Fotografie
Was im Dunkeln bleibt
Der Luzerner Künstler, Ausstellungsmacher und Publizist Stephan Wittmer beschäftigt sich mit Kulturtechniken, mit der Aneignung und Verdrängung von Traditionen. Zurzeit zeigt er seinen USA-Zyklus «Homeland: Rising Sun» in Chur. Anja Nora Schulthess, die als Journalistin auch für das FRIDA Magazin tätig ist, hat für den Katalog zur aktuellen Ausstellung einen literarischen Essay geschrieben.
Chur, 01.02.2023
«Die Sonne schien, da sie keine Wahl hatte, auf nichts Neues.» Der erste Satz aus dem ersten Roman von Samuel Beckett (Murphy, 1938) hat sich ins Hirn gebrannt und wird beim Betrachten der Bilder wieder in Erinnerung gerufen. Ein erster Satz, eine letzte Wahrheit, wenn auch ironisch verpackt. Eine Anspielung auf das biblische Buch Prediger Salomo (Kohelet), wo ein Mann die Nichtigkeit des Daseins und die Wiederkehr des Immergleichen beklagt – selbstredend mit dem Rat, sich an die Gebote Gottes zu halten und sich nicht an Geld und Besitz zu klammern. Koh 1,9: Was geschehen ist, wird wieder geschehen, was man getan hat, wird man wieder tun: Es gibt nichts Neues unter der Sonne.
Bei Beckett ist die Desillusionierung eine ironische. Und die Literatur, die Kunst immer Antwort auf diese Desillusionierung, das Wissen um die Begrenztheit des menschlichen Daseins und Wirkens, das Fehlen einer übergeordneten Sinnhaftigkeit, die Frage, was bleibt denn?
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Wer die Karte der Sonne kriegt, hat die Triumph-Karte gezogen, dem wird eine gute Zukunft vorhergesagt, Glück, Erfolg, Geldsegen, Liebe, eine Hochzeit. Ausser sie liegt verkehrt herum, dann gilt das Gegenteil. Wem gehörte die Karte, wer hielt sie – vor dem Künstler – zuletzt in der Hand? Wo wurde sie gefunden? Und glaubte der Kartenspieler oder die Kartenspielerin an das Glück des Spiels? Glaubte er oder sie überhaupt an irgendetwas?
Als Betrachterin versuche ich den Bildern und abgebildeten Gegenständen Sinn abzugewinnen, sie zu verknüpfen, die Lücken zu füllen, eine Geschichte zu erzählen. Die Gegenstände, die Stephan Wittmer auf seinen Reisen gefunden hat, stehen in Kontrast und Dialog zu den Fotografien verlassener, verkümmerter und heruntergekommener Bauten. Wir stellen also Zusammenhänge her. Sagen wir, in jener heruntergekommenen Baracke, die einmal ein Saloon war, wurde Karten gespielt, es wurde viel getrunken, einer hat seine Liebe an einen anderen verloren und daraufhin sein ganzes Geld versoffen und das Land verlassen, vielleicht für immer, vielleicht auch die Erde, vielleicht hat es ihm einer vorhergesagt, vielleicht er selbst, vielleicht eine selbsterfüllende Prophezeiung, vielleicht einfach nur unmotiviertes Pech. Vielleicht hat sein eigenes Land ihm nie gehört, vielleicht ist er ein Vertriebener, ein Heimatloser, einer, der niemals ankommt und doch wie jeder andere unter dem Himmel wohnt.
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Leere Notizzettel, vergilbtes Verpackungspapier, das für maximale Sauberkeit und Frische wirbt, eine Aromaschutzfolie, ein Schokoladenpulver-Sachet mit den Überresten von Schweizer Schokolade, Spielautomatenbilder, ein Traumfänger, eine Kabel-Fernsehkanal-Karte, eine Hotelschlüsselkarte, eine Kassette, eine Telefonbuchseite, eine Bibelseite – diese Gegenstände erzählen in ihrer Banalität Geschichten von Trash, Kitsch, Konsum, von grossen Reisen oder von Menschen, die nie aus dem Dorf herausgekommen sind, vom American Dream, von Kolonialismus, Raub, Exotismus, Heimat, Heimweh und Heimatlosigkeit. Es ist, als hätte der Künstler und Reisende diese Gegenstände einfangen wollen, um Vergängliches zu speichern und dem Unspektakulären, Banalen durch Sofortbilder zu einer Erinnerung oder Geschichte zu verhelfen.
Stephan Wittmer studierte an der Schule für Gestaltung SfG in Luzern. Seit dem Diplomabschluss (1982) ist er als freier Künstler und als Vermittler von Kunstprojekten tätig.
- 1991 erhielt er für seine photographischen Installationen ein Eidgenössisches Kunststipendium.
- Zahlreiche Ausstellungen im In- und im Ausland.
- Mitbegründer der Kunsthalle Luzern (1990).
