Ester Vonplon eröffnet mit ihren Arbeiten neuartige Einblicke in die Natur. Ihre Motive findet sie auf ausgedehnten Spaziergängen, wie hier in der Rheinschlucht in Graubünden.

Ester Vonplon eröffnet mit ihren Arbeiten neuartige Einblicke in die Natur. Ihre Motive findet sie auf ausgedehnten Spaziergängen, wie hier in der Rheinschlucht in Graubünden.

Bild: Mathias Balzer

Kunst und Natur

Zu Besuch bei Ester Vonplon

Die Bündner Künstlerin hat sich mit ihren Fotoarbeiten international einen Namen gemacht. Wir haben sie an ihrem Wohn- und Arbeitsort Castrisch besucht – und sind mit ihr auf Naturerkundung gegangen.

Von Mathias Balzer

Chur, 27.02.2024

15 min

«Jede Kunst beginnt mit dem Wunsch, einen Augenblick festzuhalten.» Boris Groys

 

Jede Reportage auch.

Der Mond steht hoch am blauen Himmel. Er tut so, als sei er eine kreisrunde, weisse Wolke. Ihm gegenüber scheint die Sonne auf Castrisch, das letzte Dorf vor der Ruinaulta, der Rheinschlucht, kurz nach Ilanz. Wir spazieren aus dem Dorf hinaus, talwärts, an zwei Bauernhöfen vorbei, entlang nasser, grüner Felder. Die Schneedecke hat sich vor der Februarwärme auf die Bergspitzen zurückgezogen.

«Hier hat der Bauer früher bei der Aussaat tote Krähen aufgehängt, in der Meinung, das sei das beste Mittel, um die lebenden Artgenossen fernzuhalten. Aber er hat sich getäuscht», erzählt Ester Vonplon. Sie geht diesen Weg beinah jeden Tag mit ihrem Hund, auch wenn es manchmal nur ihm gefalle.

Ester Vonplon ist eine Naturgängerin, eine Waldläuferin, eine Gletscherbesteigerin. Oft wandert die Künstlerin lange, bis sie ihre Motive entdeckt, bepackt mit ihrer Grossbildkamera. Und vielleicht ist dies das Eigentliche, Wesentliche ihrer Kunst: in die Natur zu gehen. Sie immer wieder neu zu sehen. Sich in ihr zu verlieren, um sich neu zu finden.

Mit Künstler:innen über das innerste Wesen ihrer Kunst zu sprechen, scheitert oft – oder ist zumindest schwierig. Ich versuche es trotzdem und lese Ester Vonplon einen Text vor. Es ist der Titel ihrer Ausstellung bei Manuel Solca in Chur. Ich habe den Zettel an der Galerietüre tags zuvor fotografiert. Darauf steht:

«Ich setze mich hin. Und Nichts. Für eine Stunde, Nichts.»

Ist es dieses Nichts, das sie immer wieder aufsucht? Das in ihren Bildern aufscheint wie ein flüchtiges Rätsel? Liegt hier der Schlüssel?

«Ach nein», sagt sie. «Wir haben im letzten Moment einen Titel für die Ausstellung gesucht. Ich zeige dort auch die Serie ‹Wie viel Zeit bleibt der Endlichkeit›.»

 

«Wie viel Zeit bleib der Endlichkeit» von Ester Vonplon by FRIDA Magazin

«Wie viel Zeit bleib der Endlichkeit» von Ester Vonplon

Die Serie versammelt bearbeitete Polaroid-Negative, die Vonplon während einer Reise auf einem Forschungsschiff in der Arktis gemacht hat. «In den dreieinhalb Wochen, in denen wir völlig offline waren, schrieb ich für meine zu Hause gebliebene Tochter Otavia ein Tagebuch. Der Titel der Ausstellung ist der letzte Satz dieses Textes.»

«Aber beschreibt er nicht doch die Suche, zumindest die Sehnsucht, nach Innehalten, Ruhe, Stille?»

«In der Arktis ging ich einmal vom Meer weg, bis dessen Rauschen nicht mehr da war. Dann habe ich die absolute Stille gehört. Es war ohrenbetäubend, es war erschreckend», erzählt die Künstlerin. «Aber etwas Leere oder Ruhe wäre manchmal schon gut. Wenigstens für eine halbe Stunde!»

Von Berlin aufs Dorf

Vor unserem Spaziergang haben wir in der Küche ihres Hauses in Castrisch Tee getrunken. Ester Vonplon lebt hier mit ihrer dreizehnjährigen Tochter, einem Hund und einer Katze.

