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Das Theaterstück «mi vida en transito» ist ein sorgfältiges Puzzle aus Live-Performances, Streams und sehr vielen Gefühlen.

Foto: Ralph Kuehne

Theaterbesuch

Wie Männer über Gefühle sprechen

Elvio Avila musste mitten in einer schweren psychischen Krise die Schweiz verlassen. Er hatte nur noch seinen Laptop und diesen einen Freund in der Schweiz. Also begannen die beiden sehr viel miteinander zu telefonieren, bis Avila wieder stabiler war. Aus den Gesprächen entwickelte sich das Theaterstück «Mi vida en transito». Sprechen als Therapie funktioniert aktuell allerdings für viele Männer nicht. Das liegt auch an der allgemeinen therapeutischen Ausrichtung an der weiblichen Psyche.

Von Helena Krauser

Zürich, 02.11.2022

9 min

Das Licht geht an, das Publikum im Fabriktheater in Zürich applaudiert, Savino Caruso hält den Laptop in der Hand und verbeugt sich. Aber auf dem Laptopbildschirm ist niemand mehr zu sehen. Die Verbindung zu Elvio Avila in Argentinien ist abgebrochen. Caruso steigen die Tränen in die Augen. Als der Applaus abgeebbt ist, sagt er: «Ich hoffe, dass Elvio wieder zurückkommt» und geht von der Bühne. 

So intensiv und schwer wie das Ende waren auch die restlichen 60 Minuten des Theaterstücks «Mi vida en transito». Die Offenheit und Ehrlichkeit der beiden Männer sind so direkt, dass es beim Zuschauen fast schmerzt. 

«Es tut richtig weh, wenn Elvio nicht beim Applaus dabei sein kann wie gestern Abend», sagte Caruso beim Zoomgespräch am nächsten Tag. Man könnte vielleicht denken, eine kurze Unterbrechung der Internetverbindung am Ende des Stücks ist nun auch wieder nicht so dramatisch. Immerhin hat die Technik den Rest der Zeit funktioniert, und an stockende Videocalls haben wir uns in den Pandemiejahren gewöhnt. Aber für Caruso und Avila ist diese Internetverbindung mehr als ein technisches Kommunikationstool. Sie bedeutet alles für sie. Vielleicht hat sie Avila sogar das Leben gerettet. Das machen sie im Gespräch sehr deutlich. Caruso sagt deshalb zu Beginn des Stücks auch: «Bitte schaltet eure Handys aus und geht aus dem WLAN, wir brauchen alles Internet, das wir kriegen können.»

Die harten Fakten

Wie kamen die beiden in diese Situation? 

Avila kam 2010 in die Schweiz. Er studierte Tanz in Zürich, schloss die Dimitrischule ab und machte einen Master in «Expanded Theater» in Bern. Im Frühling 2020 war plötzlich sein Aufenthaltsstatus in Gefahr. Als argentinischer Staatsbürger, also sogenannter Drittstaatsangehöriger, genügten seine Jobs als Freelancer im Kulturbereich nicht für eine Aufenthaltsbewilligung. Den Studentenstatus hatte er nicht mehr und eine Festanstellung auch nicht, also musste er die Schweiz verlassen – so die knallharten Fakten, die Avilas Leben ganz plötzlich aus den Fugen hoben. 

Zu dieser Zeit verschlechterte sich Avilas psychischer Zustand stark. Er litt unter Depressionen und hat Suizidgedanken. In einer Klinik bekam er Hilfe für seine mentale Gesundheit, aber das Problem mit seinem Aufenthaltsstatus konnte er nicht lösen, und die Depressionen blieben. Eine befreundete Künstlerin stellte ihm dann Caruso vor. Savino Caruso kennt sich aus mit der Bürokratie rund um Aufenthaltsbewilligungen. Er hat sich vor einigen Jahren für Geflüchtete auf der Balkanroute engagiert. Aber trotz aller Bemühungen konnte keine Lösung für Avila gefunden werden. Im September 2020 musste Avila die Schweiz verlassen. Angeleitet von den Therapeuten in der Klinik hat er die Abreise im Vorfeld immer wieder geübt. Er fuhr mit seinem Koffer zum Flughafen, prägte sich alles ein, versuchte sich an den Umstand zu gewöhnen, um keine Panikattacke zu bekommen. 

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Zwischen den beiden Darsteller liegen mehr als 11 000 Kilometer.

Foto: Ralph Kuehne

In Argentinien angekommen, zog er in ein kleines Apartment in der Region Mendoza gleich oberhalb des Friseursalons seines Vaters. Auch hier erhielt er Hilfe von Psychiatern, aber am meisten half ihm die Internetverbindung in die Schweiz. Nach dem ersten Treffen mit Caruso hatte sich eine starke Freundschaft zwischen den beiden entwickelt. Zuerst hatte Caruso ihn immer wieder in der Klinik in der Schweiz besucht, dann als Avila weg war, haben sie angefangen, regelmässig zu telefonieren. Ungefähr dreimal die Woche sprachen sie miteinander.

Mit der Zeit hatten sie den Wunsch, den Gesprächen einen Rahmen zu geben und entschieden sich am PREMIO Wettbewerb, dem Nachwuchspreis für Darstellende Künste, teilzunehmen. Von nun an hatten sie ein Ziel, auf das sie hinarbeiten konnten. Das half Avila sehr. «Für eine stabile mentale Gesundheit sind drei Dinge wichtig», sagt Avila im Zoomgespräch. «Beziehungen, Arbeit und der Bezug zur Heimat. All das hat mir die Verbindung mit Savino gegeben. Durch ihn konnte ich wieder als Künstler arbeiten und hatte einen Bezug zur Schweiz, die schon lange meine Heimat geworden war.»

