Inwiefern prägt dieses Arbeiten im Untergrund die alternative iranische Kulturszene?
Es gab Zeiten, da hatte ich den Eindruck, ich bin als Künstlerin in meiner Szene viel freier als meine europäischen Kolleg:innen. Weil hier sind auch alle mit der Problematik der Sichtbarkeit konfrontiert. Es gibt zwar keine offensichtliche Zensur, aber wenn die Entscheidungsträger nicht mögen, was du machst, bekommst du einfach keine Aufführungsmöglichkeiten. Mit einer solchen Art von Zensur umzugehen, ist sehr komplex.
Werden Sie als weibliche Künstlerin mit mehr Hürden konfrontiert, als Ihre männlichen Kollegen?
Ja. Das patriarchale System ist in den Ländern des Nahen Ostens in allen Aspekten des Lebens sehr prägend. Aber ich denke, das ist in vielen Teilen dieser Welt so. Das System ist so gefestigt, dass es sehr schwierig ist, ein Bewusstsein dafür zu schaffen. Ich merke das auch an mir, es ist eine grosse Herausforderung, neue Wege ausserhalb dieses patriarchalen Systems zu gehen.
Ich habe zum Beispiel sehr viele unbezahlte Jobs gemacht, Jobs im Bereich von Performing Arts, wo ich Expertin bin. Währenddessen habe ich mich gut gefühlt. Ich hatte das Gefühl, moralisch richtig zu handeln, wenn ich sage, Geld ist mir nicht so wichtig. Aber irgendwann habe ich festgestellt, dass kein Mann in meinem Umfeld das jemals tun würde.
Ich habe das nur gemacht, weil ich es gewohnt bin, dass Frauen unbezahlte Arbeit machen.
Wir müssen gegen das Patriarchat arbeiten, wo immer wir sind, nicht nur im Nahen Osten. Das ist ein langer Weg, den wir alle gemeinsam gehen müssen. Natürlich ist der Kampf hier anders gelagert, weil die historischen und kulturellen Kräfte sehr stark und gefestigter sind. Aber ich glaube auch nicht, dass die westliche Gesellschaft diesen Prozess schon vollständig überstanden hat.
Was denken Sie über die Künstler:innen, die innerhalb des Systems, also mit der Bewilligung der Regierung arbeiten?
Es ist schwierig für mich zu verstehen, wieso sie tun, was sie tun, und wie sie über Kunst denken. Aber auch in der Mainstream-Kunst sagen zurzeit viele Künstler:innen, fuck it, widersetzten sich und gehen dann direkt ins Gefängnis. Für sie ist das Risiko, bestraft zu werden, wenn sie sich widersetzen, viel grösser, weil sie viel mehr in der Öffentlichkeit stehen.
Ausserdem ist es viel komplizierter, aus dem System herauszukommen, wenn man Teil davon ist und es mit aufgebaut hat, als wenn man, wie ich, nie mitgemacht hat.
Haben viele Künstler:innen in Ihrem Umfeld den Wunsch, den Iran zu verlassen, um im Ausland zu arbeiten?
Ich kenne viele iranische Künstler:innen, die das Land verlassen mussten. Manche aus persönlichen, andere aus politischen Gründen. Aber alle sind mit Tränen in den Augen gegangen.
Wir lieben unser Land und unsere Gesellschaft und wir möchten lieber in unserem Land zuhause sein, als Fremde in einem anderen Land zu sein.
Ausserdem: Arbeiten mit Kultur ist arbeiten mit Sprache. Wenn du in einem anderen Land bist, mit anderen kulturellen Wurzeln und einer anderen Sprache, verlierst du dein Material. Es ist sehr schwierig, als Künstler:in in einem anderen Land zu arbeiten. Für mich ist es zu hart.
Ich denke auch, ein:e Künstler:in ist nicht nur ein Individuum, sondern ein Teil des Umfeldes und der Szene. Ich sehe mich selbst nicht als individuelle Künstlerin, ich bestehe aus all den Menschen, die mich umgeben.
In der Residenz, hier in der Schweiz, sind Sie ja jetzt aber isoliert von den Menschen, die Sie sonst umgeben.
Ja, aber ich habe einen grossen Teil meiner Arbeit zuhause gemacht. Jetzt arbeite ich hier drei Wochen, dann kommt die Aufführung, und dann gehe ich wieder zurück. Die Tatsache, dass ich wieder zurück gehe, macht einen enormen Unterschied.
Haben Sie Sorgen, wenn Sie an Ihre Rückreise denken?
Da ist sicherlich auch Angst, weil es zurzeit nunmal ein grosses Risiko ist, im Iran zu sein. Aber ich bin trotzdem sehr glücklich, zurück zu gehen. Ich kann es eigentlich gar nicht erwarten. Es war sehr schwierig für mich, mein Land zu verlassen, aber ich hatte diese berufliche Abmachung.
Die Situation im Iran ist derzeit gesellschaftlich sehr intensiv, und ich bin froh, nach all den Jahren endlich etwas tun zu können. Ich fühle mich jetzt aktiv und gesehen.