Der schlichte, schöne Strickbau eines Schülers von Architekt Gion A. Caminada steht neben dem Haus von Esters Mutter. Im Strickbau lehnen an jeder Ecke Bilder an den Wänden.

Es stehen zwei Ausstellungen an: die bei der Galerie Solca in Chur und eine in der Galerie von Stephan Witschi in Zürich. Es steht auch Besuch an aus dem Fotomuseum Winterthur, wo Vonplon 2026 eine grosse Ausstellung mit Publikation ausrichten darf. Ein Stipendiat der Balser Christoph Merian Stiftung. Und dann waren da grad noch die Bündner Langlaufmeisterschaften, in deren OK Vonplon mitarbeitet.

Das Leben auf dem Dorf hat sie vor etwa sieben Jahren gegen jenes in Berlin getauscht. Das Dorf Castrisch war in ihrer Kindheit ihr Ferienort, Dorf der Grosseltern, der Ort, wo sie den Schnee lieben gelernt habe. Eine Liebe, die sich Jahrzehnte später in ihrer Kunst wieder zeigt.

«I see darkness» von Ester Vonplon. Porträt von Mathias Balzer im Safiental.

«I see darkness» von Ester Vonplon. (Aufgenommen im stillgelegten Strassentunnel im Safiental.)

«Entortung» scheint mir ein guter Begriff, um das bisherige Werk der 43-jährigen Künstlerin zu umschreiben. Während herkömmliche Fotografie gerade davon lebt, einen bestimmten, wiedererkennbaren Ort und Moment zu zeigen, lösen sich in den Fotografien Vonplons diese Kriterien auf.

Ihre zum Teil monumentalen Bilder aus der Arktis oder von einem Salzsee in Utah, der Zyklus «Gletscherfahrt» – ein Requiem auf schmelzende Gletscher –, ihre Fotogramme von Blumen, Gräsern, Molchen oder Vögeln aus der Val Curciusa und der Val Frisal, ihre Langzeitbelichtungen aus einem stillgelegten Strassentunnel im Safiental: In all diesen Arbeiten verwandelt die Künstlerin Natur in abstrakte Formen – und trotzdem bleiben sie der realen Natur sehr nahe. Die Kunsthistorikerin Tanja Warring beschreibt diesen Vorgang in einem Text zur aktuellen Ausstellung bei Stephan Witschi in Zürich so:

«In Vonplons Fotografien erscheint die Natur wie durch einen Filter betrachtet, als stamme das Bild aus einer anderen Zeit oder aus einem Traum. Sind sie tatsächlich ein Abdruck der Wirklichkeit? Oder vielmehr nur ein Nachhall, ein Echo? Ein Gefühl einer Zwischenwelt entsteht, in der die Landschaft ihre greifbare Substanz zu verlieren scheint, vor unseren Augen verschwindet und sich auflöst wie der zarte Schnee in unserer Hand. Die Bilder sprechen von Verlust und zeigen uns das, was wir zu verlieren drohen.»

 

«Gletscherfahrt» Video von Ester Vonplon, Musik: Stephan Eicher

«Entortung», das war nicht immer Vonplons Thema. Während ihrer Studienjahre in Berlin bereiste sie mit der Kamera Russland, die Ukraine, Rumänien oder den Kosovo und brachte klassische, meist monochrome Bildreportagen von Dörfern, Landschaften und ihren Menschen zurück.

Beim Tee am Küchentisch erzählt die Fotografin, wie sie derzeit ihr Archiv aus diesen Jahren neu sichtet. «Da staune ich oft. Etwa über meine Serien aus Kneipen in Neuköln.»

Wieso sind denn die Menschen plötzlich aus ihren Bildern verschwunden?

«Ich hab mich intensiv damit auseinandergesetzt, was das ist: ein Porträt eines Menschen machen. Denn es ist im Grunde ein eigenartiger Vorgang. Auch als Fotografin zeigt man ja nicht den Menschen, wie er ist, sondern ich zeige meine Sicht auf ihn. Irgendwann begann ich das seltsam zu finden – und hab damit aufgehört.»

Das «Kunst-Ding»

Wir reden nicht nur über Kunst, sondern auch darüber, wie es sich als Künstlerin lebt. Über Angst und Zweifel, das schreckliche Gefühl, nie mehr eine Idee zu haben – und doch weiterzumachen.

