Zeitmanagem

Die Hektik im Alltag führt häufig zu Stress und Frustration.

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Gesellschaft

Wir teilen bereits Velos und Autos – geht das auch mit Zeit und Geld?

Geschäftigkeit wurde zu einem Statussymbol. Wir sind, was wir tun – und je mehr wir tun, desto besser. Dabei ist es dringend nötig über die Ressource Zeit zu reden und sie anders zu verteilen. Die Schweizer Community Ting versucht das. Sie teilt Geld und ermöglicht so das Aushandeln der eigenen Zeit.

Von Tamara Funck

Basel, 06.07.2023

8 min

Es ist anfangs Juli. Der Sommer ist da. Viele Leute fahren in die Ferien und erholen sich von den Anstrengungen des Alltags. Sie entfliehen kurzzeitig dem getakteten Tagesablauf, als ob ausserhalb der Alltagsroutine die Uhr anders ticken würde.

Auch meine Reisetaschen sind gepackt. «Noch einmal schlafen», sage ich zu meinem fünfjährigen Sohn, der voller Vorfreude ist und noch nicht versteht, wann morgen ist. Was Zukunft, Zeit und Ferien sind, weiss er auch nicht. Nur «ich habe keine Zeit», das kennt er natürlich.

Als Kinder schwimmen wir Menschen in der Zeit wie in einem Meer. Zeit scheint unendlich. Je älter wir werden, desto mehr gleicht unsere Zeit abgetrennten Schwimmbahnen, in denen Bewegungsrichtung und Distanz vorgegeben sind. Irgendwann erleben wir unsere Zeit als Badewanne, in die wir nur knapp hineinpassen.

Mehr Zeit macht nicht unbedingt glücklicher

Die Zeitknappheit, die viele Menschen empfinden, kann immensen Stress verursachen. Wir leben in einer Kultur getrieben von Produktivität. Geschäftigkeit ist bezeichnend für den Wert eines Individuums. Neben den To Dos am Arbeitsplatz und den Aufgaben daheim – besonders wenn man sich zusätzlich um andere Menschen kümmert – bleibt nur wenig Zeit, über die man wirklich frei verfügen kann.

Eine Studie der kalifornischen Professorin Cassie Holmes, bekannt für ihr Buch «Happier Hour», zeigt, dass die allgemeine Zufriedenheit eines Menschen korreliert mit den zur freien Verfügung stehenden Stunden am Tag. Wer «zu wenig» oder «zu viel» Zeit hat, ist laut Holmes weniger glücklich.

Die Zufriedenheit nehme ab, wenn jemand weniger als ungefähr zwei Stunden pro Tag zur freien Verfügung hat. Dann sei man zeitarm und fühle sich, als hätte man nie genug Zeit, um alles zu tun, was man machen muss und machen möchte. Gleichzeitig nehme die Zufriedenheit ab, wenn jemand mehr als fünf Stunden pro Tag zur freien Verfügung hat. Dann fehle es an einem Gefühl von Produktivität und Lebensbestimmung.

In den USA klagt fast die Hälfte der Bevölkerung über zu wenig Zeit, in der Schweiz dürfte es ähnlich sein. Das von Holmes beschriebene Phänomen der Zeitarmut ist auf der ganzen Welt zu beobachten. Dabei macht mehr Zeit nicht unbedingt glücklicher, sondern der richtige Umgang mit Zeit, die Qualität der Zeit und die Intention dahinter.

Cassie Mogilner Holmes ist Professorin für Marketing und Verhaltensentscheidungen an der UCLA Anderson School of Management und Autorin von Happier Hour.

Cassie Mogilner Holmes ist Professorin für Marketing und Verhaltensentscheidungen an der UCLA Anderson School of Management und Autorin von Happier Hour.

Foto: Diana Henderson

Eine Community teilt Geld und schafft Zeit

Ondine Riesen, die mit ihrer Familie in Biel wohnt und gerade in die letzte Arbeitswoche vor ihren Ferien startete, beschäftigt sich beruflich mit Zeit und Möglichkeiten: «Ich kenne das Gefühl immer hinterherzurennen, zu spät sein und viel zu tun zu haben in knapper Zeit.» Während der Pandemie gründete sie zusammen mit anderen «Ting», eine Community, die verspricht Zeit zu schaffen.

Ting ist eine solidarische Schweizer Community, welche Spielräume für Veränderungen schafft. Alle Mitglieder zahlen monatlich auf ein Gemeinschaftskonto ein. So wird ein gemeinsames Vermögen aufgebaut, welches allen Mitgliedern transparent und in Form eines zeitlich begrenzten Einkommens zur Verfügung steht.

«Wir helfen Menschen sich weiterzuentwickeln und gestalten ein Zukunftsmodel», erklärt Ondine Riesen. Community-Geld bekommen die Ting-Mitglieder, die mit ihrem Vorhaben drei Kriterien erfüllen: Das Vorhaben soll intrinsisch motiviert sein, sich positiv auf die Biographie auswirken und einen Mehrwert für die Gesellschaft enthalten.

