Samuel Herzog verschlägt es auf den Spuren von Osamine ins Avers.

Samuel Herzog verschlägt es auf den Spuren von Osamine ins Avers.

Bild: Samuel Herzog

Unterwegs in Graubünden

Wo ist Steinbock gut?

Im Mai 2022 findet der Journalist Samuel Herzog 16 Postkarten aus dem Jahr 1966, geschrieben von einer Osamine, adressiert an Schaki Bùfftù, wohnhaft in Port-Louis, der Hauptstadt der fiktiven Insel Lemusa. Im Sommer 2022 unternimmt er eine Reihe von Ausflügen in die Gegenden, die auf den Postkarten von Osamine abgebildet sind. Die gesammelten Reiseberichte gibt es jetzt auch als Buch.

Von Samuel Herzog

Zürich, 21.12.2022

9 min

Dort könnte es gewesen sein, auf dem Absatz da vorne, bei dem alten Stall. Ich stehe ein paar Schritte hinter Juf auf einem Feldweg, der dem Ragn da Ferrera, dem Averser Rhein, entlang in Richtung Piotgletscher führt. Leider sind die Angaben von Osamine nicht nur mehr als fünfzig Jahre alt, sondern auch nur sehr allgemein. Sie schreibt lediglich, das «Glashaus mit Beeten auf Stelzen» stehe auf einem «ebenen Stück Boden am Rande des letzten Dorfes». Juf ist das oberste Dorf im Val d’Avers, aber von der bestimmt sehr fragilen Struktur scheint sich nichts bewahrt zu haben.

Auch von dem heissen Sommer, der eben noch das ganze Land schwitzen, schwindeln, stöhnen liess, hat sich hier oben nicht viel erhalten. Zwar sind die Weiden noch grün, rupft das Vieh noch die letzten Halme aus dem Boden, die Abhänge aber sind schon schneebedeckt und das Licht hat bereits jene milchige Qualität, die in mir manchmal die Vorstellung anknipst, die Welt werde von einer einzigen, bereits etwas alterstrüben Neonröhre beleuchtet.

Sogar die Menschen machen sich rar hier im Tal. Der erste Mann, den ich im Dorf antraf, trug einen speckigen Overall und war gerade dabei, ein neues Schleifblatt auf den Gummiteller seiner Bohrmaschine zu montieren. Der einheimische Handwerker entpuppte sich als ein Gast aus Norddeutschland, der selbstverständlich keine Ahnung hatte, ob hier oben je ein grosses Gewächshaus stand. Ich hätte ihn fragen sollen, warum er sich als Tourist mit einer Bohrmaschine abmüht. Aber natürlich kann jeder in seinem Urlaub machen, was er will. Der zweite Herr im Dorf, der seinen sportlichen Körper ein paar imaginären Sonnenstrahlen entgegenstreckte, war dem Dialekt nach aus München und ebenfalls ahnungslos.

Postkarte 09 vom 13. Juni 1966 Frida Magazin by Samuel Herzog

Rückseite der Postkarte, die Osamine aus dem Avers geschrieben hat.

Dann fuhr ein glänzend schwarzer Jeep mit dem schönen Kennzeichen DON-NI in Juf ein und hielt zu meiner Verwunderung neben mir an. Das Fenster schnurrte runter, am Steuer sass ein kräftiger, vielleicht fünfzigjähriger Mann in einer Weste in Tarnfarben. Er wollte wissen, ob ich von hier sei.

Ohne nachzudenken sagte ich «ja», worauf er viel langsamer und in ganz einfachen Sätzen weitersprach. «Dies ist ein sehr schönes Tal, sehr authentisch. Mein Respekt. Ich will Steinbock sehen, schiessen, haha.» Er griff sich vom Beifahrersitz eine Nikon mit gewaltigem Teleobjektiv und hielt mir die Röhre vors Gesicht. «Wo kann ich sehen? Wo ist Steinbock gut? Also, verstehen Sie, von wo kann ich ein geiles Foto machen?»

Ich deutete auf den erstbesten Berg und sagte in dem höchsten Deutsch, das ich hinbekam: «Da oben, aber man muss zu Fuss hinauf und es ist nicht ganz ungefährlich, denn auch der Steinbock ist jetzt geil.» Ich wollte mich schon für den blöden Spruch entschuldigen, doch Donni drückte einfach aufs Gas und gurgelte grusslos davon, etwas zu schnell für so eine kleine Strasse. Man kommt in Juf allerdings auch mit einem Jeep nicht sehr weit. Also musste er bald wenden und zurück über die Dorfstrasse fahren. Als er an mir vorbeibrauste, zeigte er mir durch die Windschutzscheibe hindurch in ganzer Länge seinen Mittelfinger.

Unaufgeklärte Missverständnisse sind immer etwas unschön. Allerdings war ich auch ein bisschen stolz, denn gewöhnlich bin ich nicht sonderlich schlagfertig.

Postkarte 09 vom 13. Juni 1966 Frida Magazin by Samuel Herzog

Vorderseite der Postkarte, die Osamine aus dem Avers geschrieben hat.

Zwei braun gebrannte Mittfünfzigerinnen, die mit dampfenden Kaffeetassen auf dem Balkon eines Chalets standen und rauchten, hatten die Szene beobachtet und fragten mich, als ich sie grüsste, was der Herr denn gesucht habe. «Einen Steinbock», sagte ich wahrheitsgemäss, worauf sich die zwei so bedeutungsvoll ansahen, dass ich lachen musste.