Endlich können wir als Gesellschaft aus dem Schatten treten und sichtbar werden.
Als wir alle auf die Strasse kamen und keine Kopftücher mehr trugen, hat es sich angefühlt, als hätten wir uns endlich alle gefunden. Wir haben realisiert, dass wir nicht alleine sind. Natürlich war uns das schon irgendwie bewusst, die Revolution kam ja nicht über Nacht, aber der Moment, in dem man plötzlich all diese Körper sieht und die Verbundenheit spürt und merkt, wie viele von uns ein Leben im Schatten geführt haben, das war für mich, und ich denke für uns alle, wie eine Therapie.
Weil der permanente Angstzustand, in einem Land zu leben, in dem die Regierung wahllos auf Menschen schiesst, auf Kinder, die in die Schule gehen, auf alte Menschen, die ihren Abfall auf die Strasse stellen – dieser Zustand hinterlässt ein gesellschaftliches Trauma. Ich brauchte dieses Erlebnis, so sehr, um zu merken, dass wir so viele sind und so stark und auch, dass wir all die Jahre Recht hatten.
Neben all dem Kummer, der Angst, dem Risiko gibt es auch die Schönheit des gemeinsamen Kampfes.
Viele haben ihre Arbeit niedergelegt und kommen in ein neues Level des Lebens. Ich treffe jeden Tag so viele Leute. Wir sitzen bis mitten in der Nacht zusammen, machen Pläne und gehen dann am nächsten Tag wieder zusammen auf die Strasse. Diese Verbindung, diese Gemeinschaft hat eine grosse Kraft.
Welche öffentliche und politische Unterstützung wünschen Sie sich vom Westen?
Ich und alle Menschen, die ich kenne, bitten westliche Politiker:innen nicht um Hilfe. Weil immer wenn dieses Thema aufkommt, denke ich an das Bild von den Menschen in Afghanistan, die sich am Fahrwerk eines amerikanischen Flugzeugs festhielten, nachdem Kabul von den Taliban eingenommen wurde. Kurz nach dem Start stürzten sie in die Tiefe.
Für mich zeigt das, wie westliche Intervention funktioniert, und deshalb habe ich keine Hoffnung in die Hilfe von westlichen Politiker:innen.
Die öffentliche gesellschaftliche Unterstützung, dass wir auch im Westen gesehen werden, empfinde ich aber als sehr ermutigend.
Welche Hoffnung setzten Sie in die Revolution?
Die Revolution ist eine alltägliche Auseinandersetzung mit unseren Gewohnheiten. Jeden Tag überdenken wir, wie wir fühlen und handeln. So lernen wir, die Qualität des Lebens wertzuschätzen. Der Slogan der Revolution ist «Frauen Leben Freiheit». Das Wort «Leben» ist dabei auch sehr wichtig. Zu leben, ist auch unser Weg zu kämpfen.
Bei den Protesten auf der Strasse, geht es nicht immer nur darum, wütend zu kämpfen. Wir singen und tanzen auch, wir sind glücklich und zelebrieren das Leben. Auch das ist ein Aspekt des Widerstands. Wir versuchen, nicht mit den gleichen Waffen zu kämpfen wie unsere Feinde. Wir sagen:
Wenn du tötest, lobe ich mein Leben. Ich zeige, dass ich lebe und versuche, die Intensität meiner Lebendigkeit zu steigern.
Die Kraft dieser Bewegung liegt auch in ihren vielen Facetten. Es gibt nicht nur die Möglichkeit, auf die Strasse zu gehen und laut zu rufen. Manche Frauen schreiben kleine Zettel, die sie auf der Strasse verteilen. Ich habe so viele davon. Auf einem steht: «Deine Haare sind wunderschön, aber ich wertschätze deinen Mut».
Glauben Sie daran, dass Ihr Heimatland in ein paar Monaten oder Jahren ein freieres Land sein wird?
Auch wenn politisch erstmal nicht viel passiert, die gesellschaftlichen Veränderungen sind sehr entscheidend.
Ich hoffe, dass unsere Revolution im Iran nur der Anfang einer grösseren Bewegung ist. Wir wissen von so vielen afghanischen, arabischen und kurdischen Schwestern, die zurzeit noch nicht die Chancen haben, die wir aktuell nutzen können. Der Frieden, den wir erreichen wollen, ist nicht nur für uns im Iran, sondern auch für unsere Nachbarinnen, die teilweise die gleiche Sprache sprechen wie wir, die gleichen kulturellen Wurzeln haben. Ich kann nicht sagen, ich bin frei, wenn sie nicht frei sind.
Wir iranischen Frauen haben diese Bewegung nicht erfunden, wir haben sie über Jahre aufgebaut, indem wir gemeinsam mit unseren Schwestern aus der Region in den Widerstand gegangen sind und von ihnen gelernt haben. Diese Bewegung ist der Anfang einer grösseren Bewegung für alle Frauen im Nahen Osten.