- Gründungsgesellschafter und Leitung der PZK Plattform für zeitgenössische Kunst GmbH (1999, heute SPAMAM GmbH).
- Gründung der Dokumentationsstelle „diebasis“, welche heute in der Kunsthalle Luzern beheimatet ist.
- Von 2001 bis Ende 2007 war Stephan Wittmer leitender Kurator des Kunstpanorama Luzern.
- Seit 2003 unterrichtet er an der Hochschule Luzern Design & Kunst im Studiengang Kunst & Vermittlung.
- Seit 2012 ist er Herausgeber von _957, ein unabhängiges Kunstmagazin das monatlich erscheint. Bis heute sind über 140 Ausgaben erschienen.
- Initiierung und Leitung des Museum1 auf der Baubrache 837 an der Peripherie von Adligenswil (Luzern).
- Seit Januar 2021 leitet er die Galerie Kriens und realisiert im Jahr 7 Ausstellungsprojekte.
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Eine, man möchte sagen: von Gott oder allen guten Geistern verlassene, schiefe Baracke, das Dach in sich zusammengefallen – ganz so, als hätte die Schwere des Himmels es erdrückt. Vielleicht war es der Sturm, ein grosses Unwetter oder einfach nur die Zeit. Die Männer und Frauen sind fort, ein paar Cowboys noch sind festgehalten, ein Tier brandmarkend, als wäre es eine Trophäe, sie erinnern noch an den Sehnsuchtsort mit dem Namen «Freiheit», Hollywood und eine Zigarettenmarke, die Abenteuer und Freiheit versprach; Paradigmen, Männlichkeitsbilder, man möchte mit einer Prise Ironie sagen: vom Aussterben bedroht. Gestrüpp, Gras und Sonnenblumen erobern sich ihren Platz zurück und wuchern, verdorren und verblühen unter der sengenden Hitze. Rost hat sich mit der Zeit über Eisen und Stahl gelegt, Gerümpel, nicht mehr zu gebrauchen, lediglich Spuren von Menschen, ein paar verbeulte Geländewagen nur weisen darauf hin, dass da vielleicht noch jemand ist.
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Und immer wieder Verbarrikadierung; zerschlagene Fenster und Türen, zugenagelt mit billigem Bauholzmaterial, jemand hat Papier hinter die Scheiben geklebt, vielleicht damit keiner hineinsieht? Lauert die Bedrohung drinnen oder draussen? Wessen Blick wird hier wovor geschützt? Was wird hier verborgen? Und wann zieht der nächste Sturm auf? Woher weht der Wind und ist noch jemand da, der es sagen könnte? Wer wohnte und trieb sich in den Baracken herum, deren Fenster so klein sind, dass kaum Licht einfällt? Was verbergen die Fenster und vor wem überhaupt?
Eine blaue Bank lädt zum Verweilen ein, als hätte sie jemand fürs Bild in diesem Blau gestrichen, das die Farbe des Himmels und die Farbe des Containers hinter dem Gestrüpp kommentiert. Auch hier sind die Gardinen gezogen.
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Überdimensionierte Lettern markieren über einem stallartigen Gebäude, dass hier einst eine Bar war. Und wenn es noch eine ist, so vermittelt sie das Gegenteil von Leben. Man denkt nun an ein Bild von Sophie Calle. Eine blaue Baracke, irgendwo im verlassenen Niemandsland, zwischen ein paar (ebenfalls verlassenen) Bauernhöfen, spärlich kleine, schmale Fenster. Darüber steht in himmelblauer Farbe in grossen Lettern SALLE DES FÊTES und es ist ein himmeltrauriges, poetisches Bild. Daneben steht das Gedicht:
Parce ques a simplicité
Parce ques a solitude
Parce ques on dénuement
Parce ques a rudesse
Parce que cet hiatus entre ce que ca annonce et ce que ca raconte
Parce que sa dignité
Parce que son infinite tristesse au premier regard
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(Wegen seiner Einfachheit
Wegen seiner Einsamkeit
Wegen seiner Bedürftigkeit
Wegen seiner Härte
Wegen dieser Lücke zwischen dem, was es ankündigt, und dem, was es erzählt
Wegen seiner Würde
Wegen seiner unendlichen Traurigkeit auf den ersten Blick)
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Eine vergilbte Tafel über einer improvisierten Holzbaracke lässt wissen, dass hier einmal ein Saloon war, und wirbt weiter für Whiskey und Bier, als wäre Alkohol noch immer zuverlässig Rettung und Trost. «Indians allowed» steht da noch und man springt vor zur Salted-Butter-Verpackung, die die Verklärung der reinen Milch mit der Verklärung des Exotischen und Weiblichen verschmilzt. So, also stellte sich der weisse alte Mann die Indianerin als Pocahontas vor, keusch und artig Butter vor den Brüsten tragend. Und dann denkt man zurück an den Film No More Smoke Signals (Fanny Bräuning, 2008), an die Indianerreservate, Alkoholismus, Völkermord, Missionierung, Züchtigung und Aufbegehren. Man denkt an die Lakota in South Dakota, an deren eigenen Grund und Boden, der von Gesetzes wegen nicht mehr bewirtschaftet werden durfte. Man denkt an den für die Indianer für Hunderte von Jahren heiligen Grund der Black Hills, an ihre Vertreibung und die himmelschreienden Zustände in unmittelbarer Nähe dieser schwarzen Hügel, wo keine Kulte durchgeführt und keine Gebete mehr gesprochen werden durften. Verbrannte Erde. Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
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Ist es Zufall, dass die herausgerissene Bibelseite aus dem Buch Hiob stammt? Hiob, der Gottverlassene –
God has made my heart faint, the Almighty has terrified me; yet I am not silenced because of the darkness, nor because thick darkness covers my face (Gott hat mein Herz ohnmächtig gemacht, der Allmächtige hat mich erschreckt; doch ich bin nicht verstummt wegen der Finsternis, auch nicht weil dichte Finsternis mein Gesicht bedeckt) –
und Bildad, der Suchäer, der zweite Freund Hiobs, der versucht, ihn zu trösten –
Dominion and fear are with God; he makes peace in his high heaven (Herrschaft und Furcht sind bei Gott; er schafft Frieden in seinem hohen Himmel) –
und damit natürlich ebenso scheitert wie der erste Freund.
