Die Serie «Vom Machen» im Frida Magazin. Im Bild Notta Caflisch

Videostill aus der Serie «Vom Machen»: Die Künstlerin Notta Caflisch auf einer Wanderung in Graubünden.

Kunst

Was denkt die Kunst? 40 Künstler:innen im Porträt

Wie kann das Denken und Machen von Künstler:innen einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden? In Graubünden ist dazu ein wegweisendes Projekt entstanden. Der Berufsverband Visarte liess von vierzig Kunstschaffenden Videoporträts erstellen. Eine Serie, die den Betrachter mitten ins Herz der Kunst führt.

Von Mathias Balzer

Chur, 25.10.2023

5 min

Spätestens seit Kasimir Malewitschs schwarzen Quadrat gibt die Kunst dem Betrachter Rätsel auf. Ihre Deutbarkeit ist seither nicht einfacher geworden, was mit ein Grund ist für die Zunahme an Vermittlungsangeboten, die versuchen, Fragen zu klären: Worauf beruht ein künstlerisches Werk? Welche Gedankenwelt, welche Biografie, welches Denken stehen dahinter? Wie arbeiten Künstler:innen eigentlich?

In der Pandemie hat sich die Frage nach der Sichtbarkeit und dem Verständnis von Kunst noch verschärft. Wenn Ausstellungs- und Begegnungsorte wegfallen, fehlt ihr jegliche Präsenz – und jegliche Vermittlung sowieso.

In Zusammenarbeit mit den Kantonen realisierte das Bundesamt für Kultur während Corona eine Massnahme, die der Kunst wieder zu neuer Sichtbarkeit verhelfen sollte. Vor allem mit Fokus auf digitale Medien und Technologien: die sogenannten Transformationsprojekte, für die pro Einheit und Gesuchsteller jeweils maximal 300’000 Franken zur Verfügung gestellt wurden.

Visarte ist der Berufsverband der Schweizer Kunstschaffenden. Die Bündner Sektion hat durch das oben genannte Förderinstrument ein Projekt realisiert, das nun der Öffentlichkeit zugänglich ist. Die Filmemacher:innen Casper Nicca, Giancarlo Moos, Copi Reumund und Stefanie Roth sowie Marlan Röthlisberger erhielten den Auftrag, 40 Videoporträts von Bündner Kunstschaffenden zu drehen. Rund fünfminütige Filme, die nun online zugänglich sind.

Mitinitiiert und organisiert wurde das Projekt von Doris Deflorin, Vorstandsmitglied und Sekretariatsleitern von Visarte Graubünden leitet. «Das Ganze ist ein Dienst an der Kunst», sagt sie. «Kunst braucht mehr Wahrnehmung ausserhalb etablierter Institutionen. Es geht uns darum, sie sichtbarer zu machen – gerade in Zeiten wie der Pandemie wurde klar, wie fragil diese Sichtbarkeit ist.»

Für Videos habe sich der Verband entschieden, weil Film mit seinen parallelen Erzählebenen – Bild, Bewegung, Sprache, Geräusche – ideal sei, um einen Menschen als vielschichtiges, lebendiges Wesen zu zeichnen, als einzigartige Persönlichkeit hinter dem Kunstwerk, erklärt Deflorin. «Kunstschaffende kommunizieren über ihre Werke; deshalb heisst unser Projekt auch ‹Vom Machen›. Der Fokus ist also mehr auf Gedanken- und Arbeitswelt gelegt, als auf die Person.»

Von den insgesamt 127 Mitgliedern der Bündner Sektion haben sich rund 40 Künstler:innen für das Projekt angemeldet. «Eine glückliche Fügung», so Deflorin, «die Anzahl entsprach fast genau unserem Budget.»

Die Natur als grosse Klammer

Vierzig mal fünf Minuten Kunst aus Graubünden. Ist die Organisatorin zufrieden mit dem Resultat? Ist es repräsentativ für die Bündner Kunstszene?

«Ich finde schon», sagt Deflorin. «Diese Porträts zeichnet aus, dass sie die Verwurzelung der Porträtierten vor allem mit der Natur widerspiegeln. Das Thema fliesst in so viele Arbeiten ein. Beinahe bei allen Porträtierten ist Natur ein Gegenstand.» Für viele sei diese Landschaft immer noch Inspirationsquelle, auch wenn sie schon lange nicht mehr hier wohnen würden. «Viele kehren, um künstlerisch zu arbeiten, immer wieder hier her zurück.»

Das Thema, so Deflorin, sei – ungeplant – zu einer tragenden Ebene des Ganzen geworden. «Die Porträts und die Beschäftigung mit dem Thema Natur geben aber auch den Zeitgeist wieder. Die Auseinandersetzung mit der Fragilität der Natur ist ein Thema, das politisch und im realen Leben allgegenwärtig ist.»

In der Tat durchzieht das Naturthema die ganze Serie, auch wenn lange nicht alle Künstler:innen sich explizit damit auseinandersetzen. Ursula Palla etwa benennt die Natur klar als ihre wichtigste Inspirationsquelle, während das Video über Sandro Steudler zeigt, wie er seit Jahren im Untergrund eines Gebäudes der Utopie einen Platz baut.

Oder da ist Notta Caflisch, die das Gehen in der Natur zwar braucht, um ihre Gedanken zu ordnen, selbst aber konzeptionelle, oft politische Kunst macht. Der Maler Thomas Zindel spricht darüber, wie das Gespräch mit Bildern zu Verunsicherung und dadurch zu einer neuen Welterfahrung führen kann, während Ladina Gaudenz den Blick der Betrachter:innen ihrer Bilder auf die Natur lenken will.

Der Künstler als Lotse in unsicherer Zeit

Die Porträts sind aber über die thematische Verwandtschaft und Gegensätze hinaus ein interessantes und wertvolles Zeitdokument. Die Filmemacher:innen haben nicht Promo-Videos für die Künstler:innen gedreht, sondern sind nahe an die Porträtierten herangekommen – und damit an wesentliche Prozesse im Kunst machen.

Etwa an den Zweifel, der Kreative oft befällt. Der Künstler Giannin Conrad formuliert es so: «Es ist ein ständiges Scheitern; es kommt selten so raus, wie ich dachte.

Ich muss die Frage, warum ich es mache, jeden Tag neu beantworten können.

Das ist auch ein ziemlicher Abgrund. Ich habe eine Verpflichtung dazu, reich und vielfältig zu sein.»

So geht es in nicht wenigen Gesprächen um Unsicherheit, die es auszuhalten gilt. Um die lange Zeit des Ungewissen, die es braucht, damit eine Idee reifen kann. Kunst machen, so lernen wir, hat viel damit zu tun, diese Prozesse aushalten zu können. Und gerade das macht die Auseinandersetzung mit diesen vierzig Filmen interessant.

Denn gerade in unsicheren Zeiten braucht es Spezialisten für den Umgang mit der Unsicherheit. Und vielleicht sind diese Künstler:innen ja eben jene Losten, von denen Friedrich Dürrenmatt geschrieben hat: «Der Lotse kennt zwar die Kunst des Steuerns nicht und kann die Schifffahrt nicht finanzieren, aber er kennt die Untiefen und die Strömungen. Noch ist das offene Meer, aber einmal werden die Klippen kommen, dann werden die Lotsen zu brauchen sein.»

Gut, wenn diese Lotsen und Lotsinnen wieder etwas sichtbarer werden.


Alle weiteren Videos sind hier zu sehen.

Am Samstag, 28. Oktober, werden die Videos in der Postremise in Chur präsentiert. Hier geht es zur Veranstaltung: