
Wolfgang Laib beim Aufbau seiner Installation «Crossing The River» im Bündner Kunstmuseum in Chur.
Bild: Avi Sliman
Reportage
«Ich gebe den Glauben an die Kunst nicht auf»
Wolfgang Laib belegt ein ganzes Stockwerk im Neubau des Bündner Kunstmuseums mit Tausenden Reishaufen. Wir haben den deutschen Künstler beim Aufbau der Installation getroffen. Eine Begegnung mit einem Mann, der trotz aller Widerstände und Katastrophen sein ganzes Leben der spirituellen Kraft der Kunst widmet.
Chur, 16.03.2022
Eine Handvoll Reis zu einem Kegel aufschütten, mit der Hand den Abstand zum nächsten bemessen, wieder einen Kegel aufschütten. Korn um Korn, Haufen um Haufen, Reihe um Reihe, von Wand zu Wand. Am Ende werden es rund 20’000 kleine Reisberge sein, welche die 756 Quadratmeter im zweiten Untergeschoss des Bündner Kunstmuseums bedecken. Was Wolfgang Laib und seine Helfer:innen hier tun, ist ebenso simpel in seiner Form, wie grandios in seiner Wirkung. Ein Hauch Unendlichkeit durchweht den Raum – und der erdige Duft von Reis. Und mitten drin dieser zierliche Mann im orangefarbenen Hemd, ohne Schuhe an den Füssen wie alle, die den Raum betreten. Wolfgang Laib, rasierter Kopf, dunkle Nickelbrille, scheuer Blick, ist ein einnehmend freundlicher Mensch, der sich bei der Begrüssung nach asiatischer Art leicht verneigt.
Der Künstler erlaubt uns einen Einblick in die Entstehung seiner Installation «Crossing The River», die er auf Einladung des Kurators Damian Jurt eigens für das Bündner Kunstmuseum entwickelt. Was allerdings bereits eine unscharfe Formulierung ist, die der Sache nicht gerecht wird. Denn Wolfgang Laib bespielt bereits seit vierzig Jahren Kunsträume mit Reishaufen, weltweit. Oder mit Bienenwachs und Milchsteinen. Oder mit seinen betörend flüchtigen Teppichen aus Blütenstaub, vom Künstler jeden Frühling gesammelt, seit vierzig Jahren, auf den Feldern rund um seinen deutschen Wohnort Biberach, nördlich des Bodensees.

Im Bündner Kunstmuseum hilft ein Team beim Aufschütten der rund 20'000 Reishaufen der Installation «Crossing The River».
Bild: Avi Sliman
So repetitiv die Verwendung der Materialien, so reduziert ist auch Laibs Formensprache seit Jahrzehnten: Quadrate, Pyramiden, Kegel, Berge, Treppen, Boote. Da bieten sich Minimal Art oder Arte Povera als stilistische Verortung an. Aber auch hier scheitert, wer Eindeutigkeit sucht. Die Überväter der Abstraktion, Malewitsch, Mondrian oder Brancusi, mögen hier ebenso Pate stehen. Laibs organische Substanzen sperren sich aber gegen eine rein formale Lesart. Vielmehr scheint es sich hier um eine radikale Verschränkung von Leben und Werk zu handeln. Eine Vita lang dieselben Werke aus denselben Materialien zu produzieren: Dazu braucht es schon einiges an Durchhaltewillen.
«Ich bin doch kein Fashion-Designer»
Laibs Werk erscheint als eine Art Langzeit-Performance, die sich dem Innovationsdruck des Kunstmarkts entzieht. Trotzdem ist Laib international erfolgreich und kann sich vor Anfragen kaum retten. Seine Ausstellungsliste, abrufbar bei seiner Stammgalerie, der renommierten Sperrone Westwater in New York, ist 24 Seiten lang. Ihn würden gewisse Mechanismen des Kunstmarkts stören, sagt Laib, während wir uns am Rande seiner Haufen für Haufen wachsenden Installation an den Boden setzen. «Dauernd wird gefragt: Hast Du eine neue Arbeit? Dabei wäre dieses Neue ja nach fünf Jahren bereits wieder alt und aus der Mode. Ich bin doch kein Fashion-Designer! Und ich bin auch nicht daran interessiert, Bilder in eine Hotel-Lobby zu hängen.»