Beispielsweise mit ganz neuen Bildserien aus einem Urwald bei Brigels. Vonplon hat diese Arbeiten 2023 im KKL in Luzern und an der Jahresausstellung im Bündner Kunstmuseum gezeigt. Aufgenommen hat sie den Wald mit einer analogen 8×10-Inch-Grossbildkamera und die Bilder nicht wie bis anhin bis zur Abstraktion verfremdet. Wegen der hohen Qualität des Negativs sind es hyperreale Ansichten einer Wildnis, extrem Reich an Details, die unser Auge in dieser Fülle normalerweise gar nicht wahrnehmen kann.

ester-vonplon-ohne-titel-2024

© Ester Vonplon, ohne Titel, 2024, Polaroid Vergrösserung, 65 x 64 cm

Für Ester Vonplon hat sich das Durchhalten bis hierhin gelohnt. Nach sieben Jahren als Dozentin für Kunst an der ETH konnte sie den Job aufgeben. Nicht, weil sie ihn nicht gern gemacht habe; aber er habe viel Zeit gefressen. Und Zeit ist für eine Künstlerin und alleinerziehende Mutter ein kostbares Gut.

Der schönste und liebste Teil ihrer Arbeit seien die Wanderungen und die langen Aufenthalte in der Natur. Nach dem Wesentlichen komme dann die Arbeit, das Entwickeln, Bearbeiten, Vergrössern – und «dann kommt da noch dieses Kunst-Ding», sagt die Künstlerin.

Das «Kunst-Ding» ist das Ausstellen, das Sich-Vermarkten, die Pflege der Galerien, der Käufer:innen und Sammler:innen, das Netzwerken und Instagrammen.

Beim Reden darüber schüttelt sie mehrmals den Kopf, als ob sie in eine Zitrone beisse. Und doch: der Schweizer Fotopreis, der Manor-Preis, Ausstellungen im In- und Ausland. Was hat denn ihre Karriere beflügelt?

Vonplon sagt, sie habe Glück gehabt. Das Glück, dass der Verleger und Galerist Walter Keller bereits früh eine Art Mentor wurde und ihre Arbeiten bereits 2009 in Zürich ausstellte.

Am Rhein

Unser Spaziergang über die Ebene bei Castrisch führt uns durch ein Wäldchen an den Rhein. Hier findet ein kleines Massaker an den Bäumen statt; eine ganze Fläche liegt gerodet da. «Die sind anscheinend krank und fallen einfach von selbst um. Deshalb werden sie nun gefällt.»

Wir kommen ohne Zwischenfälle ans Rheinufer, wo wir darüber reden, dass gegenüber dieser Landschaft hier viel Missverständnisse bestehen. Denn das hier ist nicht Wildnis, sondern seit Jahrtausenden bewirtschaftete Natur. «Der Pegel des Rheins steigt und fällt durch die Stromproduktion so stark, dass es hier kaum mehr Fische gibt», sagt Ester Vonplon.

Ich versuche es nochmals mit den Inhalten und spreche die politische Dimension einer Arbeit wie «Gletscherfahrt» an, eine Arbeit, die mittlerweile weit gereist ist, mit Preisen bedacht wurde und immer noch gezeigt wird.

«Manchmal regt sie mich auch auf.»

«Etwa, weil die Arbeit sich gut eignet, ihr ein Etikett umzuhängen? Dasjenige der politisch aktiven, engagierten Künstlerin, die dem Publikum die Verheerungen des Klimawandels vor Augen führt?»

«Ja, genau», antwortet sie. «Natürlich sind wir alle politische Menschen.

Aber um politisch Wirkung zu erzielen, müsste ich etwas anderes machen als Kunst.

Zu meinen, solche Gletscherbilder können etwas bewirken, ist absurd», sagt die Künstlerin. «Zu meinen, jemand höre auf zu fliegen oder verkaufe sein Auto deswegen, ist doch naiv. Aber klar: Der Plan, Gletscher mit riesigen Tüchern zu schützen, ist natürlich ein absurdes und hilfloses Unterfangen. Ich war aber vielmehr an diesen unglaublichen Formen und Schattierungen interessiert, die ich vorfand. Weniger an der vordergründigen klimapolitischen Dimension.»

Sie, die kein Auto besitzt und die Herausforderung, einen kleinen Fussabdruck zu haben, ernst nimmt, staunt darüber, wie gerade Menschen aus dem Kulturbetrieb, die so gern den politischen Aspekt ihrer Arbeit und überhaupt die aktuellen politischen Diskurse betonen, dann schnell für eine Ausstellungseröffnung nach New York fliegen.

«Val Curciusa» von Ester Vonplon. Porträt von Mathias Balzer im FRIDA Magazin.

«Val Curciusa» von Ester Vonplon

Ich hake nach: «Die Blümlein, die Molche und Pilzchen aus der Val Curciusa sind doch auch ein politisches Signal. Sie wachsen dort ja nur, weil in den Achtzigern der Staudamm verhindert wurde.»