Von Beckett zum Buch Prediger Salomo, zu Hiob, zu Bildad und dann zu A Serious Man (Ethan und Joel Coen, 2009), natürlich, diese Tragikomödie, in der Larry Gopnik irgendwo im Mittleren Westen an seinen Sinnfragen verzweifelt. Der Mann steht auf dem Dach seines absolut durchschnittlichen Einfamilienhauses, hantiert an der Fernsehantenne herum und wartet auf ein Zeichen aus dem Himmel, wo selbstredend überhaupt nichts passiert. Dafür bricht über Larry Gopniks sonst so langweiliger Existenz das Chaos aus, Scheidung, anonyme Briefe, Reputationseinbusse und ominöse, horrende Rechnungen – es muss sich also, schliesst der aufrechte Mann, um eine Strafe Gottes handeln. An die Stelle der drei Freunde Hiobs treten hier drei Rabbis, die ihm allerhand absurde Geschichten und Allegorien auftischen, die diese Schicksalsschläge erklären sollen. Im Gegensatz zu Hiob findet Larry Gopnik keine Antwort von Gott, sondern nur die Popmusik als Religionsersatz: When the truth is found to be lies/ And all the joy within you dies/ You better find somebody to love … (Wenn die Wahrheit sich als Lüge erweist/ Und alle Freude in dir stirbt/ Such dir besser jemanden, den du liebst …)
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Hoffnungslosigkeit, feine Ironie und Poesie durchziehen diese Sammlung aus Sofortgegenständen und Fotografien von Stephan Wittmer ebenso wie eine melancholische Nostalgie, die jedoch immer wieder gebrochen wird durch das Trashige, das Billige, Insignien des Konsums. Ein toter Frosch auf einer Dollarnote, ein Reiseheft für San Juan County mit Werbung für einen Discount-Bonus und viel Plastik. Die digitalen Fotografien, auf Sperrholzplatten aufgezogen, vermitteln eine poetische Rauheit, Ockerbraun trifft auf Himmelblau und dazwischen schieben sich braune Schlieren, die Struktur des Holzes schreibt sich ein und drängt sich auf. Astlöcher, manchmal dunklen Sonnen gleich, fressen sich wie kleine Brandlöcher ins Bild, lenken den Blick da und dort ganz zufällig auf ein Detail, da und dort vermutet man, wüsste man es nicht besser, eine Schiessscharte oder ein Schussloch. Auch die Bilder sind der Zeit ausgeliefert. Wo kommen sie her, wo gehen sie hin?
Die Bildserie auf jeden Fall weckt in der Betrachterin lange Assoziationsketten, Erinnerungen, Träume von fremden Orten und vor allem den Wunsch, zu erahnen, welche Geschichten sich hinter den verschlossenen Fenstern, kaputten und verlassenen Häusern verbergen, welche Schicksale und Stränge sich um die Gegenstände weben, die irgendwo gefunden wurden. Den Drang, dahinterzukommen, was im Dunkeln verborgen bleibt. Und wenn dort nichts ist, oder nichts, was erinnert ist oder gesagt werden kann, so nährt das Dunkle die Fantasie und das Licht durch das Kamera-Objektiv gibt ihr hier Raum dazu. Wegen dieser Lücke zwischen dem, was es ankündigt, und dem, was es erzählt.
HOMELAND: RISING SUN
27. JAN – 24. FEB 2023
im Ausstellungsraum von Thomas Zindel
Galerie / EditionZ
Chur