Pimp the story!

In seiner monatlichen Kolumne untersucht der Theaterregisseur und Drehbuchautor Felix Benesch die Wechselwirkung zwischen Erzählung, Narrativ und Wirklichkeit. Heute geht es um die erzählerische Potenz von Verschwörungstheorien und darum, warum Putin vielleicht ein Segen für die Demokratie ist.

Von Felix Benesch

Leipzig, 11.05.2022

4 min

«Du kannst doch nicht glauben, was die uns erzählen?» Da ist er wieder, dieser Satz. Spätestens seit Corona hat er Konjunktur, wir alle hören ihn immer wieder. Vielleicht sagen ihn manche von uns auch selber, keine Ahnung. Bei Gesprächen übers Impfen kommt er. Wenn es um die Ukraine und Russland geht. Um Greta Thunberg und die drohende Klimakatastrophe. Um den Klassiker 09/11. Oder ganz allgemein um Politik, Politiker:innen und Medien. «Im Ernst: Du glaubst doch nicht wirklich, was die uns erzählen?»

Mein Gegenüber ist ein Uhrmacher, ein richtig freundlicher Typ, ich unterhalte mich gerne mit ihm. Über Uhren zum Beispiel. Da kennt er sich aus. Gespräche über diese anderen Themen hingegen sind anstrengend. Ich komme mir dann immer vor wie bei Drehbuchgesprächen mit Produzentin und Redaktion. Da fällt dieser Satz so ähnlich auch immer wieder: «Ich glaube nicht, wenn die Hauptfigur dies oder jenes tut.» Oder: «Das ist komplett unrealistisch

Wir optimieren diese Dinge dann gemeinsam in langen, kräftezehrenden Sitzungen. Und lassen dabei in der Regel zahlreiche andere Dinge ausser Acht, die weit weniger realistisch und glaubwürdig sind, aber akzeptiert. Zum Beispiel, dass eine Kommissarin alleine mit gezogener Waffe den Ort betritt, an dem sich der skrupellose, zu allem entschlossene und natürlich ebenfalls bewaffnete Verbrecher aufhält.

Es geht nicht um Realität, es geht um die Story

Mit den Jahren habe ich gelernt, dass es in all diesen Fällen um etwas anderes geht als um Realität. Es geht darum, ob die Story funktioniert. Ob sie uns interessiert. Ob sie uns emotional abholt, uns überrascht und intellektuell zufriedenstellt. Je länger ich mich beruflich mit Storytelling befasse, desto mehr sehe ich das Prinzip überall. Auch bei den oben genannten, extrem polarisierenden Themen. Dort ist es besonders interessant.

Mein Uhrmacher lächelt mich mitleidig an, als ich ihm erkläre, dass ich die offiziellen Verlautbarungen zu Covid-19 immer noch für weit glaubwürdiger halte als das meiste andere. Er ist längst an einem ganz anderen Punkt. Er hat nämlich eine bessere Story. Eine mit Abgründen, knackigen Wendepunkten und hintergründigen Antagonisten. Als Autorenkollege weiss ich: Da kann ich nicht mithalten.

Ein Virus als Antagonist, das ist gar nix, es lässt sich schlecht erzählen. Ein Virus hat keine Absichten, schon gar keine bösen. Hingegen ein paar finstere chinesische Wissenschaftler als seine Erfinder; eine undurchschaubare Pharmalobby, die den grössten Menschenversuch der Geschichte durchführt, initiiert vom unfassbar reichen Bill Gates, der sich vordergründig als Philanthrop gibt; eine Allianz zwischen Medien, Hochfinanz und korrupter Politik und so weiter. Mit solchen Zutaten kann natürlich jeder aus dem Vollen schöpfen.

In meiner Version gibt es nicht nur keinen richtigen Gegner. Es wiederholen sich auch ständig Szenen und man hat manchmal das Gefühl, die Handlung bleibt wochenlang stehen. Das ist öde und langweilig, eine richtige Scheiss-Story. Kein Wunder, haben mein Uhrmacher und andere, die diese Geschichte verbessert haben, so einen Erfolg.

Ich bin inzwischen zur festen Überzeugung gelangt, dass die Covid-Krise auch eine Krise des Erzählens ist bzw. war. Diese Betrachtungsweise hat für mich einen entscheidenden Vorteil: Seit ich es so sehe, regen mich auch die abstrusesten Verschwörungsideologien kaum mehr auf. Ich mache es wie die Jury beim Filmfestival in Locarno: Ich bewerte die Machart der Story, den Film, die Performance. Über Inhalte zu diskutieren, macht es nur kompliziert.

Warum Populisten den Kompromiss meiden

Wenn ich die Sache weiterdenke, komme ich allerdings auf ein weit grösseres erzählerisches Problem: die Demokratie. Sie hat es schwer, sich in einer wirkungsvollen Erzählung zu präsentieren. Sie ist einfach zu kompliziert. Zu viele Protagonisten, zu viele Schauplätze, zu viele verschiedene Konflikte, von denen selten einer handfest ausgetragen wird.

Held:innen gibt es zwar manchmal auch, aber sie heben selten ab. Sie bleiben Menschen aus Fleisch und Blut. Jede und jeder kann an ihnen herumkritteln und sie auf den Boden der Wirklichkeit herunterholen. Das kann man natürlich auch als besondere Stärke sehen, aber eben: Wie erzähl ich das?

Statt Siege gibt es in der Demokratie Kompromisse. Ich finde: Ein schöner Kompromiss ist etwas vom Höchsten, zu dem die Menschheit fähig ist. Aber man kann es drehen und wenden, wie man will: Ein Kompromiss bleibt unsexy und hört sich immer ein bisschen faul an. Erzählerisch bleiben Kompromisse unbefriedigend.

Populisten wissen das, sie meiden jeden Kompromiss und verlegen sich darauf, knackigere Storys zu produzieren. Das bringt natürlich Quote und ist immer eine ernste Gefahr für redliche Demokraten. Es ist immer wieder bestürzend, wie leicht es fällt, demokratische Prozesse schlechtzureden, Protagonist:innen des demokratischen Systems zu denunzieren und Errungenschaften wie die freie Presse zu dämonisieren.

Nicht erst seit Putin sind Erzählungen die wahrscheinlich mächtigste Waffe der Politik. Vielleicht ist es nun ausgerechnet Putin, der es möglich macht, Demokratie wieder attraktiv in Szene zu setzen. Er spielt nämlich eine Rolle, die lange unbesetzt blieb: die des abgründigen, gefährlichen Gegenspielers, der alle bedroht. Er wirkt wie ein Magnet, auf den sich alle Handlungsstränge ausrichten. Plötzlich leuchtet sie wieder und ist spannend, die komplexe Erzählung der Demokratie. Das zumindest ist eine Chance.