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Mai 2020 in Chur: Der Künstler Gian Häne mit seinem Toyota Corolla, Baujahr 2000.

Bild: Veit Fritz

Kunst und Natur

Mit Gian Haene im Land des tosenden Schweigens

Der Künstler Gian Haene ist von seiner Heimat im bündnerischen Sertigtal ebenso inspiriert wie von Japan. Warum das so ist, hat er unserem Autor auf einem Ausflug in die Berge erzählt. Eine Reportage aus dem Jahr 2020, die in der Publikation «inside out» erschienen ist. Neu ist das Buch auch in unserer Edition erhältlich.

Von Mathias Balzer

Chur, 18.06.2024

14 min

In der Einfahrt zum lauschigen Hinterhof steht ein tannengrüner Toyota Corolla, Baujahr 2000, gefahrene Kilometer: 250‘000. Im Gepäckraum liegt ein Satz Reifen, auf der Rückbank Tüten, Taschen und Fischerutensilien. Die Frühlingssonne vertreibt die kühle Morgenluft. Es ist Anfang Mai. Trotz Corona-Lockdown haben Gian Haene und ich beschlossen in die Berge zu fahren. Zum Fischen, so die ursprüngliche Idee, aber es ist ja die Zeit, in der sich Pläne auflösen wie Wolken im Wind.

«Ich möchte Dir das Sertigtal zeigen», hatte Gian am Vorabend am Telefon gesagt. Nun sitzt er in seinem Toyota und spricht durchs offene Fenster mit Claudia Pagelli. Sie kommt im Hinterhof vorbei, um die Eierlieferung einer Bäuerin aus der Region abzuholen. Claudia und ihr Partner Claudio betreiben eine weltweit renommierte Gitarrenwerkstatt in Chur. Gian hat für sie die Oberfläche eines Instruments gestaltet, das an der Tokyo Art Fair 2019 gezeigt wurde. «Petri Heil», sagt Claudia. Wir fahren los, raus aus Chur, Richtung Landquart, noch unwissend, was wir von dieser Reise zurückbringen werden, Fische oder Gedanken, oder beides.

Airbrush unterm Zauberberg

Der Toyota rollt über die Autobahn. Gian erzählt, er habe schon immer Künstler werden wollen. Unlängst habe seine Mutter ein altes Küchenbuffet aus der Backstube in Clavadel entsorgt. Das Papier, mit welchem die Regale ausgekleidet waren – Filzstiftzeichnungen aus Gians Kinderjahren. «Ich habe immer gezeichnet und hatte schon bald ein kleines Atelier in den Raumfluchten der Höhenklinik nahe dem Elternhaus.» Sein Vater arbeitete dort als Koch.

Neben der Kunst ist Gian auch dies geblieben: leidenschaftlich Kochen und Essen. Vater und Mutter hätten sich nicht gegen seinen Berufswunsch gesperrt. Aber wie wird ein Heranwachsender in Davos Künstler?

Die Alpenstadt im Landwassertal ist traditionellerweise Nährboden für Skilehrer, Gastronomen, Hoteliers oder Tourismusmanager. Künstler haben den Ruf des Zauberbergs zwar in die Welt getragen. Die Rolle der Einheimischen besteht jedoch darin, dafür zu sorgen, dass die Kulissen in den Sanatorien und Grand-Hotels, Sportanlagen und Bergbahnen tadellos funktionieren. «Als ich als Sechzehnjähriger nach Zürich ging und all die Galerien sah, die Kunst verkaufen, staunte ich nicht schlecht:

Offensichtlich konnten Menschen gut davon leben.»

Gian entschied sich jedoch vorerst für eine Lehre als Autolackierer in Davos, ein Brotberuf – mit Nebenabsicht. «Ich wollte etwas lernen, wo ich mit Farben und Formen umgehen konnte», sagt er, während er den Toyota auf die Landstrasse Richtung Prättigau steuert. Die Spritzpistole wurde zum bevorzugten Werkzeug. 1998, als 19-Jähriger, wurde Gian Schweizermeister im Airbrush.

Der expressionistische Buddhist

Gian lenkt den Toyota mit Routine und Bedacht, den Tacho stets im Blick. Tunnelfluchten sausen vorbei. Zur Entlastung der Dörfer in den Hang gebohrt, schotten sie Reisende von der Landschaft ab. Durch diese hell erleuchteten Röhren nähern wir uns seinem Heimatland und sprechen über Inspiration. «Viele haben meine Arbeit mit derjenigen von Kirchner verglichen, und tun es noch heute.» Dabei habe seine Auseinandersetzung mit dem kokainsüchtigen Expressionisten erst später eingesetzt.

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«Lotus 2» von Gian Haene.

Andere Heroen der Kunst hätten ihn geprägt. «Bei Yves Klein hat mich die spirituelle Dimension fasziniert, sein Sprung in die Leere. Bei Jackson Pollock waren es die Körperlichkeit und die Expression.»

Leere und Körperlichkeit, zwei Begriffe, die wiederkehren, wenn über Haenes Werk geschrieben wird. «Du bist ein expressionistischer Buddhist», habe einst ein Kunstlehrer zu ihm gesagt. Ich muss an seinen vollständig tätowierten Rücken denken, der auf einer Fotografie im Buch «Wei Wu Wei» zu sehen ist. Und an die Künstler, die er im selben Buch als Inspirationsquelle nennt: Chris Burden, Günther Brus, Bruce Naumann – allesamt Schmerzensmänner der Kunst.

In diesem Moment beginnt Gian davon zu sprechen, dass ihn während eines Atelieraufenthalts in Sydney vor allem sein Rücken interessiert habe. Der Rücken als Körperteil, der uns zwar trägt, den wir aber nie zu Gesicht bekommen. Eine Art seltsames Organ. «Das hat mich beschäftigt, der Versuch, mit dem Rücken zu sehen.» Was mich wiederum an Joseph Beuys’ Worte erinnert: «Ich denke mit dem Knie.»


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Die Strassen in Davos sind leer. Kaum ein Mensch zu sehen, die Geschäfte geschlossen. Die Landschaft rundherum erholt sich von der Anmassung, ein Sportgerät zu sein. Im Mai ist Lockdown hier oben der Normalzustand. Es ist Zwischensaison, jener temporäre Stillstand, der solche Orte zu surrealen Geisterdörfern macht. «Wenn Du hier aufwächst, kennst Du diese Leere ganz genau», sagt Gian. «Und weisst, dass es wenig gibt, um sie auszufüllen.»

Als Jugendlicher war Gian Hoffnungsträger im Snowboard Team Davos. Er ist Langlaufrennen gelaufen. Skifahren hat er gelernt wie andere anderswo das Gehen. Seine Bindung zum Ort der Kindheit und Jugend ist immer noch stark. Seine besten Freunde sind hier geblieben. Aber ihn hat es damals weggezogen. Mit dem Diplom als Autolackierer im Sack schrieb er sich für den Vorkurs an der Kunstgewerbeschule Zürich ein. Von dort ging er weiter an die Textilfachklasse nach Luzern. Da fanden die Lehrer aber bald, dass einer, der mit Webstühlen so seltsame Dinge anstellt, in die Kunstabteilung gehört.

Teetrinken am Wasserfall

Wir fahren weiter Richtung Sertigtal, Richtung Kindheit, vorbei an Clavadel, dem Elternhaus, weiter, die schmale Strasse hoch, vorbei an Wäldern und Wiesen bis zu jenem Weiler, wo das kleine Schulhaus steht. Damals, in den Achtzigern, seien hier vier Jahrgänge miteinander unterrichtet worden. Der Schulweg: ein langes, tägliches  Abenteuer.

Weiter oben, knapp unter der Baumgrenze, weitet sich das Tal. Wir halten beim Hotel «Walserhuus Sertig», wo die Strasse endet, und machen uns zu Fuss auf den Weg. Die Bergkette Mittagshorn-Plattenflue-Hochducan zeichnet eine gezackte Horizontlinie. Gian hat diese Landschaft in vielen Bildern festgehalten. Rechts davon der Elefantenkopf, eigentlich ein namenloser Ausläufer des Älplihorns. «Ich nenn ihn Elefantenkopf, weil meine Nana in schon so genannt hat.»

Gian kennt hier jeden Stein, zeigt beim Gehen auf die noch blütenlosen Büsche der Alpenrosen, die Krokusse, Anemonen, Kaminfegerlein. «Schau, wie diese Felsbrocken dort verteilt sind. Fantastisch! Sie liegen immer noch genau so da wie damals, als ich als Kind darauf rumgeklettert bin.»

