Ikone Gottesmutter in der Kolumne von Naomi Gregoris im FRIDA Magazin

In der dritten Episode von «Staub und Häppchen» holt Naomi Gregoris «Gottesmutter Glykophilousa» (Kreta, um 1600) aus dem Archiv des St. Galler Kunstmuseums.

Kunst-Kolumne

Urmutters Safe Space

«Staub und Häppchen» ist unsere frisch kreierte Kolumne über alte Meister und neue Fragen. Welche Werte können wir von einer Jahrhunderte alten Ikone lernen, und wie passt das mit dem kommerzialisierten Muttertag zusammen? Naomi Gregoris in einer neuen Episode über ein ganz besonderes Geschenk.

Von Naomi Gregoris

St. Gallen, 04.05.2023

2 min

Ikonen gehören nicht gerade zu den angesagtesten Bildtypen, aber bald ist Muttertag, und was gibt es mütterlicheres als ein grellgoldenes Bild der Urmutter, hier in ihrer zärtlichen Ausführung, der sogenannten Glykophilousa. Ein Name wie eine böse Stiefmutter, dafür mit umso simplerem Ziel. Ikonenbilder dienen der Verehrung und sind deshalb so unmittelbar wie möglich gestaltet:

Klare Formen, direkt vermittelte Gefühle, kein Schnickschnack. Pure Emotion.

In diesem Fall zwischen Mutter und Baby, das wie ein sehr klein geratener Erwachsener aussieht, weil man sich damals nicht mit sowas profanem wie Gesichtszügen auseinandersetzte, oder vielleicht auch weil die Menschen hässlicher waren als heute, wer weiss. Sicher ist, dieses Baby liebt seine Mutter, und die Mutter liebt es zurück, und auch wir als Betrachter:innen sollten dies tun, denn das Baby ist Jesus und naja, der ganze orthodoxe Drill halt.

Als urbane, geimpfte Person ohne Glauben an die Institution Kirche stellt sich mir die Frage, was ich diesen goldenen Dekreten (hier von 1600 aus der Sammlung des Kunstmuseum St.Gallen) abgewinnen kann, und ob ich mir vielleicht was zusammenromantisiere, nur weil bald Muttertag ist.

Wenn Sie mich fragen übrigens ein grauenhafter Brauch, dumm und kurzsinnig und patriarchal.

Zurück zur zärtlichen Urmutter und was ich an diesem kommerzialisierten Tag von ihr mitnehme. Es ist nicht das Muttersein in seiner klassischen Form und alles, was damit an diesem und jedem anderen Tag an Erwartungen einhergeht (bedingungslose Liebe, Geduld, penetrante Sanftheit bis hin zur Auflösung). Sondern die Geste dieser sogenannten Mutter: Ihre Hände formen den Raum unendlicher Möglichkeiten. Die eine Hand tragend, die andere behütend, aber nicht umklammernd, sondern entspannt, anspruchslos. Der ultimative Safe Space.

Es ist dieser Raum, den ich aus diesem Bild mitnehme und weitertrage – hoffentlich – für diejenigen Menschen, denen ich Freundin, Liebende und – tatsächlich: Mutter, bin. Es ist ein Geschenk, diesen Raum wahrzunehmen und ihn für andere herstellen zu können. Ein Geschenk, das nicht nur Müttern offen steht. Wie alle Zuschreibungen ist das viel zu wenig weit gedacht.

Jede:r kann diesen Raum für andere bereitstellen und am besten auch für sich. Am besten gleich an diesem Muttertag, zwischen all den Rosen und Gutscheinen und Worthülsen: Raum für sich und die, die man liebt. Ohne Zwang, ohne Anspruch.

Das ist die Urmutter, golden, hier für alle.