Auch die Raucherinnen wussten nichts von einem Gewächshaus. Aber sie konnten mir etwas mehr über das Skigebiet erzählen, das man in den Sechzigerjahren im Avers bauen wollte. Ich hatte mich bereits im Dorfladen von Cresta, dem grössten Ort im Tal, nach dem Projekt erkundigt und bei der Kasse von einem älteren Herrn eine erste Beschreibung bekommen. Die zwei Raucherinnen aber hatten im Sommer eine Ausstellung «bim nüwa Hus», dem Haus des lokalen Kulturvereins gesehen, die eine ganze Reihe von Dokumenten zu bestaunen gab und die Geschichte in allen Details rekonstruierte.

Das ganze Tal eine Wüste aus Beton und Stahl

Das Genfer Unternehmen Société Générale pour l’Industrie (SGI) kam in den Sechzigerjahren auf die Idee, im Avers das Wintersportzentrum Cresta-Juf zu realisieren. In den französischen Alpen wurden damals in Avoriaz und andernorts riesige Skigebiete, Wintersport-Retortenstädte aus dem unberührten Boden gestampft. Warum sollte das nicht auch in der Schweiz möglich sein? Im Avers lebten damals etwa 150 Menschen. Das Projekt sah 10’000 Betten, zwanzig Bergbahnen und Lifte sowie einen Helikopterlandeplatz für betuchtere Gäste vor.

«Das ganze Tal wäre jetzt eine Wüste aus Beton und Stahl», sagte eine der Frauen, zeigte in Richtung Dorfausgang und blies zugleich eine Schwade Marlboro Gold in die kühle Luft: «Ich glaube, dort wäre das zentrale Hochhaus hingekommen, wenigstens dreissig Stockwerke, mit einem Bogen auf dem Dach.» Ich schaute der Rauchwolke nach, die gemächlich durchs Gegenlicht zuckelte, und mir war kurz, als stünde da tatsächlich ein riesiger Turm, der Burj al Arab vom Avers-Tal.

«Am Anfang waren alle hier ganz begeistert», fuhr nun die andere Raucherin fort und lachte hämisch. «Es herrschte eine richtige Goldgräberstimmung. Dann aber kam jemand auf die Idee, dass da ja nicht nur Touristen kommen, denn für 10’000 Leute braucht es auch Personal, viel Personal.

Und plötzlich war das Schreckensbild da, dass sich da lauter Ausländer im Tal ansiedeln ­würden: Deutsche, Franzosen, Italiener oder noch Schlimmeres. Und das wollte man auf keinen Fall. Also kippte die Stimmung, und als man schliesslich über den neuen Zonenplan abstimmte, war die Mehrheit dagegen. Heute würde man eine solche Abstimmung viel früher ansetzen, ehe die Leute begreifen, worum es geht.»

«Dann war es im Grunde Fremdenfeindlichkeit, die das Tal vor der Verwüstung bewahrt hat», wollte ich wissen.

«Ich würde nicht von Feindlichkeit sprechen. Aber das waren die Sechzigerjahre, da war auch Italien noch exotisch. Und hier oben … das war weit weg von allem. Ist es ja immer noch.»

Kohl für die Touristen?

Ich frage mich, ob die «jeune femme marrante», der Osamine bei Juf begegnete, wohl eine Frau aus dem Tal war – oder eine ‹Fremde›? Auf jeden Fall bereitete sie sich offenbar auf den Ansturm der Touristen vor, indem sie herauszufinden versuchte, ob sich hier oben in einem Gewächshaus ganzjährig Kohl anbauen liesse. Sicher gab es damals noch andere Projekte dieser Art, wobei die meisten eher Fleisch produziert haben dürften, denn in den Sechzigern ass man ja am liebsten nur Koteletts und Steaks, garniert mit exotischen Früchten aus der Dose.

Jetzt sehe ich, dass Donni seinen Geländewagen am Rande der Strasse nach Cresta parkiert hat und dabei ist, einem Bach entlang zu ebenjenem Berg aufzusteigen, den ich ihm gezeigt habe. Ich schaue auf meine Karte, das Massiv heisst Piz la Mazza und ist mehr als dreitausend Meter hoch. Genau an diesem Abhang waren damals wohl die meisten Pisten geplant. Ich hätte Donni auch vor den Wölfen und den Bären warnen sollen. Und vor den Zebras, die aber meistens nur spielen wollen.

***

Kohl

13/6/1966

Mein lieber Schaki,
heute bin ich in einem Tal fernab der Welt einer lustigen jungen Frau begegnet. Auf einem ebenen Stück Boden am Rande des letzten Dorfes hat sie ein Glashaus mit Beeten auf Stelzen errichtet. Sie experimentiert da mit dem Anbau von allerlei Kohl, den sie einem grossen Hotel verkaufen will, das bald hier gebaut werden soll. Habe leuchtend grünen Blumenkohl probiert: Farbe der Chartreuse: futuristisch, exzellent!

Ich liebe dich
Osamine

(Übersetzung der Postkarte, die Osamine aus dem Avers geschrieben hat.)

 

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Alpenaustern schlürft man nicht

Im Mai 2022 findet Samuel Herzog, Künstler und Journalist aus Zürich, bei einem Pariser Brocanteur einen Stapel von 16 Postkarten, geschrieben von einer Osamine, adressiert an Schaki Bùfftù, wohnhaft Rue de Bendalis 7 in Port-Louis, der Hauptstadt der fiktiven Insel Lemusa.

Entstanden ist aus diesem einzigartigen Projekt ein reich bebildertes Reisebuch. Eine literarische Hommage an die Landschaften und Menschen Graubündens, in der Fiktion und Realität auf überraschende und oft auch humorvolle Weise zusammentreffen. Und nicht zuletzt beschreitet dieser etwas andere Reiseführer noch unausgetretene Wege durch die Landwirtschaft, Pflanzenwelt und Kulinarik des Schweizer Bergkantons. Hier bestellbar.