Nach zehn Minuten Fussweg teilt sich das Tal. Links geht es Richtung Sertigpass ins Unterengadin. Rechts türmt sich eine schroffe dunkle Felswand auf. Schon von weitem ist der Wasserfall zu sehen. Alte Lärchen stehen majestätisch, grau und nadellos auf der Bergwiese, wie von Alois Carigiet gemalt, da und dort berührt von einer Schneezunge. Wir folgen einem Bach, der milchiges Schmelzwasser führt. Gian zeigt auf eine Stelle. «Da, unter den Steinen sind die Forellen. Hier ist Fischen leicht.» Aber er hat seine Rute im Auto gelassen. Wir fischen hier offenbar nicht nach Fischen.

«Sertig«, Holzschnitt © Gian Haene im FRIDA Magazin

«Sertig«, Holzschnitt © Gian Haene

Das Tosen des Wasserfalles wird lauter. Wir sehen, wie sich eine weiss schäumende Masse den Weg durch schroffe Felsen, über glatt gespülte Steine bahnt und durch Steinbecken sprudelt. Das Auge verliert sich in unzähligen Faltungen der Felsen, gleitet über schroffe Böschungen. Wurzelwerke ragen in die in die Luft wie Erdgeister. Zahllose rund geschliffenen Steine säumen das Bachbett.

Dürre Baumskelette liegen am Fuss der Felswand, Gischtwolken steigen die Felsen hoch gegen den Himmel, wo Wolkentürmchen und Schäfchenwolken vor tiefem Blau dahinziehen. Weit unten im Tal zeichnet die Sonne helle Streifen in die Frühlingswiesen. Wolkenschatten gleiten wie Boote über das Gras, das sich im Wind wiegt.

Am Fuss der Felswand ist es kühl und schattig. Näher ran gehen wir nicht. Entlang des Wassers hochgeklettert sei er noch nie. «Hier stürzen jedes Jahr Leute runter.» Wir setzen uns, trinken Tee, essen Bisquits, hören schweigend dieses Tosen. Dann sagt Gian: «Manchmal sehe ich in der Natur Strukturen und Dinge, das glaubt mir gar niemand, dass es die gibt.» An diesem zerklüfteten, von Wasser durchfluteten, wilden, unwirklichen Ort ist augenscheinlich, was er meint. Ohr und Bewusstsein sind ein einziges Rauschen. «Eine Art Seelen-Wellness», sage ich. Gian lacht.

Wir beginnen ein Gespräch darüber, wie es ist, Wasser zu zeichnen. Gians Antwort ist knapp und klar: «Es ist unmöglich. Du hast schon von Beginn weg verloren. Du kannst zwar tricksen, aber das sieht man dann auch.

Letztendlich geht es aber gar nicht darum, die Natur zu kopieren, sondern sie in etwas zu verwandeln.»

Uns verwandelt das Tosen dieses Ortes in Schweigende. Nach einer Weile treten wir leichtfüssig den Rückweg an. Ein Pärchen Mountainbiker in grellen Sporttenüs kreuzt unseren Weg. Zwei Gemeindearbeiter wechseln eine alte Bank durch eine neue aus. Wir fragen, ob wir warten sollen, bis sie fertig sind. Die braun gegerbten Männergesichter Lachen, die Bergleraugen leuchten – und unsere, wenn es mir recht ist, auch.

Wieder im Toyota geht es talwärts. Gian zeigt auf ein Walserhaus, das an einer Kurve steht. «Hier hat ein Schafbauer gelebt. Als der Sitz seines VW Käfers kaputt ging, hat er ihn durch einen Getränkeharrass ersetzt.» Wilde Gegend, knorrige Menschen.

Der Wasserfall im Sertigtal, Gian Haene im Frida Magazin

Der Wasserfall im Sertigtal

Clavadel

Wir machen Halt bei seiner Mutter, eine Frau, die Weltoffenheit ausstrahlt. Das Haus im Weiler Clavadel ist schmuck, die Blumen im Garten duften. Gians Schwester wohnt im Nebenhaus. Die Mutter herzt den Sohn, serviert selbst gebackene Torte mit Kaffee und erzählt in schönstem Walserdeutsch von anstrengenden Nachbarn, der Höhenklinik, die das Hotel mit geschichtsträchtiger Architektur baulich zugrunde richtet und das alte Haus Amhof gleich gegenüber abbrechen will. Aber sie könne sich auch nicht gegen alles wehren.