«Es ist einfach ein sehr schönes Tal. Mein Herbarium von dort zeigt ja nicht speziell geschützte oder gefährdete Pflanzen. Bei mir erscheinen auch einfache Gräser oder kleine Pilze.»

«Ist das der Blick auf das Unscheinbare? Ein Hinweis darauf, die Natur aufmerksam zu betrachten?»

«Vielleicht. Ja. Es ist ja schon so: Wenn der Grashalm plötzlich zwei Meter gross ist, sieht man ihn anders. Und schlussendlich sind wir ja alle auch nicht mehr als dieser Grashalm.»

Aus der Serie «Val Frisal» von Ester Vonplon. Porträt von Mathias Balzer im Frida Magazin

Aus der Serie «Val Frisal» von Ester Vonplon

Die Künstlerin zeigt mir noch den stattlichen Familienacker und -garten, den sie mit ihrer Mutter und deren Bruder bewirtschaftet. Ein kleines Idyll. «Macht aber viel Arbeit.»

Ester Vonplon gibt mir beim Abschied noch Bücher mit, unter anderem eines mit dem bereits genannten Tagebuch der Polarreise. Beim Lesen im Zug wird mir klar: Vielleicht ist dieses Arbeiten in und mit der Natur nicht so eindeutig und einfach lesbar. Es geht nicht um Politik, Naturschutz, das verlorene Paradies. Vielleicht geht es vielmehr um Widersprüche, die wir aushalten müssen.

Ester Vonplon schrieb am 18. Juni 2017 in ihr Arktis-Tagebuch: «Viele Steine. Zweifelnd über meine Arbeit. (…) Erste Erwartungen, die sich nicht erfüllen. Lache über meine eigene Naivität, gedacht zu haben, irgendetwas über diesen Ort zu wissen. Unbeholfene Versuche, doch noch etwas zu finden in der Steinwüste. Den Druck verspürend, arbeiten zu müssen. Dann beruhige ich mich. Wo nichts ist, muss nicht zwangsläufig etwas entstehen. Steine in der Arktis zu betrachten, wo ich täglich am Rhein die schönsten Exemplare vor der Türe habe, erscheint mir lächerlich. Ich ertappe mich dabei, wie ich in die Falle gehe. Sobald ich den Zwang und die Erwartung abgestreift habe, läuft es wieder. Betrachte die kleinen Rinnsale, die sich den Weg durch den alten Schnee bahnen.

Dieser weite Weg, um das zu sehen, was im eigenen Garten beiläufig ist? Wie zeitgemäss ich doch bin.

Wir reisen ans Ende der Welt, um das zu betrachten, wofür wir in unserer eigenen Welt keine Zeit haben.»

Oder anders gesagt: Weit und aufwendig reisen, um einen Augenblick zu erleben. Und zu versuchen, ihn festzuhalten. Im Falle von Ester Vonplon wird er dann manchmal zur Kunst, zum Bild. Auf dass die Betrachter:innen sich mindestens einen Augenblick Zeit nehmen.

 



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Aktuelle Ausstellungen von Ester Vonplon

«Ich setzte mich hin. Und Nichts. Für eine Stunde, Nichts»
2. März bis 20. April 2024. Vernissage 1. März, 18–20 Uhr
Galerie Manuel Solca, Chur.

«eco»
Vernissage: Donnerstag, 7. März 2024, 18 Ur.
Bis 12. April 2024
Galerie Stephan Witschi, Zürich

Ester Vonplon

Aufgewachsen in Rudolfstetten, ab 1996 in Flims, Ruschein und Chur. Nach einer KV-Lehre Ausbildung zur Video-Operatorin. 2004–2008 Studium an der Fotoschule am Schiffbauerdamm, Berlin. Bekanntschaft mit dem Verleger Walter Keller, der ihre Fotografien 2009 in seiner Galerie ausstellt. 2011–2013 Master of Fine Arts an der Zürcher Hochschule der Künste. 2014 Einzelausstellungen in der Pariser Galerie VU, in der Stadtgalerie Chur und im Museum zu Allerheiligen Schaffhausen. Zusammenarbeit mit der Galerie Solca in Chur und dem Züricher Galeristen Stephan Witschi; Projekte mit dem Fotografen Roger Eberhard, dem Musiker Stephan Eicher und dem Lyriker Jürg Halter. 2017 Auszeichnung mit dem Manor-Kunstpreis Chur. 2021 Einzelausstellung im Musée des Beaux-Arts, Le Locle. Bis 2023 Dozentin für Kunst und Architektur an der ETH Zürich, lebt und arbeitet in Castrisch GR. (Quelle: SIKART Lexikon)