Vielleicht liegt der Ursprung von Laibs Radikalität und Widerstandskraft aber auch gar nicht in der Kunstwelt, sondern ist in seiner Herkunft begründet. Seine Mutter und sein Vater, ein Arzt, pflegten Kontakt mit Malern und Architekten. Das spartanische Glashaus, das sie sich mitten in der Natur nahe dem Wohnhaus in Biberach errichten liessen, stiess bei der Landbevölkerung in den Fünfzigerjahren wohl eher auf Argwohn. Und dass der Doktor, nach ausgedehnten Familienreisen in die Türkei, den Iran, nach Mesopotamien, sämtliche Möbel aus seinem Wohnhaus entfernte und von da an mit Frau und Sohn auf dem Fussboden sass und ass und schlief, irritierte Nachbarn wahrscheinlich noch mehr. Der Entwurf unkonventioneller Lebenswelten wurde Wolfgang in die Wiege gelegt.
Wie der Vater studierte der Sohn Medizin, als Abschluss verfasste er eine Doktorarbeit über Trinkwasser in Südindien. Noch während des Studiums begann er mit seiner ersten künstlerischen Arbeit, der Bearbeitung eines schwarzen Steins aus der heimatlichen Landschaft. Nachdem er nach sechs Jahren das Medizinstudium abgeschlossen hatte, brachte Wolfgang den fertig bearbeiteten Stein ins Elternhaus – wo dieser heute noch steht – und verkündete seine Entscheidung, nicht Arzt, sondern Künstler zu werden.
Nicht zufällig erinnert die Episode mit dem Stein an Francesco d’Assisi, der am Beginn seines spirituellen Weges seinem Vater die Kleider vor die Füsse legte und die Stadt unbekleidet verliess. Das Wort Spiritualität fällt in den zahlreichen Texten zu Laibs Werk so oft wie das Wort Wiederholung. Und wahrscheinlich darf dieses Begriffspaar auch zusammen gelesen werden. Indische Kultur, der Buddhismus oder die ekstatische Askese des persischen Sufi-Dichters Rumi gehören zum geistigen Inventar dieses Künstlers. Laib selbst bezeichnet sich zwar nicht als Asketen, auch wenn dies andere oft täten. «Bestimmt hat das alles aber ganz viel mit Askese zu tun», sagt er.
Und mit Zeitlosigkeit, könnte man hinzufügen, oder mit der Verortung in globalen, historisch gewachsenen künstlerischen Traditionen, aus deren Warte die Gegenwart als sinnentleerte Geschäftigkeit gelesen werden kann. Laib sagt: «Westliche Kultur dreht sich um Innovation, alle fünf Minuten etwas anderes. Das find ich eine absolute Katastrophe. Ich würde es als Zerstörung meines Werks empfinden, würde ich jede Woche etwas anderes tun. Diese Intensität, Konzentration, Tiefe, Stille, das wäre ja alles gar nicht möglich. All das, was das Werk ausmacht, wäre gar nicht möglich. Heute denselben Milchstein zu machen wie vor vierzig Jahren, das finde ich grossartig! Auch wenn es eine ungeheure Herausforderung ist. Aber dafür ist Kunst ja da …»
Dieser freundliche Mann mit der leisen Stimme ist jedoch keineswegs bloss der mönchisch lebende Einzelgänger auf der schwäbischen Alp. Laib ist Vater einer Tochter, die Ärztin geworden ist. Das zweite Lebenszentrum seiner aus Jersey stammenden Ehefrau und ihm ist Manhattan, ihr drittes ein Atelier in Südindien. Laib ist Kosmopolit und auch im Alter interessiert an Kooperation und Austausch. «Ich liebe es, auf der ganzen Welt mit ganz vielen, möglichst unterschiedlichen Menschen zusammenzuarbeiten. Je extremer die Unterschiede, umso schöner ist es.»
