Die Architektin Tilla Theus wird mit dem Bündner Kulturpreis geehrt.

Die Architektin Tilla Theus wird mit dem Bündner Kulturpreis geehrt.

Bild: Gaetan Bally/Keystone

Tilla Theus im Porträt

Die Pionierin mit den pinken Schuhen

Der Kanton Graubünden verleiht 2023 den Kulturpreis an die Architektin Tilla Theus. In seiner Rede zu Verleihung zeichnet Köbi Gantenbein das Porträt einer bemerkenswerten Frauenkarriere. Geprägt von der Lust am schönen Handwerk, und von der Lust zum Widerstand gegen die Puritaner der Architekturszene.

Von Köbi Gantenbein

Fläsch, 29.06.2023

15 min

Che fast qua tü randulin?
Oura som sün quel manzin

Eu sun gnü per t’avisar
tü nu’t desast maridar

Das ist das Lied der Lieder aus dem Unterengadin. Die Schwalbe verlässt das Dorf und das Tal. Randulina fliegt in die Fremde. Sie kommt heim und fliegt wieder fort. Sie wird schön und erfolgreich im Unterland – und fliegt hin und her. Sie bleibt verbunden mit den Ihren und verkündet der Nachtschönen, dass sie heiraten werde und alles komme gut.

Genau so geht es Tilla Theus. Sie fliegt hin und her, kommt nicht fort und ist weg und schon wieder da: mit einem Entwurf, mit ihrem Heimweh und mit ihrer Sprache – in Chur, in ihrem Haus auf Valbella, das sie 1974 gebaut hat. Sie ist dann bei ihren Freundinnen und Freunden, bei und mit ihrer Familie und immer wieder im Kunstmuseum, dessen Werke zur Bündner Kunst ihr so viel Freude machen, seit sie als junge Frau ihr erstes Kunstbuch über Alberto Giacometti gekauft hat.

Nicht die Kleine vom Grossen bleiben

Ich habe sie einst gefragt: «Warum, Tilla, bist auch Du fortgeflogen wie so viele von uns?» «Ganz einfach, ich war die Kleine vom grossen Papa, Bauernsekretär, Regierungsrat, Ständerat und Kraftwerkspräsident. Alle haben ihn gekannt und ich hatte ihn sehr gern», sagte sie. «Aber die Kleine vom Grossen bleiben – nein, nein, nein. Ich war eine Rebellin und er sagte zu mir: ‹Mädchen, Architektin nicht, studier einen anständigen Beruf, etwas Kaufmännisches – und dann kannst du heiraten.›»

Der Vater also, Arno Theus, hat Tilla ins Unterland getrieben, und sie flog hin und her und her und hin. Aber auch die Bündner Bedingungen machten es ihr nicht leicht. Nach dem Diplom an der ETH arbeitete sie am Wettbewerb für die Badeanstalt von Domat Ems. Ihr Beitrag wurde nicht juriert, denn sie hatte inzwischen geheiratet und war fortan wegen ihres Mannes und dessen Bürgerort keine Bündnerin mehr und also von Wettbewerben ausgeschlossen. So war das Eherecht. Mit solchem Standesrecht haben die Bündner Architekten ihre Jagdgründe befestigt.

Tilla Theus: Gemeindehaus Unterengstringen, 2013-2018, Neubau

Tilla Theus: Gemeindehaus Unterengstringen, 2013-2018, Neubau

Bild: zvg Atelier Tilla Theus & Partner, Zürich»

Tag für Tag wirbelt Tilla Theus, achtzig Jahre alt nun, durch ihr Atelier an der Bionstrasse in Zürich. Ihr Büro ist vollgestellt mit Dingen – Bauteile, Stoffe, Farbmuster. Sie packt den Bauhelm, schletzt sich in ihr rassiges kleines Auto und braust auf ihre Baustellen, so zurzeit nach Siebnen-Wangen, wo sie einen malträtierten Ortsteil in Ordnung bringen will. Oder nach Kloten, wo ein Hochhaus werden will. Und sie wartet darauf, bis das Gericht einen Nachbarschaftseinspruch entschieden haben wird, der ein grosses Vorhaben an der Poststrasse in Zürich blockiert.

Freilich kommt in 54 Jahren Arbeit ein breites Werk zusammen, zumal wenn eine Frau alles auf eine Karte setzt: Altersheim und Kindergarten, Büro- und Gewerbebau, Hotel, Restaurant, Gemeindehaus und Turnhalle, Warenhaus, Palast für eine Firma, Wohnhaus klein fürs prächtige Portemonnaie und Haus breit und lang mit vielen Wohnungen für das günstige Wohnen.

Kaum eine Bauaufgabe, die nicht über Tilla Theus’ Tisch gegangen ist und geht. Einige in Graubünden – in Arosa, St. Moritz, Valbella, Chur – viele im Unterland in und um Zürich vor allem.

Neben dem Bauen viele Jahre lang Heimatschutz- und Denkmalpolitik, Stadtbildkommissionen, Wettbewerbjuries, Expertisen für Gerichte und lange Jahre engagiert in der Zukunftsforschung.

Eine Schule gründen für das Schöne schlechthin, vom Körper über die Stadt bis zur Welt – das wäre noch was für die nächsten Jahre. Und eine Kläranlage, einen Flughafen und ein Spital könnte sie sich auch noch vornehmen.

Tilla Theus: Gipfelrestaurant Weisshorn, Arosa, 2006-2012, Neubau

Tilla Theus: Gipfelrestaurant Weisshorn, Arosa, 2006-2012, Neubau

Bild: zvg Atelier Tilla Theus & Partner, Zürich»

Die Architekturgeschichte der Schweiz hat es gut. So sorgfältig wie Tilla Theus ihre Bauten versammelt: Pläne, Fotografien und Texte eines opulenten und immer noch werdenden Werks, und je bekannter sie geworden ist, umso selbstbewusster die Bücher zum Werk – sorgfältige Monografien in unterschiedlichen Formaten.

Ihre Bücher, auch ihre Website, sind charmante und kluge Selbstbefragungen – was habe ich gelernt, wo stehe ich, wo bin ich gut, wohin will ich – mit mir, mit den Mitarbeiterinnen im Büro, mit meinen Bauherren?

Aber auch «Tue Gutes und sprich darüber», denn es gilt: Wie kann ich mich und mein Atelier ernähren in den für anspruchsvolle Baukunst wirtschaftlich immer schwierigen Zeiten?

Tilla Theus hat als Unternehmerin der Architektur leibhaftig erfahren, wie prekär dieses Geschäft plötzlich werden kann, wenn die Kassa des Bauherrn lahmt, wenn die Bewilligungsbehörde bockt, oder wenn die werten Herren Kollegen in den schwarzen Rollkragenpullovern hauen und stechen, weil sie als quirlige Frau mit pinken Schuhen, formvollendet geschnittener Bluse und kräftigem Churer Dialekt mit einem starken Entwurf auftaucht.

Es ächzt, lahmt und klemmt – im Atelier aber sitzen 25 Leute, die jeden Monat auf den Zahltag warten. Und so preisen wir diese Architektin nicht nur als Baukünstlerin, sondern auch als erfolgreiche, pfiffige, hartnäckige und fantasievolle Unternehmerin in Kunst, Kultur und Baugewerbe.

Die umstrittene Meisterin des raffinierten Musters

Tilla Theus kam 1943 zur Welt. Früh entdeckte sie die Faszination für Stoffe, für Textilien – schneidern, basteln, nähen. Sie will Modedesignerin werden. Bald vom weichen Stoff zum harten Metall. Sie gestaltet den Schmuck selber, den sie als Konfirmandin trägt; sie macht ein Praktikum beim Goldschmied.

Sechzig Jahre nach ihrer Konfirmation wird sie in der grossen Ausstellung über zeitgenössischen Schmuck im Landesmuseum in Zürich ihr «secret doux» verraten – sie zeigt ihre wundersame Kollektion. Kein Fingerring, kein Collier, kein Reif ist käuflich; alles entwirft sie für sich, giesst, drückt, schweisst, fräst es zusammen mit denen, die die Kunst des Millimeters am Zieheisen, an der Trockentrommel und an der Drehbank können.

Tilla Theus: Restaurant mit Gästezimmer, Mammertsberg, 2010-2012, Umbau.

Tilla Theus: Restaurant mit Gästezimmer, Mammertsberg, 2010-2012, Umbau.

Bild: zvg Atelier Tilla Theus & Partner, Zürich»

Der Stoff und die Freude der Goldschmiedin werden ihren Weg begleiten, und je älter sie wird, je prägnanter werden ihre Bauten, desto kräftiger schöpft sie aus dem Vollen. Sie ziseliert nicht nur Oberflächen, opulent sind nicht nur ihre Auftritte, sondern auch ihre Ideen. Sie kriegt gehörig aufs Dach von den Herolden ihres Berufs aus ihrer Generation: Keine Dekoration, kein Zierrat! Die strenge Schweizer Kiste ist das Mass der Dinge! Und am Wegrand lauert der Glanz und verführt die Charakterlosen.

Unter Kitschverdacht

Und je vorwurfsvoller die Grosswesire murren, desto froher tanzen Tilla Theus› Muster, raffiniert geschnitten vom Laser, über die Fassaden ihrer Häuser, und starke Farben und freche Formen stiften Atmosphären in den Räumen.

Und sie setzt sich auch auf politischem Parkett durch – legendär ist der Widerstand der strengen Bibelforscher in der Architektur gegen den markanten, plastisch starken Entwurf von Tilla Theus für die Polizeiwache an der Rathausbrücke von Zürich. Kitsch, Schmarren, Verrat!

Es kommt zum Referendum, Tilla Theus ist grad dran an einem Altersheim und merkt: Die Alten mögen mich. Sie tingelt von Saal zu Saal und sagt: «Ihr müsst mir helfen. Ihr müsst ‹Ja› stimmen. Und Eure Kinder, Enkelinnen und Urenkel auch.»

So setzt sie sich gegen den Bund Schweizer Architekten und andere Aufrechte durch, und sie schreibt ihren vereinten Alten 15 kg Postkarten: «Wir haben gewonnen.» Ihr Bau gehört als Perle längst zum Stadtbild von Zürich. Und wir mit Tilla alt Gewordenen staunen – was war das doch für ein Spektakel vor 40 Jahren.

Tilla Theus: Rathauswache der Kantonspolizei, Zürich, 1985-1993, Neubau.

Tilla Theus: Rathauswache der Kantonspolizei, Zürich, 1985-1993, Neubau.

Bild: zvg Atelier Tilla Theus & Partner, Zürich.

Am 9. Januar 1969 erhält Tilla Theus ihr Diplom als Architektin an der ETH, am 10. Januar überschreibt sie auf dem Zettel vor ihrem Zimmer beim Zürcher Bellevue die Bezeichnung «cand. Arch» mit «dipl. Arch. ETH» und eröffnet ihr Büro. Bald schon hat sie den Wettbewerb für die Erweiterung und die Renovation des Altersheims von Mollis gewonnen.

Unter der Knute des Eherechts

Da sie, mittlerweile verheiratet, wegen des Eherechtes nicht nur von Graubündens Wettbewerben ausgeschlossen ist, sondern auch schweizweit keine Verträge unterschreiben und Rechnungen visieren kann, ohne ihres Mannes Zustimmung, braucht es zwei, drei Krämpfe und allerhand energisches Stampfen mit dem zierlichen Fuss, damit sie nicht nur als Zeichnerin des Entwurfs, sondern auch als Macherin auf der Baustelle wirken kann. Nachdem sie das Eherecht ausgeweitet hat, entsteht am Rand eines barocken Gartens in Mollis im Kanton Glarus ihr erster von 25 Bauten für die Öffentlichkeit.

Tilla Theus: Altersheim Hof mit Alterswohnungen in Mollis, 1970-1973, Neu- und Umbau.

Tilla Theus: Altersheim Hof mit Alterswohnungen in Mollis, 1970-1973, Neu- und Umbau.

Bild: zvg Atelier Tilla Theus & Partner, Zürich

Ende der Sechzigerjahre: Tilla Theus beginnt ihren Beruf in der hohen Zeit der Abrissbirne und des Presslufthammers. Fort, Ex und Hopp mit dem alten Plunder, herbei mit Sonne, Freiheit und Fortschritt, autogerecht und pflegeleicht. Und die Wiese ist so schrecklich grün, lasst uns sie schleunig zubauen und zersiedeln.

Die Pionierin der Raumplanung

Ihr Altersheim von Mollis birgt das Programm ihres werdenden Werks: Leben und arbeiten mit dem, was da ist. Anfügen, umstellen, daraufstellen, herausbrechen, um einzubauen, untergraben, anhängen. In ihrem Werkkatalog zähle ich 15 Neubauten – darunter auch ein himmelhochstrebendes Hochhaus, ein Restaurant, das den Gipfel des Weisshorns von Arosa einpackt oder ein Riesenteil mit preiswerten Wohnungen in Zürich.

Und ich zähle in ihrem Katalog 55 Umbauten, ein Teil Renovationen, ein Teil fügt zum Bestand das Neue – anders herum: Nebst dem Bündner Kulturpreis gehört Tilla Theus auch der Schweizer Landschafts- und Raumplanungspreis.

Kein Quadratmeter mehr neu überbauen, könnte die Devise lauten. Denn während die Schweiz noch ächzt, dass es fertig lustig ist mit dem Zersiedeln des Landes, hat Tilla Theus gezeigt, wie es geht: Sich einrichten, in dem, was da ist, brauchen, was schon gebraucht ist, erneuern und in ihrem Fall freilich veredeln, auch vergolden, denn sie hat sich schliesslich als Mädchen schon vom kostbaren Glanz der Goldschmiedekunst verzaubern lassen.

Tilla Theus: Plan Hotel Widder, Züri

Tilla Theus: Plan Hotel Widder, Zürich.

Bild: zvg Atelier Tilla Theus & Partner, Zürich

Eine Reihe acht alter Häuser am Rennweg in der Zürcher Altstadt. Heruntergekommen, mittlerweile schwierig zu bewohnen. Aus ihnen wird unter der Ägide von Robert Holzach, dem General der UBS, das Hotel Widder. Ein Fünfsternehotel. Ein Immobilienmuster in den Kernen reicher Städte in den reichen Ländern der Welt. Nach der von niemandem verhinderten Verlotterung ist alles schliesslich so verlottert, dass starke Medizin mit dickem Geldsäckel die Stadt gestaltet. Meistens wird alles hinweg gerissen oder ausgehöhlt bis auf den letzten Nagel, in Zürichs Altstadt ist umgebaut worden, was da war.

Tilla Theus: Die Bar des Hotel Widder in Zürich. 1985-1995. Neugestaltung im Umbau und Restaurierung.

Tilla Theus: Die Bar des Hotel Widder in Zürich. 1985-1995. Neugestaltung im Umbau und Restaurierung.

Bild: zvg Atelier Tilla Theus & Partner, Zürich

Ich fragte Benedikt Loderer, meinen Freund und langjährigen Gefährten bei «Hochparterre», nach der Essenz von Tillas Werk. Beno hat als der einflussreichste Architekturkritiker der Schweiz zu ihr gehalten, als die wackeren Helden der Architektenschaft ihrer Generation sie verspottet haben, weil sie Dekoration mache statt Architektur, weil sie aus dem Viereck einen Kreis drehe und alt und neu durcheinanderwirble zu etwas Neuem, alt vertraut und nicht gesehen.

Beno sagt: «Tilla ist eine Katholikin unter all den Protestanten. Keine schafft mit derartigem Können und solcher Lust, was es seit dem Barock kaum mehr gibt: opulente Räume in höchster Präzision. Robert Holzach, der Fürst der UBS, hatte das Gepräge des barocken Fürstbischofs, der Widder war sein Hof und Tilla seine Hofbaumeisterin.»

Die Essenz des Werks in einem Vorhang

In den Zimmern des Hotels wird den Gästen Tilla Theus› Meisterinnenschaft im Kleinen vorgeführt: im Vorhang sehen sie ihr Denken umgesetzt, quasi die Essenz ihres Werks: Das Aussen im Innen im Aussen. Und Brauchen zum Weiterbrauchen. Denn:

In einem Fünfsternhotel werden alle fünf Jahre die Zimmereinrichtungen herausgerissen und neue eingebaut. Kostet je Zimmer 400’000 Franken. Im «Widder» aber ist alles, wie es 1995 war – auf Glanz gehalten, mit aufwendiger Pflege freilich. Die Vorhänge hat Tilla Theus damals so konstruieren lassen, dass das Futter so edel war wie die Aussenseite.

Sie werden nicht abgehängt und verbrannt, sondern abgehängt und umgearbeitet. Was aussen leicht abgeschossen wirkt, kommt nach Innen, und was Futter war, wird für die nächsten Jahre Schauseite. Den Vorhangstoff mit Zeigefinger und Daumen prüfend, erhalten wir eine Lektion in Schönheit des Alterns, eine in Demut vor dem Handwerk und eine in Klimavernunft.

Kostbares Material, gutes Handwerk, aufwendige Pflege hat mit Luxus zu tun, denn das Handwerk als Alternative zu Materialorgien ist zu einem Luxusvermögen geworden. Es ist aber ein Luxus, den wir uns auch weit ausserhalb der Fünfstern-Welten vermehrt werden leisten müssen. Denn das Ex und Hopp des Wegwerfens geht nicht mehr. Das gilt für Häuser, das gilt für Zimmer, das gilt für Vorhänge.


Köbi Gantenbein ist über viele Jahre Chefredaktor und Verleger der Architekturzeitschrift Hochparterre gewesen. Er kennt Tilla Theus’ Leben und Werk seit ebenso vielen Jahren. Er ist Präsident der Kulturkommission des Kantons Graubünden.