Im Haus hängen einige Bilder von Carigiet und viele von Gian. Er zeigt mir sein Kinderzimmer, wo heute ein Doppelbett steht, für ihn und Susanna, wenn sie zu Besuch sind. Susanna, seine Partnerin, die als Kind aus den Berner Alpen nach Davos kam. Gian hat sie als junge Lehrerin kennengelernt, als er noch Schüler war. Erst Jahre später haben sich ihre Wege wieder gekreuzt.

Mutter Haene zeigt uns noch ihre Backstube. Knapp neun Quadratmeter. Hier hat sie bis vor kurzem sechs Tonnen Birnenbrot pro Jahr gebacken. Eine Delikatesse. Das Rezept will sie nicht verraten. Dafür gibt sie ein Glas frisch gemachten Löwenzahnhonig mit auf den Weg.

Japan

Wieder in Davos verzichten wir darauf, an einem kleinen See Halt zu machen. Fischen ist jetzt nicht. Gian erzählt von Japan. Seit sein Freund vor 15 Jahren auf die Insel gezogen ist und Familie gegründet hat, reist Gian regelmässig hin. Das prägt. Nicht nur seine Kunst, die klar Anlehnungen an den japanischen Holzdruck zeigt. «Es ist die ganze Kultur, die mich fasziniert, das Theater, die Geisterwelt, die Häuser der Samurai, das Essen, die Kunst der Verpackung, die in sich ruhende Lebensart.»

Wir sausen durch Klosters und Tunnel für Tunnel wieder raus aus dem Prättigau. Die letzte Japanreise habe ihn auf die Nordinsel geführt. Wenige Menschen, viel Natur. Aber auch in Tokyo fühle er sich wohl. «Ich kann mit der Kunstszene dort mehr anfangen als mit derjenigen in Berlin.» In Japan sei immer noch Handwerk, weniger das Konzept gefragt.

Mittlerweile nähern wir uns Landquart. Wir kommen auf die ART Basel zu sprechen, die dieses Jahr wegen Covid 19 ausfällt. «Ich werde sie kaum vermissen. Wenn ein Künstler eine Banane an die Wand klebt, sie teuer verkauft und dann isst, stösst die Kunst an Grenzen. Ich frage mich, was das den Menschen auf unserem Planeten wirklich bringen soll, beispielsweise jenen, die in Syrien ausharren.»

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«Viorel Nr.1» von Gian Haene

Gian ist klar, dass er mit seiner handwerklichen Kunst auch auf Skepsis in der Kunstwelt stösst. Momentan beschäftigt ihn, selbst schon zur Marke geworden zu sein. «Mich interessiert zurzeit das Zeichnen wieder viel mehr als der Holzschnitt. Da staunen Publikum und Galeristen schon, wenn ich mit etwas ganz anderem komme.» Kurz vor der Einfahrt nach Chur umreisst Gian seinen Berufsalltag: «Von sieben Tagen vier am Computer und nur drei im Atelier. Ich bin mein eigener Manager, Assistent, Buchhalter und Veranstalter. Da darfst Du den Humor nicht verlieren.»

Beim Abschied in der Stadt leuchtet die Abendsonne. «Fischen ist ein ander Mal!», sagt Gian. «Ich hab sowieso eine Fischallergie», sag ich. Gian lacht und winkt.

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«inside out»

Das 2020 erschienene Buch «inside out» ist dem Schaffen des Bündner Künstlers Gian Haene gewidmet. Reich bebildert und mit Textbeiträgen von Judith Annaheim, Mathias Balzer, Thomas Kaiser, Nicole Seeberger und Philipp Wilhelm.

Im Vorwort stellen die Herausgeber die Frage, warum der Titel des Buches «inside out» laute. Ihre Antwort: Weil es hier um einen stillen Künstler geht, um den Menschen, der nicht viel Aufhebens um seine Person macht. In diesem Buch sollen die Gedanken, die künstlerische Inspiration und die existenziellen Fragen von Gian Haene nach aussen gekehrt werden.

Erschienen ist das Buch bei edescha/art. Dieser auf Kunstbücher spezialisierte Verlag wurde vom Grafiker und Publizisten Ramun Spescha betrieben, seines Zeichens auch Grafiker der Bücher von Edition Frida. Ramun ist 2022 verstorben. Eine Auswahl seiner Bücher ist bei der Edition Frida erhältlich.