Das Werk dieses weltgewandten Asketen hat durchaus den Anspruch, auf die Gesellschaft einzuwirken. Bereits die ihm zugrunde liegende Haltung, die Suche nach einer Reduktion auf Wesentliches, auf die Schönheit der Welt, kann als politischer Akt gelesen werden – oder auch als pionierhaftes Werk, das die gegenwärtige Diskussion um das Verhältnis von Natur und Kultur im Spiegel der Klimakrise vorwegnimmt.
«Manche werfen mir vor, dass ich naiv sei», sagt Laib. «Man könne doch nicht über die Schönheit von Blütenstaub reden, wenn solche Dinge passieren wie der gerade tobende Krieg in der Ukraine.» Laib ist da jedoch dezidiert anderer Meinung. Kultur und Kunst hätten die Menschheitsgeschichte über viele Jahrhunderte geprägt, erklärt der Künstler und verweist auf das Reliquiar aus dem Churer Domschatz, das er – nach längeren Verhandlungen – vom Churer Bischof erhalten habe.
«Es war nicht einfach mit dem Bischof»
Dass Laib der Anfrage des Bündner Kunstmuseums nachgekommen ist, hat Gründe. Dass hier eine so situative Arbeit entstanden ist, ebenso. «Ich hatte 2017 eine grössere Ausstellung im LAC in Lugano mit neueren und älteren Werken. Wir wollten das nicht wiederholen, sondern hier, in diesen schönen, aber auch sehr grossen Räumen etwas ganz anderes machen.» Für die Entscheidung dazu liess er sich Zeit. «Ich bin ja schon sehr verwöhnt, was Anfragen für Ausstellungen anbelangt, in den schönsten Museen und Galerien der Erde», erklärt er. «Als mich Damian Jurt eingeladen hat, hab ich mir gut überlegt, ob ich in Chur etwas machen will.»
Den Ausschlag habe ein Buch seines Vaters gegeben, in dem er auf ein Foto eines kleinen Kästchens aus dem siebten Jahrhundert gestossen sei. Ein Reliquiar aus der Kathedrale in Chur. «Das Stück hat mich so fasziniert, dass ich mich entschied, die Ausstellung mit diesem Kästchen aus dem Domschatz zu machen. Das war mir sehr wichtig. Es war aber auch nicht einfach mit dem Bischof hier», meint er lächelnd.
Das Reliquiar steht nun auf einem Sockel an der Wand. Am gegenüberliegenden Ende des Raumes steht ein zweiter Sockel mit einem kleinen Haufen aus Haselnuss-Blütenstaub darauf. Ergänzt werden diese Elemente, die das Reisfeld umgeben, durch das titelgebende Gedicht «Crossing The River», in chinesischer Schrift an eine Wand gemalt.
Sind das nun spirituelle Symbole? Oder Energiefelder?
«Sowohl als auch. Es ist ganz vieles. Aber ich möchte das gar nicht so genau festlegen. Je wichtiger Kunst ist, umso unbeschreibbarer ist sie.» Sagt er und liefert doch eine Wegleitung: Das Reliquiar stehe für eine über tausend Jahre währende europäische, spirituelle Tradition, der Blütenstaub für den potenziellen Beginn einer Vegetation, die so gross wie die Schweiz wäre, das Gedicht für die spirituelle Flussquerung hinüber in eine andere Dimension.
«So stelle ich mir Kunst vor», sagt Laib bestimmt. Er lasse sich vom Glauben, dass die Kraft der Kunst die Welt verändere, nicht abbringen. Und auf die Frage, woraus er denn die Energie zu diesem Glauben schöpfe, antwortet er mit einem Lachen und zeigt auf ein Glas mit gelbem Pulver, das er zum Interview mitgebracht hat: «Aus diesem Glas Blütenstaub. Der ist ja kein Bild, das ich gemalt habe. Das ist Energie. Wenn man an dieser teilhat, ist alles möglich.»
«Crossing the River», Wolfgang Laib, bis 31. Juli 2022, Bündner Kunstmuseum.

Wolfgang Laibs Installation «Crossing The River» im Bündner Kunstmuseum.
Bild: zvg