Therapieansätze extra für Männer

Über Depressionen sprechen, Gefühle erklären, voreinander weinen. All das sind Dinge, die noch immer nicht selbstverständlicher Bestandteil von Männerfreundschaften sind. Die jahrzehntelange mediale Erziehung mit stereotypen Männeridolen, die weder Furcht noch Einsamkeit kennen und nur sich selbst, eine Zigarette und den Blick in die Ferne brauchen, wirkt nach. Vielleicht wären auch zwischen Avila und Caruso keine ehrlichen Gespräche entstanden, wenn es die räumliche Distanz nicht gegeben hätte. «Wir hatten gar keine andere Möglichkeit, als miteinander zu sprechen», sagt Caruso eher nebenbei. Gut möglich, dass die beiden eher gemeinsam Sport gemacht oder einen Wohnwagen renoviert hätten, wenn sie denn im gleichen Land gewesen wären. 

Sie wären zumindest nicht die einzigen Männer, die eher über Aktivitäten als über Gespräche in Beziehung miteinander treten. 

Männer gehen tendenziell weitaus seltener in Psychotherapie als Frauen. Das liegt unter anderem auch daran, dass die klassische Gesprächstherapie stark auf Frauen zugeschnitten ist, das schrieb die Fachzeitschrift Ärzteblatt bereits 2011. Psychotherapeuten, die extra Angebote für die Bedürfnisse der Männer schaffen, arbeiten daher oft mit körperlichen Übungen. So zum Beispiel Dr. Peter Hotz, der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, ist Chefarzt der Abteilung Suchtmedizin und Sozialpsychiatrie an der Rhein-Mosel-Fachklinik Andernach in Deutschland und betreibt dort eine Therapiegruppe nur für Männer.

Hotz ist der Meinung, dass es für Männer wichtig ist, den Körper bei der Therapie miteinzubeziehen. Deshalb seien Übungen und Spiele, die darauf abzielen, Energie abzubauen, immer ein Teil seiner Therapieeinheiten. Ausserdem sei es wichtig, den Männern das Gefühl zu geben, mit ihrem Anliegen am richtigen Ort zu sein, lässt sich Hotz zitieren. Ausführlich über das Thema sprechen der Psychologe Dr. Leon Windscheid und der Comedian Atze Schröder in ihrem Podcast «Betreutes Fühlen»

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Savino Caruso ist alleine auf der Bühne. Elvio Avila ist ihm digital zugeschaltet.

Foto: Ralph Kuehne

Dass Avila und Caruso den Wert von intensiven freundschaftlichen Gesprächen erkannt haben und gemeinsam vertrauensvoll an ihren Emotionen arbeiten konnten, ist also keine Selbstverständlichkeit. Bereichert hat es aber beide. Auch Caruso hat so einen neuen Zugang zu seiner Gefühlswelt entwickelt. Auf der Bühne erzählt er von der Traurigkeit und den Tränen, die ihn hin und wieder plötzlich überkommen, wenn er mit dem Velo an der roten Ampel steht, aber auch von der Aggressivität, die er manchmal verspürt, vor allem gegenüber den Menschen, die ihm besonders wichtig sind.

Neue Pläne für die Zukunft

Männer, die darüber sprechen, dass ihnen ihre Aggressivität zu schaffen macht, sind noch nicht zur Normalität geworden. Aggressives Verhalten wird schnell als schlechte Eigenschaft abgestempelt und wie viele Bereiche in der männlichen Gefühlswelt und dem geschlechtsspezifischen Umgang mit Problemen pathologisiert. Weibliches Empfinden und Reagieren werde in der Psychotherapie hingegen als «normal» betrachtet und den Männern als Vorbild vorgegeben, berichtet der amerikanische Psychologieprofessor Gary Brooks im Ärzteblatt. Ebenso wie die Forschung in der Medizin jahrzehntelang nur den männlichen Körper behandelte, gilt in der Psychotherapie aktuell also die weibliche Gefühlswelt als normal.

Neben den unzähligen schulmedizinischen und esoterischen Therapien, die Avila gemacht hat, sei auch das Theaterprojekt wie eine Therapie für ihn gewesen, sagt er. Durch die ständige Wiederholung seiner Geschichte hat er eine Distanz zu dieser schwierigen Zeit in seinem Leben entwickelt. Die Arbeit und die Verbindung in die Schweiz haben ihm Struktur und Halt gegeben. Im Stück stellen die beiden die Frage «und was passiert, wenn das Projekt zu Ende ist, wenn wir die letzte Vorstellung gespielt haben?». Was am Theaterabend nach einer nahenden Bedrohung klingt, kann Caruso im Gespräch nach der Vorstellung beschwichtigen. 

«Mittlerweile sind wir an einem neuen Projekt. Wir erarbeiten ein Stück zum Thema Wut und vielleicht», sagt er, «kann Elvio Avila bei der Premiere dann sogar vor Ort auf der Bühne stehen.»

Theater am Gleis in Winterthur    3. + 4. November

Theater Roxy in Birsfelden             9. + 10. November

Theater Chur                                    18. November

Schlachthaus Theater Bern         24. + 25. + 27. November