklarinette, vom Duo Zugluft auch solche Gartenerfahrung gemacht haben, weil sie ihre neue CD nach der süssen Tomate nennen: «Etual». Wohl schon, denn die Illustration auf dem Cover der CD, gezeichnet von Claudia Deflorin, ist ein heiter fantasievoller Tomatengarten, dessen Stauden weiter in den Himmel wachsen als meine und dessen Früchte in Rosa, Violett und Grün in die Welt strahlen, wie meine Tomaten es nie vermögen.
Cover des neuen Albums «Etual», gezeichnet von Claudia Deflorin.
Beim Zuhören der Musik habe ich die Spurensuche nach kasachischen Tomaten bald verloren; Nachdenken über das Was und das Wieso spielt keine Rolle, denn vom ersten Stück fordern ungewohnte Töne und Klänge meine Ohren heraus. Gespannt höre ich zu, was die Violinistin und der Bassklarinettist alles anstellen mit zwei Instrumenten.
Freilich sind sie virtuos in der Etüde eines jeden Duos: Der eine beginnt mit dem Rhythmus, die andere legt die Melodie darüber, sie wechseln die Aufgaben ab, dann legen sie sie zusammen, werden eine stampfende Taktmaschine, lösen sich und tirilieren und brummen, zwitschern und krächzen durcheinander.
Die Musik der zwei stellt hohen Anspruch an meine Hörgewohnheit und wie immer in solchem Fall bemühe ich mein Ohrengedächtnis und meine musikalische Bildung nach Referenzen – mir kommen die Fantasien von Eric Dolphy in den Sinn, einem der Wenigen, der die Bassklarinette im Jazz gespielt hat – statt mit einer Geigerin hat er furiose Duos mit Charles Mingus am Kontrabass gebrettert.
Die zwei haben vor sechzig Jahren getan, was Bruno Strüby und Andrea Kirchhofer heute probieren, ein eher ungewöhnliches Instrument mit einem gewohnten verbinden und so zu ungewohnten Klangreisen aufbrechen. Und so lasse ich mich gehen durch die zwölf Stückli «Zugluft». Lasse mich zur Musik der schon lange vernichteten jüdischen Kultur in Rumänien, Weissrussland und der Ukraine tragen – Klezmermusik heisst sie heute.
Eine Reise durch Erinnerungen
Dann kehre ich zurück zum Galopp und der Mazurka, wie sie die Appenzeller Musikantinnen so schön können und erinnere mich an «La Resgia veglia», die «alte Sägerei», einen Schottisch, gespielt von den Fränzlis da Tschlin aus dem Unterengadin, als ich hörte, wie die Bassklarinette die Violine ins «Alte Sägewerk» mitnimmt. Aber ihr «altes Sägewerk» hüpft nicht über die Töne, hier ächzt, brummt und quietscht es – musique parlante.
Und mein Herumsuchen, verführt von den Titeln der Stücke, erschöpft sich.
Ich habe die CD von Zugluft gerne gehört – es ist ausgesprochene Zuhörmusik aus dem Kreis der neuen Volksmusik, tanzen kann man schwer dazu und Zeitung lesen nicht – gut zuhören aber und sich freuen, wie Zugluft Durchzug macht im Kopf, mit all seinen abgelagerten Klängen. Und noch besser: Zugluft live hören, zum Beispiel am 17. November im «Galotti» in Zürich.
Zur Website und und zum Shop von Zugluft geht es hier.