Ting ermöglicht somit eine Atempause, eine Neuorientierung, einen Prozess des Hinterfragens und gibt Mut für Veränderungen. Als finanzielles Polster in einer Zeit des persönlichen Wandels ist Ting eine nachhaltige Investition und ein Anschub für das Aushandeln der eigenen Zeit. Plus führt Ting zu einer Umverteilung von Ressourcen, wenn auch in kleinem Rahmen.

 

Ondine Riesen, betriebliche Mentorin und Co-Founderin von Ting.

Wie funktioniert Ting?

Ein mögliches Szenario: Tina, 35 Jahre, möchte die Pädagogische Hochschule besuchen, um Lehrerin zu werden. Doch mit der Zeit und dem Geld will es nicht klappen. Entweder ihr bleibt während der Ausbildung keine Zeit für ihre zwei Kinder, oder sie reduziert ihren jetzigen Job und es wird finanziell knapp.

Als Mitglied der Ting-Community und wenn ihr Vorhaben angenommen wird, bekommt Tina während sechs Monaten maximal 2’500 Franken pro Monat. Das Geld reicht nicht zum Leben und ihre Ausbildung dauert länger als sechs Monate, jedoch gibt ihr das Community-Geld genug finanzielle Sicherheit, um den Schritt zu wagen und in ihre Zukunft zu investieren.

Als Mitglied der Ting-Community zahlt Tina monatlich 150 Franken in den Community-Topf. Ein Geldbezug wäre theoretisch all sieben Jahre möglich, wenn alle Kriterien erfüllt sind.

Andere Mitglieder der Community zahlen ausschliesslich Beiträge ein, ohne selbst ein konkretes Projekt realisieren zu wollen.

Ebenso wichtig, wie das Geld als ökonomische Entlastung, ist der Zugang zur Schwarmintelligenz der Community. Skills und Wissen werden in Foren und Workshops geteilt, um einander im Beruf und Leben zu helfen.

 


Ondine Riesen, betriebliche Mentorin und Co-Founderin von Ting.

Foto: Juri Seger

Eine Zeitkultur der Ungerechtigkeit

Im deutschsprachigen Raum leistet die deutsche Journalistin und Autorin Teresa Bücker mit ihrem Buch «Alle_Zeit. Eine Frage der Macht und Freiheit» einen wichtigen Beitrag zur Diskussion um Zeit. Sie schreibt: «Der gegenwärtige Umgang mit Zeit strukturiert unser Leben, ohne zu berücksichtigen, ob diese Vorgaben auf alle passen. Sie tun es nicht: Sie führen zu Ungleichheiten, erhalten und verstärken sie».

Menschen können unterschiedlich frei über Zeit verfügen. In einer Gesellschaft, in der Zeit als ökonomisches Gut verstanden wird, werden die Bedürfnisse vieler verdrängt. «Eine solche Zeitkultur bleibt eindimensional, sie kann oft sogar unglücklich oder auch krank machen», schreibt Bücker weiter. Sie fordert, dass wir als Gesellschaft Zeit nicht nur Geld gleichsetzen, sondern die Ressource als Indikator der Macht verstehen.

Es ist ein Privileg, sich Gedanken über den eigenen Umgang mit Zeit zu machen. Nicht jeder sozioökonomischer Status erlaubt es, eine Auszeit zu nehmen und frei über die eigene Zeit zu verfügen. Nicht allen ist diese Freiheit gegönnt. Und im grossen Ganzen führt diese ungerechte Verteilung von Zeit zu einem demokratischen Problem. Es gebe Gruppen, die sich politisch nicht einbringen können, so Bücker. Etwa Menschen, die Schicht arbeiten. Oder Eltern oder pflegende Angehörige, die Erwerbs- und Fürsorgearbeit kombinieren. Auch sie haben kaum die Möglichkeit, sich abends einzubringen oder einen Nachmittag freizumachen. Die Sichtweise dieser Menschen fehle im öffentlichen Diskurs, betont Bücker.

Eine schnelle Lösung gibt es nicht. Wir Menschen haben die 24 Stunden pro Tag, um zu tun und lassen, was wir müssen und wollen. Stunden und Tage kumulieren sich zu Jahren und Dekaden, und schlussendlich zu unserem gesamten Leben. Daran lässt sich nicht rütteln – und doch könnte es ganz anders sein.

Teresa Bückers Vorschlag: Wir arbeiten weniger, haben aber Genug Geld und ausreichend Zeit, uns für Mitmenschen zu engagieren und eigenen Interessen nachzugehen. Denn zu wenig Zeit zu haben, ist kein individuelles Problem, es ist gesellschaftlich erzeugt – und braucht gesellschaftliche Lösungen.


 

Buchtipps für die Ferien

 

  • Cassie Holmes: «Happier Hour – How to Beat Distraction, Expand Your Time, and Focus on What Matters Most», Gallery Books, 2022.
  • Teresa Bücker: «Alle_Zeit. Eine Frage von Macht und Freiheit. Wie eine radikal neue, sozial gerechtere Zeitkultur aussehen kann», Ullstein Buchverlage, 2022.
  • Rüdiger Safranski: «Zeit. Was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen»